Donnerstag, 31. Dezember 2009
Ein Komma hier, ein Komma da ... Lukas 23,43
Auf dieser Internetseite wird die NWÜ mit folgenden Worten kritisiert:
Gerade bei einer sog. Tendenzübersetzung wie der "Neue-Welt-Übersetzung" sind zahlreiche - an dieser Stelle nur exemplarisch dargestellt – Einwirkungen theologischen Vorverständnisses auf den Übersetzungstext festzustellen (u. a. Joh 1,1ff). Somit bestimmt leider die Theologie den Text des Neuen Testamentes und nicht die Heilige Schrift die Lehre. Die Aufrechterhaltung der in Lukas 23,44 nicht angebrachten Interpunktion muss somit zur Rechtfertigung gewisser Lehren dienen – hier die Auslöschung der menschlichen Seele nach dem Tod
Der Verfasser irrt hier in zwei Punkten: Zum einen nimmt er an, dass die Übersetzung von Lukas 23,43 in der NWÜ durch den Glauben der Zeugen Jehovas vorgegeben ist. Das zeigt er aber nicht, sondern nimmt es einfach an. Er führt zwar eine Begründung an, die von Zeugen Jehovas im Werk "Einsichten übder die heilige Schrift" gegeben wird, geht aber in keiner Weise auf die Begründung ein und bemerkt nicht, dass diese Begründung auf dem Kontext beruht und nicht auf Glaubensansichten.

Zweitens irrt der Verfasser in Bezug darauf, was Kontext und Grammatik zu diesem Vers aussagen können. Das wollen wir uns einmal genauer ansehen.

Das Problem

Das Problem ist relativ einfach zu verstehen: Der griechische Text ist mehrdeutig. Man kann ihn entweder so verstehen:

Amen, ich sage dir: HEUTE wirst du mit mir im Paradies sein

oder so:

Amen, ich sage dir HEUTE: wirst du mit mir im Paradies sein

Hierbei wird die zweite Variante von der NWÜ gewählt, die erste von fast allen übrigen Übersetzungen. Die erste Variante kann man nicht akzeptieren, wenn man wie Zeugen Jehovas nicht an de Unsterblichkeit der Seele glaubt, da diese Wiedergabe in direktem Widerspruch zu dieser Lehre steht. Daher ist es legitim zu fragen, ob es für die zweite Überstzungsvariante eine vernünftige Begründung gibt.

Vergleichbare Strukturen

Der Verfasser führt einige Verse an, die er mit Lukas 23,43 für vergleichbar hält. Er stellt u.a. korrekterweise fest, dass Jesus ca. 74 mal die Wendung "Amen, ich sage dir/euch" benutzt und dass bis auf Lukas 23,43 IMMER ein Komma bzw. Doppelpunkt direkt nach dem Wort "dir/euch" steht. Leider vergleicht er keine der anderen Stellen mit dieser Wendung mit Lukas 23,43. Er kommt zu folgendem Schluss:
Es gibt kein Beispiel im griechischen NT, dass das Idiom „"Wahrlich, ich sage" ( AMHN LEGW) modifiziert wird, wenn das/der Bezugswort/-ausdruck (in unserem Fall "heute") nachfolgend (!) im Satz steht. Die Satzstellung von "heute" (sh,meron, SHMERON) ist also entscheidend.
Er hat zwar recht, dass die Wortstellung im Satz entscheidend ist, bemerkt aber nicht, dass Lukas 23,43 eine andere Wortstellung hat, als alle 73 anderen Beispiele dieser Wendung. In 73 Fällen lautet die Wortstellung:

Amen sage(ich) dir (neuer Satz)

In Lukas 23,43 hingegen

Amen DIR sage(ich) heute ...

