Mittwoch, 26. Mai 2010
Wozu Rechtsstaat? Im Ländle anscheinend nicht erforderlich
Zumindest komme ich zu diesem Ergebnis, wenn ich lese, wie dort mit Zeugen Jehovas umgegangen wird.

In diesem Kommentar werden so viele eigentlich selbstverständliche rechtsstaatliche Grundsätze für überflüssig erklärt, dass es schon peinlich wird. Ein paar Beispiele:
Die Zeugen Jehovas wollen den Kirchen gleichgestellt werden. Das macht einigen Politikern Bauchweh.

Zu Recht. Es gibt genügend Aussteiger, die berichten, wie ihnen nach ihrem Abschied mitgespielt wird. Das grenzt zum Teil an Psycho-Terror. Auch was sie zum Innenleben der Glaubensgemeinschaft zu erzählen haben, muss Bedenken auslösen. Die Aussteiger zeichnen unisono das Bild autoritärer Strukturen. Wie sie von Sekten bekannt sind.
Zum ersten lagen diese (bzw. ähnliche) Berichte bereits allen Gerichten bis zum Verfassungsgericht in großen Mengen vor. Es wäre vielleicht auf unsere Kommentatorin erleuchtend mal in den Urteilsbegründungen nachzulesen, warum die Gerichte diese Berichte erst einmal einer kritischen Prüfung unterziehen wollen.

Nach realistischen Schätzungen gibt es in Deutschland zehntausende ehemaliger Zeugen Jehovas. Wenn jetzt ein paar Dutzend davon diese Ideen verbreiten, dann muss man doch folgende Fragen stellen, bevor man das beurteilt:

-sind diese Berichte repräsentativ oder Einzelfälle?
-Sind diese Berichte die subjektiven Meinungen der Betroffenen oder können sie objektiv beurteilt werden?
-Inwieweit ist die Religionsgemeinschaft am Konflikt schuld und inwieweit gibt es andere Ursachen, z.B. Familienkonflikte oder das Verhalten der Ehemaligen selber?

Üblicherweise bleibt nach einer derartigen Prüfung nichts wesentliches übrig, was objektiv auf das Verhalten der Zeugen Jehovas Rückschlüsse zulässt. Aber das wäre ja ein rechtsstaatlicher Ansatz. Bewahre! Man sollte natürlich eine religiöse Minderheit nicht nach objektiven Kriterien beurteilen. Wo kämen wir denn da hin?
Dazu kommen höchst alarmierende Anweisungen: Etwa die, Wahlen zu boykottieren. Oder Bluttransfusionen abzulehnen.
Wenn die Kommentatorin sich mit der Angelegenheit auch nur ein wenig befasst hätte, wüsste sie, dass alle betroffenen Gerichte diese Fragen bereits beantwortet haben: Zeugen Jehovas stehen hier auf dem Boden der rechtsstaatlichen Ordnung Deutschlands. Aber wo kämen wir hin, wenn Minderheiten ihre Grundrechte auf eine Art benutzen, die der Mehrheit nicht passt?
Doch Ministerpräsident Mappus und mittlerweile die FDP zieren sich. Das ehrt sie. Doch sie müssen sich auf eine schwierige Diskussion einstellen. Nicht nur weil sie dem Verfassungsgericht nicht blind folgen wollen.
Ja wo kämen wir hin, wenn man einfach "blind" sich an die Verfassung hielte? (Zur Erinnerung: die Stellung des Verfassungsgerichts ist grundlegender Bestandteil des Grundgesetzes. Zu meiner Schulzeit war das Verfassungsgericht noch die höchste Instanz in Verfassungsfragen.) Man sollte das unbedingt vermeiden. Man könnte ja irgendwann als verfassungstreu bekannt werden. Aber es ist doch gut zu hören, dass deutsche Medien Politiker ehren, die sich beginnen, von diesen Verfassungsgrundsätzen zu lösen.
Doch es gilt abzuwägen. Der Streit um die Anerkennung ist jahrzehntealt – deswegen muss er jetzt nicht von heute auf morgen entschieden werden. Rheinland-Pfalz, das die Anerkennung ebenfalls ablehnen will, hat ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses wird in Baden-Württemberg abgewartet. Das bedeutet nach der langen Zeit der Auseinandersetzug keine unnötige Verzögerung.
Die jahrzehntelange Auseinandersetzung beruht im wesentlichen darauf, dass Behörden und Politiker ohne objektive Gründe einfach sagten: "wir wollen aber nicht", obwohl die Rechtslage (spätestens seit dem Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2000) eindeutig ist. Das jetzt als Begründung für weitere Verzögerung aus dem gleichen Grund anzugeben, ist absurd: weil wir uns bisher nicht an die Gesetze hielten, schadet es nicht, wenn wir es auch weiter nicht tun...
Die Idee, einen Prozess zu riskieren, um die Anerkennung verweigern zu können, sollte strikt befolgt werden. Es ist ja gut möglich, dass die Initiativen in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg Erkenntnisse bringen, die dem Verfassungsgericht nicht bekannt waren.
Wie ging das früher? Man hatte Anspruch auf einen Verwaltungsakt und der wurde von der zuständigen Behörde durchgeführt. Hier geht es umgekehrt: Obwohl alle Voraussetzungen zur Anerkennung vorliegen, soll die Behörde keine erteilen. Warum? Man könnte ja möglicherweise noch irgend etwas finden, was dagegen spricht.

