Sonntag, 11. Oktober 2009
Von schwachen und von falschen Argumenten
Kolosser 1,15-18 ist ein Bibeltext, über den Trinitarier und Zeugen Jehovas sich uneinig sind. Der Vers 15 lautet:
er ist ja das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller (= der ganzen) Schöpfung; [Menge-Bibel]
Umstritten ist u.a. die Bedeutung des Ausdrucks "der Erstgeborene aller Schöpfung". In dem Kommentar der MacArthur-Studienbibe lzu Kolosser 1,15 fand ich hierzu folgenden Satz:
Wenn der "Erstgeborene" zu einer Gruppe gehört, steht diese Gruppe im Plural (vgl. V. 18; Röm 8,29), doch die Bezugsgruppe hier ist die "Schöpfung" - und die steht im Singular
Dies wird als Argument dafür angegeben, dass "Erstgeborener eindeutig nicht geschaffen" bedeutet. Damit ist dieser Satz ein Beispiel dafür, dass eine anscheinend korrekte Aussage vollkommen irreführend sein kann.

Wenn wir die Korrektheit dieses Satzes prüfen, stellen wir zuerst fest, dass es im ganzen "neuen Testament" insgesamt acht Vorkommen dieses Wortes gibt. Fünfmal taucht das Wort mit einer Gruppe auf, die mit einem Ausdruck im Plural genannt wird und einmal ganz ohne Bezugswort.

Es bleiben Kolosser 1,15 und Lukas 2,7 übrig, in denen ein Bezugswort im Singular angegeben wird. In Lukas 2,7 allerdings bezeichnet dieses Wort die Mutter des Erstgeborenen. Wenn man also danach ginge, würde entsprechend in Kolosser 1,15 "jede Schöpfung" die Elten des Christus bezeichnen - eine Idee die einigermaßen seltsam ist; bisher hat das meines Wissens niemand vorgeschlagen. Damit klingt die Aussage "wenn der erstgeborene zur Gruppe gehört, dann Gruppe im Plural" erst einmal formal korrekt, allerdings nur soweit sie das "neue Testament" betrifft.

das schwache Argument

Wenn aber "jede Schöpfung" nicht die Eltern angibt (oder allgemein gesagt: die Vorfahren) und nicht die Gruppe zu der der Erstgeborene gehört, dann haben wir hier eine einmalige Verwendung von "Erstgeborener". Und damit ist das Argument erst einmal schwach. Denn wenn ich nichts zum Vergleichen habe, dann kann ich natürlich keine sichere Aussage machen, was denn "erstgeborener jeder Schöpfung" denn nun bedeutet. Und solange ich nicht weiß, was dieser Ausdruck bedeutet, kann ich keine mögliche Bedeutung mit letzter Sicherheit ausschließen.

Eine sinnvolle Regel für korrekte Argumente lautet: "die Abwesenheit von Beweisen ist kein Beweis für die Abwesenheit", d.h. wenn ich keine Hinweise für eine Behauptung habe, dann heißt das nicht automatisch, dass ich nachgewiesen habe, dass die Behauptung falsch ist. Genau das ist das Problem im Kommentar der MacArthur-Studienbibel. Es wird korrekt daraf hingewiesen, dass es (im NT) keine Hinweise darauf gibt, dass ein Bezugswort im Singular eine Gruppe bezeichnet, zu der der Erstgeborenen gehört. Aber das muss nicht bedeuten, dass die Idee als solche falsch ist, da es im NT keine Beispiele, weder dafür noch dagegen, gibt.

Damit ist auch klar, dass eigentlich die Logik erfordert, die Aussage anderherum zu formulieren: "Wenn das Bezugswort im Plural steht, dann gehört der erstgeborene zu der bezeichneten Gruppe". Der Unterschied scheint nur gering, ist aber tiefgreifend. Denn jetzt macht der Satz keinerlei Aussage mehr über Bezugsworte im Singular, während er vorher etwas hierüber behauptete, wofür es keine Beispiele gibt. Damit wird die Aussage genauer, aber auch sofort als Argument fast unbrauchbar, denn es wird nicht mehr das begründet, was bewiesen werden soll (der Erstgeborene gehört nicht zur Schöpfung) sondern es wird nur noch gesagt, dass wir keine Beispiele haben, die uns weiterhelfen, die Bedeutung dieses Ausdruckes zu bestimmen.

das falsche Argument

Wenn wir allerings unsere Suche nach Beispiele über das NT hinaus ausdehnen, dann wird schnell klar, dass das Argument nicht nur schwach sondern auch falsch ist. Eine sinnvolle Stelle, um die Suche zu beginnen, ist die Septuaginta. Dieses Werk, eine griechische Übersetzung des "alten Testaments" wurde offensichtlich von den Schreibern des NT benutzt und im NT auch häufiger zitiert. Die Sprache ist sehr ähnlich zum NT. Und hier finden wir folgenden Satz (in Psalm 135,8):
Er war’s, der Ägyptens Erstgeburten schlug
unter Menschen wie beim Vieh;
Das hier verwendete Wort "erstgeburten"ist in der Septuaginta das gleiche wie "Erstgeborener" in Kolosser 1,15. Und das Bezugswort "Ägypten" ist eindeutig Singular. "Ägypten" kann auch nicht den Vorfahren bezeichnen, da ansonsten "beim Vieh" wohl kaum passen würde. Somit bezeichnet "Ägypten" hier die Bezugsgruppe. Alle erstgeborenen waren alle ägyptisch.

Damit haben wir ein Gegenbeispiel, dass das Argument in der MacArthur-Studienbibel endgültig als falsch erweist. Auch Bezugsworte im Singular können eine Gruppe bezeichnen, zu der der Erstgeborene gehört, wenn auch seltener als Bezugsworte im Plural.

Die Moral von der Geschichte: Wenn die MacArthur-Studienbibel etwas behauptet, dann sollte man unbedingt nachsehen, ob es wirklich so ist. Insbesondere, wenn es um theologisch bedeutsame Fragen (für die Verfasser) geht, tauchen Ungenauigkeiten wie die hier beschriebene auf.

Es geht mir dabei nicht um die Tatsache, dass dieser Kommentar eine Meinung vertritt, die ich ablehne. Kein Bibelkommentar kann unabhängig von der Meinung des Verfassers sein. Aber hier scheint die Meinung die Genauigkeit der Ausagen so weit zu verzerren, dass man den einzelnen Aussagen (und damit dem gesamten Kommentar) nicht mehr ungeprüft glauben kann. Eigentlich schade, denn von der Grundidee her wäre die MacArthur-Studienbibel nicht schlecht.

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