Dienstag, 6. November 2012
Das Kreuz mit den Zeugen Jehovas (2): Gewicht und Statik
Ich durfte schon erleben, dass Leute ein geniales Argument gefunden haben, warum Jesus an einem Kreuz gestorben sein muss und nicht an einem einfachen Pfahl ohne Querbalken hingerichtet worden sein konnte: Das Gewicht! Genau, du liest richtig, das Gewicht sagt uns (angeblich), das Jesus nicht an einem einfachen Pfahl gestorben sein konnte.

Ein Verurteilter trägt ein patibulum zur Hinrichtungsstätte
Quelle: Wikipedia
Wie funktioniert das? Die Behauptung lautet, dass Jesus in seinem geschwächten Zustand nach seiner Auspeitschung nicht in der Lage gewesen wäre, einen kompletten Hinrichtungspfahl zu tragen. Natürlich dachte ich an dieser Stelle genau das selbe wie du jetzt: ein einfacher Pfahl wiegt doch weniger als ein Kreuz, dass doch aus einem Pfahl mit einem Querholz besteht. Aber so einfach ist die Sache nicht. Denn Jesus wurde ja nicht in einem Hollywood-Film hingerichtet, sondern von echten Römern, und die hätten ihn, so wie man es in der nebenstehenden Abbildung sehen kann, nur den Querbalken des Kreuzes schleppen lassen, nicht das ganze Kreuz. Die Behauptung, die ich hörte, lautet, dass ein Pfahl ca. 70kg gewogen hätte und damit viel zu schwer war für einen geschwächten Verurteilten, während ein Querholz (das in der Fachliteratur gerne mit dem lateinischen Wort patibulum bezeichnet wird) nur ca. 30kg gewogen hätte3.

Ich stimme darin überein, dass ein Mensch, der von einer Geißelung geschwächt war, wahrscheinlich keinen 70kg schweren Stamm hätte tragen können. Ist damit bewiesen, dass Jesus am Kreuz starb und nicht am Pfahl? Nein, noch lange nicht. Denn woher wissen wir, dass ein Stamm 70kg hätte wiegen müssen? Und wie viel genau hätte ein Verurteilter denn so tragen können?8

Wenn man genau hinschaut, dann sagt uns der Bibelbericht, dass zwar Jesus mit dem stauros loslief, dass aber die römischen Soldaten schnell einen Mann aus den Schaulustigen dazu zwangen, den stauros für Jesus tragen (Lukas 23,26). Eine sinnvolle Erklärung hierfür lautet, dass Jesus tatsächlich durch die Auspeitschung so geschwächt war, dass die Last für ihn zu schwer war. Aber das wäre dann auch ein außergewöhnliches Geschehen. Normalerweise hätte ein Verurteilter seinen stauros selber tragen können und müssen. Ich gehe davon aus, dass ein normaler erwachsener Mann damals ein Gewicht von 50kg hätte tragen können.

Dichte

Bei dem Gewicht des Pfahls gehen die Probleme los. Wenn wir z.B. die DIN EN 1991-1-1 fragen, in der u.a. das Gewicht von Baustoffen angegeben wird, dann finden wir für Holz Gewichte von 350kg/m³ bis 1080kg/m³; das heißt, das schwerste Holz wiegt etwa dreimal so viel wie das leichteste. Die Werte hängen vor allem von der verwendeten Holzart ab und davon, wie trocken oder nass das Holz ist. In der etwas älteren DIN 1055-1 wird für Nadelholz (wie z.B. Fichte, Kiefer) ein Gewicht1 von 500kg/m³ angegeben und für Laubholz (z.B. Eiche oder Buche) ein Gewicht von 700 bis 1100kg/m³. Dabei sind die höheren Gewichte für Hölzer aus dem tropischen Regenwald vorgesehen, während die Hölzer, die nicht aus den Tropen stammen, maximal mit 700 kg/m³ angesetzt werden. Damit nicht genug: diese Werte gelten für Holz, dass bereits einige Zeit trocknen konnte (ohne aber vollständig getrocknet zu sein). Holz, dass frisch aus dem Wald kommt, kann rund 25% mehr wiegen, da es noch größere Mengen Wasser enthält.

Und wieviel hat nun das Holz gewogen, dass Jesus nach Golgotha trug? Das hängt davon ab, was es genau für ein Holz war. Wenn er einen stauros aus trockenem Nadelholz trug. dann wog er etwa 500kg/m³, wenn es frisches Laubholz war, etwa 900kg/m³, und wenn es vorgetrocknetes Laubholz war, etwa 700kg/m³.

