Sonntag, 9. August 2009
2.Mose 20,5.6: barmherziger Gott oder unethischer Mörder?
In den letzten Jahren habe ich das Phänomen beobachtet (vor allem im Internet), dass Menschen, die eigentlich keinerlei Interesse an Religion haben, dennoch einzelne Bibeltexte sehr gut kennen, nämlich solche, die ihrere Meinung nach Widersprüche der Bibel aufzeigen oder Stellen, in denen Gott grausam, ungerecht oder in anderer Weise unethisch handelt. Diese Bibeltexte beweisen ihnen somit, dass die Bibel nicht Gottes Wort sein kann bzw. dass der Gott der Bibel einfach die Erfindung von Menschen ist.

Ein Beispiel, dass ich schon mehrmals in diesem Zusammenhang gesehen habe ist 2.Mose 20,5.6 (ähnliches finden wir auch in 5.Mose 5,9.10 und 2.Mose 34,6.7):
denn ich, Jehova, dein Gott, bin ein Gott, der ausschließliche Ergebenheit fordert, der für die Vergehung von Vätern Strafe bringt über Söhne, über die dritte Generation und über die vierte Generation, im Fall derer, die mich hassen, 6 aber liebende Güte übt an der tausendsten Generation im Fall derer, die mich lieben und meine Gebote halten.
Dieser Text wird so verstanden, dass Gott seinen Zorn über einen Menschen an dessen Ur-Urenkeln auslässt, die logischerweise nichts an den Taten ihres Vorfahren ändern können, allein schon deshalb, weil sie wahrscheinlich noch gar nicht lebten, als sie begangen wurden. In 2.Mose 34 wird in diesem Zusammenhang Jehova als "ein Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und überströmend an liebender Güte" bezeichnet, was dann als zynisch angesehen wird.

In diesem Zusammenhang wird dann weiter auf Hesekiel 18,19.20 verwiesen, wo scheinbar das genaue Gegenteil von Gott ausgesagt wird:
19 Und ihr werdet gewiß sagen: „Wie kommt es, daß der Sohn keine [Schuld] zu tragen hat wegen der Vergehung des Vaters?“ Nun, was den Sohn betrifft, Recht und Gerechtigkeit hat er geübt, alle meine Satzungen hat er gehalten, und er tut sie ständig. Er wird ganz bestimmt am Leben bleiben. 20 Die Seele, die sündigt — sie selbst wird sterben. Ein Sohn wird keine [Schuld] tragen wegen des Vergehens des Vaters, und ein Vater seinerseits wird keine [Schuld] tragen wegen des Vergehens des Sohnes. Die Gerechtigkeit des Gerechten wird auf ihm selbst sein, und die Bosheit eines Bösen wird auf ihm selbst sein.
Wie kann ich also bibelgläubig sein, wenn ich so "offensichtliche" Widersprüche und Grausamkeiten Gottes hinnehmen?

Das Problem liegt hier (wie meiner Meinung nach häufig) nicht in der Bibel selbst, sondern in den Annahmen derjenigen, die die Bibel lesen.
In 2.Mose 20 etc. wird der Satzteil "im Falle derer, die mich hassen" auf die (Vor-)Väter bezogen. Allein dadurch entsteht der Eindruck des unethischen Verhalten Gottes und der angebliche Widerspruch zu Hesekiel 18. Diese Annahme wird heutzutage möglicherweise deswegen gerne gemacht, da die Ansicht vom "grausamen Gott des alten Testaments" allgemein akzeptiert wird.

Als ich aber genauer hinschaute, bemerkte ich, dass dieser Nebensatz auch auf alle vier Generationen bezogen werden kann. Dann versteht man den Satz so: "Erst wenn ihr drei bis vier Generationen lang gegen mich (Gott) steht (d.h. mich hasst), werde ich euch für eure Sünden zur Verantwortung ziehen." In diesem Fall werden die Sünden kontinuierlich von allen vier Generationen getrieben, also hat jeder seine eigene Schuld.

Bei diesem Verständnis verschwindet sofort der angebliche Widerspruch zu Hesekiel 18 und das scheinbare unethische Verhalten Gottes. Die Interpretation ist meiner Meinung auch nicht weit her geholt. Trotzdem wird sie munter weiter verbreitet.

Was ist die Ursache hierfür? Nach meiner Einschätzung die heute weit verbreitete kritiklose Übernahme von Erwartungen, was man in der Bibel vorfindet, nämlich Widersprüche, Vorurteile und (un-)ethische Normen barbarischer Völker des Altertums und ein sinnloses Gottesbild. Damit verbunden ist auch der Mangel an Bereitschaft, etwas von allen Seiten zu überdenken, bevor man es sich als Meinung zu eigen macht (Das alles betrifft natürlich genauso gläubige Menschen). Wenn man dann religions- und bibelkritisch eingestellt ist, dann übernimmt man gerne in Bezug auf diese Bibeltexte Vorurteile, die einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Außerdem ist es natürlich viel einfacher, eine Liste von angeblichen Widersprüchen irgenwohin zu kopieren, als jeden Text genau zu analysieren, was viel Arbeit macht. Damit kann man zumindest bei diesem Bibeltext die Kritik erklären.

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