Warum wurde ausgerechnet hier die Wortreihenfolge geändert? Leider geht der Verfasser in keiner Weise auf diese Frage ein. Stattdessen macht er einen entscheidenden Fehler bei der Wiedergabe: anstatt die griechischen Worte korrekt mit " AMHN SOI LEGW SHMERON" anzuführen, schreibt er: " AMHN LEGW SOI SHMERON", wobei er zwei Worte vertauscht. Damit unterschlägt er den entscheidenden Unterschied zwischen Lukas 23,43 und den anderen 73 Stellen mit gleicher Formulierung: nur Lukas 23,43 hat die abweichende Wortstellung. (**siehe hierzu unten meinen Nachtrag**)

Während die übliche Wortstellung bei der Formel "Amen ich sage dir" anscheinend immer zu einer Pause im Satz führt, ist dies bei der in Lukas 23,43 gewählten Variante nicht gegeben. In den meisten der von dem Verfasser angegebenen Beispiele gehört das Wort, nach "LEGW" (="sage") mit zu dem vorgehenden Satz. In Lukas 23,43 wäre dies das Wort "heute", dass demnach gut mit zum vorhergehenden Satz gehören kann.

Die meisten Beispiele mit angeblich ähnlichen Stellen sind bei weitem nicht so ähnlich wie der Verfasser das gerne hätte. Meist beschränkt sich die Ähnlichkeit darauf, dass eine Form des Wortes "sagen" benutzt wird, Er zeigt aber nicht, dass das nachfolgende Wort nicht zu dem gleichen Satz gehören kann. Im Gegenteil, in mehreren Beispielen ist das nächste Wort offensichtlich Bestandteil des gleichen Satzes wie das Wort "sagen", wovon man sich leicht auf der Seite selbst überzeugen kann.

Mit einer Ausnahme bezieht sich der Verfasser stattdessen auf Worte, die an ganz anderer Stelle im Satz stehen und die daher nicht mit dem "heute" von Lukas 23,43 vergleichbar sind. Er beschränkt sich darauf, Beispiele zu zeigen, wo "sagen" und eine Zeitangabe in unmittelbarer Nähe vorkommen. Er gibt Beispiele an, bei denen die Zeitangabe direkt nach "sagen" steht, aber zum nächsten Satz gehört, oder in denen die Zeitangabe an komplett anderer Stelle steht als in Lukas 23,43.

Hierbei begeht er einen Denkfehler. Bloß weil Zeitangaben an anderen Stellen stehen können, heißt dass nicht, dass sie nicht da stehen können, wo sie in Lukas 23,43 steht. Und bloß weil in einem Beispielvers eine Zeitangabe direkt nach "sagen" zum nächsten Satz gehört, heißt das nicht, dass das immer so sein muss.

Es gibt hierzu ein einfaches Gegenbeispiel: Matthäus 7,22:
Viele werden an jenem Tage zu mir sagen:
Auch hier folgt im griechischen die Zeitbestimmung nach dem Wort "sagen". Wenn es also hier möglich ist, dass die Zeitbestimmung nachfolgt, dann kann man nicht sagen, dass es in Lukas 23,43 anders sein muss. Es heißt nur, dass man ein schiefes Bild bekommt, wenn man zuwenig Beispiele betrachtet. (Ich habe übrigens nur ca. zwei Minuten suchen müssen, um auf das Gegenbeispiel z stoßen.) Somit ist klar, dass die Wortstellung nicht anzeigt, ob eine Zeitbestimmung zu "sagen" gehört oder zum nächsten Satz.

Der Kontext

Zum Kontext finden wir folgenden Gedanken:
Zudem wäre es überflüssig zu betonen, dass Jesus die Aussage gerade "heute" trifft – es gibt dazu ja keine anderen sinnvollen Alternativen wie "morgen", "gestern".
Trotzdem werden in der Bibel dutzendweise ähnliche Formulierungen benutzt, in denen "heute" etwas geboten, bezeugt oder erinnert bzw. in aderer Form mitgeteilt wird (einige Beispiele: 5. Mose 4,26.39; 5,1; 6,6; 7,11; 8,1.19; 9,3; 10,13; 11,2.8.13.26-28.32; 13,19; 15,5.15; 19,9; 26,3; 27,1.10), obwohl klar ist, dass dies nicht gestern oder morgen getan wird.