Stellen wir uns als erstes die Frage, ob der stauros aus frischem Holz oder aus vorgetrocknetem Holz war. Hierfür ist es erforderlich, dass wir uns mit dem genauen Ablauf vertraut machen. Am Morgen der Hinrichtung wusste die römische Verwaltung noch nicht, dass Jesus hingerichtet werden würde, da er erst nach Sonnenaufgang vor Pilatus angeklagt wurde (Matthäus 27,1.2). Zuerst versuchte Pilatus sich des Problems zu entledigen, indem er den Gefangenen an Herodes, den Herrscher von Galiläa überstellte. Erst nachdem Herodes ihn postwendend zurück schickte, verurteilte Pilatus ihn (Lukas 23,6-10.15.24.25). Der Gang nach Golgotha begann demnach irgendwann zwischen 9:00 vormittags und mittags, am wahrscheinlichsten gegen 10:30. Von dem Zeitpunkt, an dem Jesu Hinrichtung angeordnet wurde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Jesus den stauros zu tragen bekam, vergingen dabei höchstens zwei Stunden.

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand in dieser Zeit einen Baum fällte und zum Palast des Statthalters brachte. Jerusalem war für damalige Verhältnisse eine große Stadt mit möglicherweise 100.000 Einwohnern; und zur Zeit des Passahs waren hunderttausende weitere Pilger anwesend, daher ist kaum anzunehmen, dass man eben mal im Laufe einer Viertelstunde in einen Wald gehen konnte, um einen Baum zu fällen. Holz musste erst antransportiert werden. Es ist somit eher wahrscheinlich, dass ein Stück Holz genommen wurde, dass bereits im Palast vorhanden war. Nun ist aber ein Palast nicht die Stelle, an der man frisches Holz zum Trocknen lagert. Dort würde ich doch eher bereits getrocknetes Holz vermuten. Denn das höhere Gewicht des frischen Holzes erschwert den Transport. Daher wurde sinnvollerweise das Holz in der Nähe der Stelle getrocknet, wo der Baum gefällt wurde, und es erst danach in die Stadt transportiert. Zwar kann man davon ausgehen, dass der Transport durch Sklaven und Arbeitstiere erfolgte, aber auch die kosten Geld und werden nicht verschwendet.

Damit musste Jesus aller Wahrscheinlichkeit ein bereits getrocknetes Stück Holz tragen, was das Maximalgewicht auf 700kg/m³ begrenzt. Großzügig wie ich bin, lasse ich gelten, dass es sich um Laubholz handelt; wir behalten aber im Hinterkopf, dass alle unsere Ergebnisse, auf die wir gleich kommen werden, noch einmal mehr als ein Viertel (genau genommen 28,5%) leichter sein könnten, wenn wir annehmen, dass der stauros aus Nadelholz war.

Volumen und Masse

Wie schwer nun genau ein stauros war, hängt natürlich von seiner Größe (genauer gesagt vom Volumen) ab: je größer desto schwerer. Ich will davon ausgehen, dass man normalerweise einem Verurteilten ein Gewicht von 40 bis 50kg auflud (nicht vergessen: die Leute hatten damals keinen Bürojob und daher mehr Muskeln als die meisten von uns).

Falls der stauros nun, wie von Zeugen Jehovas vermutet ein Pfahl war, an dem Jesus aufgehängt werden sollte, dann kann man annehmen, dass er ungefähr vier Meter lang war. Davon konnte ein Meter in den Boden eingelassen werden, während der Verurteilte noch an dem drei Meter hohen Pfahlstück gut sichtbar für die Schaulustigen hing.

Bei dieser Annahme hätte ein 50kg schwerer Pfahl einen Durchmesser von 15,1cm, ein Pfahl von 40kg Gewicht hätte einen Durchmesser von 13,5cm2. Das sind bereits sehr kräftige Durchmesser, an denen man ohne weiteres einen Menschen befestigen konnte. In Häusern, die vor dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden, hatten Dachsparren, die das Gewicht des Schnees und der Dachziegel tragen, meist einen Querschnitt von 7x12cm und sind damit deutlich kleiner. Deckenbalken, die die gesamte Decke inklusive aller darauf herum hüpfenden Menschen und Möbel tragen, wurden häufig aus Hölzern mit einem Querschnitt von 10x16cm gefertigt, die damit etwa so groß waren, wie die hier errechneten Balken.

Statik

Je nach dem verwendeten Berechnungsverfahren konnte solch ein Pfahl eine senkrechte Last von rund anderthalb Tonnen (bei d=13,5cm) bis zweieinhalb Tonnen (bei d=15cm) tragen6; das ist (technisch gesehen) mehr als ausreichend, um einen Menschen daran aufzuhängen7.

