Freitag, 5. März 2010
Nettes Buch zum "synoptischen Problem"
James R. Edwards hat (leider nur auf Englisch) ein Buch über das sogenannte "synoptische Problem" geschrieben, über die Frage, warum die ersten drei Evangelien sich in weiten Teilen so ähnlich sehen.

Die traditionelle Antwort, die Theologen meist anbieten, beruht darauf, dass diese Evangelien keine Augenzeugenberichte enthalten, sondern das Ergebnis längerer Überlieferung (und Erfindung) von Traditionen ist, die nur zum Teil (wenn überhaupt) erzählen, was Jesus wirklich sagte und tat und zum Teil (wenn auch selten offen so genannt) das Ergebnis von Legendenbildung ist.

Edwards ist für Evangelikaler und damit für die deutsche Theologie mit Sicherheit Außenseiter; er bietet einen neuen Ansatz zur Analyse der Frage und bietet einige interessante Lösungsansätze. Seine Ideen entsprechen nicht in allen Punkten dem, was Zeugen Jehovas lehren, aber seine Meinung ist in vielen Bereichen dieser Frage ähnlich.

Das Buch ist zu komplex, um es im Detail hier zu erläutern, aber folgende Punkte waren für mich interessant:

- Das Lukasevangelium enthält mit Abstand am meisten semitischen Sprachformen und diese konzentriert in den Teilen, die keine Entsprechung in Matthäus und Markus haben.

-Diese Semitismen sind weitaus besser als Einflüsse des Hebräischen erklärbar denn als Enflüsse des Aramäischen.

-Das sogenannte "Hebräerevangelium" wurde zwar in der Kirche der ersten Jahrhunderte nicht als kanonisch betrachtet, aber doch auf eine fast genau so hohe Stufe gestellt und der Apostel Matthäus als Autor genannt. Die frühen Autoren der Kirche beziehen sich sehr häufig darauf, zitieren daraus häufig und behandeln es häufig mit einer Achtung, die der Achtung gegenüber der Bibel ähnelt. Zweifel in der frühen Kirche betreffen vor allem die Verfälschung dieses Evangeliums durch herätische Gruppen.

-Der Autor zeichnet die Forschungsgeschichte zum Hebräerevangelium und zur "Logienquelle'Q'" in den letzten zwei Jahrhunderten nach. Dabei macht er klar, warum das so reich bezeugte Hebräerevangelium weitgehend in Vergessenheit geriet während die hypothetische Logienquelle heute (beinahe) als historische Tatsache gewertet wird.

-Theologische und politische(!) Einflüsse auf die Zweiquellentheorie werden aufgezeigt, wie z.B. der bismarcksche Kulturkampf, das philosophische Konzept der Aufklärung und des Rationalismus sowie die (möglicherweise von der Romantik beeinflussten) Ideen darüber, wie Texte entstehen, die eine Gruppe (Nation oder Religion) definieren.

-Die Apostel Matthäus und Matthias wurden von den Autoren der frühen Kirche häufiger aufgrund des ähnlichen Namens verwechselt.

Aufgrund dieser Details entwirft Edwards eine Hypothese, die damit vereinbar ist, dass die synoptischen Evangelien auf authentischen Augenzeugenberichten beruhen:

Demnach hätte zuerst Matthäus ein Evangelium in hebräischer Sprache für die Judenchristen geschrieben. Dann schrieb Markus ein Evangelium auf griechisch für die Heidenchristen, dass auf den Erinnerungen von Petrus beruht. Lukas fügte dann diese beiden Evangelien (und weitere Augenzeugenberichte) zusammen. Schließlich wurde das Markusevangelium für die Judenchristen überarbeitet und erweitert, wobei unser Matthäusevangelium entstand.

Man muss nicht mit den Schlussfolgerungen Edwards übereinstimmen, um das Buch mit Interesse zu lesen. Allein die Darstellung der Entwicklung der Zweiquellenhypothese in den letzten zwei Jahrhunderten hilft einem, zu verstehen, warum Theologen heutzutage so argumentieren, wie wir es lesen. Gut ist außerdem die detaillierte Benennung zu den Quellen zum Hebräerevangelium und die detaillierte Besprechung der Hebraismen im Lukasevangelium.

Was ich als Schwachpunkt sehe, ist die Hypothese für die Entstehung des griehischen Matthäusevangeliums, für die Edwards kaum sachliche Gründe anführt.

Das Buch ist nur für solche Leser geeignet, die Freude an Fragen der Entstehung des Bibeltextes haben. Grundlegende Altgriechisch- und Hebräischkenntnisse sind von Vorteil, für einen Großteil des Buches aber nicht unbedingt erforderlich, wenn man hin und wieder etwas auslässt oder überliest.

Mich persönlich hat dieses Buch darin bestärkt, dass man sich nicht davon einschüchtern lassen muss, wenn "(fast) alle Theologen" etwas übereinstimmend behaupten. Die Ursache hierfür ist häufig nicht darin zu finden, dass alle Theologen persönlich die entsprechende Frage unabhängig von allen Seiten untersucht haben. Stattdessen liegen die Ursachen dieser "Einstimmigkeit" in dieser Fragestellung (und wie ich annehme auch in vielen anderen) eher in Annahmen, die z.T. seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten unhinterfragt (oder zumindest nicht grundsätzlich hinterfragt) von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde.

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