Wie man leicht selber sehen kann, wird durch eine solche Benutzung des Wortes "heute" ein besonderer Nachdruck darauf gelegt, dass diese Aussage feierlich und würdevoll gemeint ist. Daher ist eine solche Benutzung des Wortes "heute" keineswegs überflüssig, sie weist bloß auf etwas hin, was der Verfasser nicht bedacht hat. Man kann daher Lukas 23,43 als Anspielung auf den Wortgebrauch in 5.Mose ansehen.

Der Verfasser meint außerdem:
Das Paradies ist in diesem Vers nicht mit der kommenden Königsherrschaft Christi gleichzusetzen, sondern ist ein bereits gegenwärtiger Ort (vgl. 2Kor 12,4 i.V.m. Lk 19,11), daher kann sich "heute" auf den Eingang zu diesem Ort noch am selben Tag beziehen.
Lukas ist hier deutlich anderer Meinung. Er schreibt in Apostelgeschichte 2,31, dass Jesus vor seiner Auferstehung im Totenreich oder der Unterwelt war (je nachdem, welche Übersetzung man benutzt). Es würde der Bibel widersprechen, dieses Totenreich mit dem Paradies gleichzusetzen. Luther benutzte hier ursprünglich sogar das Wort "Hölle". Man kann kaum ernsthaft versuchen, das Totenreich mit dem Paradies gleichzusetzen, wie es erforderlich wäre, wenn das Paradies der Ort sein soll, an den Jesus sofort nach seinem Tod kam.

Auch das apostolische Glaubensbekenntnis der trinitarischen Kirchen sagt über Jesus: "niedergefahren zur Hölle". Von daher müsste man dann schon Hölle=Paradies setzen, was wohl doch eher absurd wäre.

Schlussfolgerung

Dem Verfasser der Seite gelingt es weder zu zeigen, dass das Wort "heute" nicht zum vorhergehenden Satz gehören kann. Außerdem geht er nicht auf die vorhandene Begründung ein, die die Wiedergabe der NWÜ erläutert. Bei der Untersuchung des Kontext geht er von Annahmen aus, die nicht gerechtfertigt sind. Außerdem unterläuft ihm ein entscheidender Fehler in Bezug auf die Wortstellung. Daher sind seine Schlussfolgerungen nicht haltbar.

Positiv anzumerken ist, dass er zumindest zu Kenntnis nimmt, dass es eine Begründung für die Wiedergabe der NWÜ gibt und diese auch anführt, selbst, wenn ersie nicht bespricht. Außerdem verfällt er nicht in die Beschimpfungen, die sonst so häufig die Kritik der NWÜ begleiten.

Es gibt also keinen sinnvollen Grund, die Übersetzung von Lukas 23,43 in der NWÜ abzulehnen, solange man sich auf Kontext und Grammatik beschränkt. Erst die theologische Annahme, dass die Seele unsterblich ist, zwingt dazu, die Variante der NWÜ abzulehnen.

Nachtrag:

Inzwischen habe ich die Anmerkung gefunden, in der der Verfasser angibt, dass er die griechischen Texte nach dem Textus Receptus zitiert. Dies erklärt, warum er in Lukas 23,43 einen anderen griechischen Text zugrunde legt als die NWÜ. Insofern hat er nicht falsch zitiert, wie ich im Artikel annahm, sondern einfach einen anderen Bibeltext als Grundlage genommen.

Dies ändert allerdings nichts an meiner grundsätzlichen Kritik. Wenn man eine Übersetzung kritisiert, dann sollte man sie anhand des Textes kritisieren, anhand dessen sie erstellt wurde; ansonsten sollte man die Wahl des Textes kritisieren. Dies ist insbesondere wichtig an einer Stelle, wo es von erheblicher Bedeutung ist, welchen Text man zugrunde legt.

Wenn jemand meint, dass der Textus Receptus besser ist als die modernen Textausgaben, dann ist das ein ganz anderes Thema als die Frage, wie Lukas 23,43 auf Grundlage einer modernen Textausgabe zu übersetzen ist.

PS:
(Hier findet man weitere interessante Details zum Thema auf Englisch. )
(Und hier die Meinung eines (protestantischen) Bibelübersetzers )

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