Was habe ich damit nun bewiesen? Ich habe hiermit noch nicht bewiesen, dass Jesus an einem einzelnen Pfahl gestorben sein muss. Aber es ist klar, dass es so möglich war. Man kann also nicht einfach behaupten, dass ein stauros in Pfahlform nicht hätte getragen werden können. Damit ist das eingangs genannte Argument nicht schlüssig: Ein einfacher Pfahl zur Verurteilung hätte von einem Verurteilten getragen werden können. Mir ist klar, dass das alleine die Frage nicht entscheiden kann, ob Jesus am Pfahl oder am Kreuz hingerichtet wurde. Aber es ist ein Glied in der Kette der Argumente. Weitere Argumente hatte ich bereits geschildert, und wenn ich Zeit finde, werde ich noch weitere behandeln.

Damit bleibt es hier bei der Schlussfolgerung, die der evangelische Theologe Gunnar Samuelsson in seiner Dissertation zum Thema Kreuzigung zog (Crucifixion in Antiquity, S. 296; meine Übersetzung):
Die Evangelien zeigen nicht, dass ein Querholz zum bereits aufgestellten Pfahl gebracht wurde und die beiden dann miteinander verbunden wurden. ... Auf der Grundlage der Texte des Neuen Testaments kann man nicht wissen, wie der stauros aussah, außer dass er anscheinend über das Haupt Jesu hinausragte.

1 Jaja, ich weiß, es muss streng genommen "Dichte" heißen, aber redet so außer Physikern und Pedanten?

2Die Formel lautet:

(1a) d = (4 x G / (π x ϱ x l))0,5

G: das Gewicht des stauros (also 40 bzw. 50kg)
ϱ: die Dichte des Holzes (700kg/m³)
l: die Länge (4m)
d: der Durchmesser
(vergiss nicht die Einheiten! Wenn du alles in Meter und Kilogramm eingibst, kommt das Ergebnis auch in Metern heraus)

Man kann die Formel auch umkehren und das Gewicht für einen Pfahl berechnen:

(1b) G = π x ϱ x d² x l / 4

Du kannst dir gerne einen Taschenrechner nehmen und das ganze für verschiedene Fälle selber durchrechnen.

3 Wir5 lassen uns natürlich nicht davon beeindrucken, dass wir in den meisten Bibelübersetzungen lesen können, dass Jesus ein "Kreuz" nach Golgotha trug. Es ist allen klar, dass das verwendete griechische Wort stauros sich nicht auf das komplette Kreuz beziehen konnte. Es wäre schlicht und einfach noch wesentlich schwerer gewesen als ein einfacher Pfahl. Deswegen gehen auch diejenigen, die behaupten, dass Jesus unbedingt an einem Kreuz gestorben sein muss, davon aus, dass er nicht das komplette Kreuz getragen haben konnte4. Zur Bedeutung des Wortes stauros hatte ich bereits hier etwas geschrieben.

4 Außer in Hollywood natürlich.

5 Ja, ich habe es wieder nicht geschafft, die Fußnoten in der richtigen Reihenfolge durchzunummerieren

6 Aus Gründen des einfacheren Rechenwegs habe ich mich für die Berechnung nach DIN 1052-1 von 1988 entschieden. Neuere Normen sollten prinzipiell zu ähnlichen Ergebnissen führen, da sich das Holz mit der Einführung der Normen ja nicht ändert;o)

7 Ein 70kg schwerer Pfahl von 4m Länge hätte demnach einen Durchmesser von 17,8cm und eine Tragfähigkeit von rund 3,5 Tonnen. Wenn du in einen Altbau gehst und dir das Dach von innen anschaust, dann haben häufig die senkrechten Stützbalken, die das gesamte Dach tragen in etwa diese Größe.

8 Mir ist bewusst, dass die Hinrichtungsmethode, egal ob am Pfahl oder am Kreuz eine der übelsten und grausamsten Foltermethoden ist, die sich Menschen jemals ausgedacht haben. Die Römer und andere antike Völker9 kannten aber noch nicht die Idee der Menschenrechte und haben derartige Foltermethoden routinemäßig eingesetzt. Wenn man daher wissen will, wie genau das Hinrichtungswerkzeug aussah, an dem Jesus starb, dann muss man sich mit einige sehr abstoßenden Details auseinandersetzen.

9 Interessanterweise gibt es keine Hinweise darauf, dass Juden vor der Zeit der Hasmonäer jemals lebendige Menschen auf eine derartige Weise hinrichteten.

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