Samstag, 22. Mai 2010
Ein Strich ändert den Sinn - 1.Timotheus 3,16
Im Augenblick habe ich zwar keine Zeit, aber hierfür habe ich mir dann doch ein paar Minuten genommen: Ein Kritiker der Neuen-Welt-Übersetzung (NWÜ) schreibt folgendes über 1.Timotheus 3,16:
""Und kündlich groß ist das gottselige Geheimnis: Gott ist geoffenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.""

Die meisten neueren Übersetzungen lassen "Gott" aus und sagen: "Er (= Christus) ist geoffenbart worden im Fleisch ..." So auch die NWÜ. Die neutestamentliche Lehre, daß Jesus niemand anders war als Gott im Fleisch, lehrt bereits Johannes (JOHANNES 1:1-3,14). Ich denke, daß Paulus hier das gleiche sagt, wie eine Anzahl Handschriften und deshalb die älteren Übersetzungen (King James, Luther, Elberfelder) bezeugen. Die Syntax erfordert fast zwingend ein Subjekt wie ho theos. Den Satz einfach mit einem Relativpronomen hos, "welcher", zu beginnen, ohne daß von Christus im gegebenen Zusammenhang gesprochen worden ist, ist syntaktisch fast unmöglich.
Die Frage also lautet: gehört hier in den Bibeltext das Wort "Gott", oder das Wort "er"? Ich will kurz die angeführten Argumente besprechen:

Die Idee, dass Johannes lehrte, Jesus sei "Gott im Fleisch", ist die Interpretation unseres Kritikers. Solange aber das Argument zu unserem Text darauf beruht, dass man erst einmal ein (schwaches) Argument zu einer anderen Bibelstelle übernehmen muss, dann fängt man an, eine unsichere Begründung mit einer anderen unsicheren Begründung zu stützen: Man baut ein argumentatives Kartenhaus. Solange aber die korrekte Übersetzung von 1.Timotheus 3,16 davon abhängt, was woanders in der Bibel ausgesagt wird, kann auch dieser Text nicht als Beweis für die Dreieinigkeit verwenden.

Erfordert die Syntax ein Subjekt wie "ho theos"? Unser Kritiker selbst schreibt: "fast zwingend", ein Anzeichen dafür, dass er sich bewusst ist, dass es doch nicht GANZ zwingend ist. Es stimmt zwar, dass "hos" ein Relativpronomen ist (="welcher"), mit dem man im deutschen keinen Hauptsatz anfangen würde, aber im Griechischen sieht das anders aus: in der Grammatik von Blaß, Debrunner und Rehkopf im §293 3d) finde ich die Aussage: "'hos' kann das Demonstrativum mit einschließen"; anders gesagt: Hin und wieder wird 'hos' benutzt, als würde es "derjenige, welcher" bedeuten. Und damit kann man auch im deutschen einen Satz anfangen.

Als Beispiel hierfür wird (u.a.) Römer 10,14 angeführt: Wie sollen sie nun (den) anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? Wie aber sollen sie an (den) glauben, von dem sie nicht gehört haben?

Die eingeklammerten Worte sind im griechischen nicht vorhanden, und müssen aus dem Relativpronomen ergänzt werden. Genau das gleiche kann auch in 1.Timotheus 3,16 geschehen. Es ist damit grammatisch möglich einen Satz mit 'hos' zu beginnen.

Unser Kritiker schreibt weiter:
Noch eine textkritische Bemerkung: in den Handschriften wird theos, Gott, sehr häufig in der abgekürzten Form ths geschrieben, was sich in griechischer Orthographie nur in einem zusätzlichen Strich von hos, welcher, unterscheidet. So ist es sehr gut denkbar, daß ein Abschreiber theos als hos auffaßte und es so versehentlich in den Text geriet.
Natürlich wäre das ganze auch umgekehrt möglich, das nämlich ein Abschreiber aus "hos" ein "theos" macht. Hierzu ein paar Hinweise, welche Richtung wahrscheinlicher ist: Alle Bibelmanuskripte bis zum neunten Jahrhundert enthalten das Wort "hos", alle Bibelübersetzungen aus dieser Zeit ebenfalls. Die ältesten Manuskripte, die 'theos' enthalten, stammen meines Wissens aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Es wäre schon ein großes Wunder, wenn diese Abschreiber alle entweder den Text selber geändert hätten oder rein zufällig alle Übersetzer ein geändertes Exemplar als Vorlage benutzt hätten. Es ist wesentlich wahrscheinlicher, dass ursprünglich alle Manuskripte "hos" enthielten, aber dann später Abschreiber und Korrektoren einen Strich nachgezogen haben (wie es im Fall mehrerer alter Manuskripte im Mittelalter dann auch eindeutig geschah).

Des weiteren ist hier die Meinung fast aller modernen Bibelübersetzer die gleiche wie bei der NWÜ. Es gibt somit keinen Grund, hier einen Fehler in der NWÜ anzunehmen. Statt dessen sollte unser Kritiker besser aufhören, alle Fakten auszublenden, die nicht zu seiner Meinung passen. Er würde dann entschieden bessere Argumente liefern können.

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