Um das Vorgehen zu veranschaulichen: Stell dir vor, du beantragst einen neuen Führerschein. Der Antrag wird abgelehnt, weil die Behörde etwas sucht, was dich untauglich macht. Und der Sachbearbeiter macht eine Umfrage bei deinem Ex-Partner, ob er sich nicht dran erinnern könne, dass du irgendwelche Verkehrsverstöße begangen hast. Und wenn der dann sagt: Ja natürlich, dann reicht das als Beweis, dass du kein Anrecht auf einen Führerschein hast. Das ist nicht mehr das Vorgehen eines Rechtsstaats.
Sektenbeauftragte haben schließlich auch lange gebraucht, um zu erkennen, dass die Zeugen Jehovas durchaus in das Muster der von ihnen beobachteten Gruppierungen passen.
Lange gebraucht? Zeugen Jehovas gehörten zu den Gruppen, die die Sektenbeauftragten (damals noch mit anderem Namen) bereits in den 1920er Jahren "beobachteten". Und 1933 haben sie dann das Verbot der Zeugen Jehovas beantragt. Kaum eine Gruppe wurde länger von den Sektenbeauftragten beobachtet.

Ein Kommentar also, der gestützt auf Unwissenheit fordert, rechtsstaatliche Prinzipien bei Zeugen Jehovas außer Kraft zu setzen.

Das war nicht der einzige Bericht zum Thema: z.B. hier gibt es einen Bericht über anonyme Vorwürfe gegen Zeugen Jehovas. Diese sind natürlich in den meisten Punkten irrelevant für die Frage der Anerkennung, aber wen stört es? Ob die Bibelauslegung der Zeugen Jehovas "richtig" ist, welche Behörde will darüber entscheiden? Ob und wie weit Zeugen Jehovas den Inhalt von Gottesdiensten vorgeben, wen geht das etwas an? Ob sie für jedermanns Glaubenszweifel eine überzeugende Antwort haben, inwieweit ist das relevant? Wenn Spenden "gewünscht" sind, ist das irgendwie schlimm? Kirchen treiben Steuern ein, bevor sie um Spenden bitten. Selbst wenn diese Punkte korrekt und belegbar wären (was sie in vielen Fällen nicht sind) würde es nichts damit zu tun haben, ob Zeugen Jehovas anerkannt werden müssen oder nicht.

Und dort wo die Vorwürfe möglicherweise zum Thema sind, da sind sie vage und nicht überprüfbar. Was sind Denkverbote? Ist entscheidend, wie ein jemand sich fühlt, der anonyme Vorwürfe verbreitet? Was sagt die Familie und die anderen Bekannten, die angeblich Rufmord begehen? Haben sie möglicherweise eine andere Sicht der Dinge? Wieso werden derartige Berichte ohne Prüfung als relevant betrachtet? Alle wichtigen Fragen werden nicht beantwortet. Stattdessen werden Vorwürfe veröffentlicht, die nicht geprüft sind.

Das ist anscheinend einer der drei "erfolgversprechenden" Berichte, von denen vor ein paar Wochen die Rede war. Ich denke, man könnte über die katholische Kirche wesentlich niederschmetterndere (und wesentlich besser belegbare) Vorwürfe finden. Aber es ist ja anscheinend nicht gewünscht, alle Bürger gleich zu behandeln. Zeugen Jehovas wird "selbstverständlich" vorenthalten, was andere genauso selbstverständlich als Recht haben, selbst wenn die Voraussetzungen die gleichen sind.

Und natürlich werden auch "Experten" ausgegraben, die anscheinend auch keine Ahnung haben. Die Idee, dass Zeugen Jehovas in irgendeinen Rundfunkrat kommen könnten, ist natürlich abwegig, ob mit oder ohne Anerkennung. Dutzende Religionsgemeinschaften ähnlicher Größe sind genauso wenig in den Rundfunkräten vertreten. Wenn man Experte ist, sollte man das natürlich wissen. Aber stattdessen ist es natürlich gewünscht, Vorurteile im Namen des eigenen Expertentums zu verbreiten.
Kinder der Zeugen Jehovas sind nach den Worten Lerchenmüllers oftmals hin- und hergerissen zwischen "der Welt da draußen" und den Ritualen der Gemeinschaft, die vieles verbietet, wie etwa das Feiern von Geburtstagen. "Dadurch geraten die Kinder in eine Konfliktsituation, mit der sie aufgrund ihres Alters gar nicht umgehen können."
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Kinder häufig keine Konfliktsituation spüren. In einem Land, dessen Einwohner immer mehr eine unterschiedliche Herkunft haben, ist dies sowieso Normalität. Außerdem gibt es meines Wissens keine Vorschrift, Geburtstage oder Weihnachten feiern zu müssen. Was würde unsere "Expertin" sagen, wenn ihre Kinder demnächst muslimische Feiern beobachten müssten, weil sie sonst mit der "Konfliktsituation" nicht umgehen könnten, wenn eine nennenswerte Zahl Muslime in ihrer Umgebung das tun? Oder wenn wir Juden dazu zwingen, Weihnachten statt Chanukkah zu feiern, weil das alle so machen? Eine absurde Idee. Aber Zeugen Jehovas dürfen ihre eigenen Traditionen nicht pflegen? Wo leben wir eigentlich? Wer will vorschreiben, welche Traditionen für wen verbindlich sind?
"Sie lehnen die Verwendung von Blut ab und stellen die Frage, ob Bluttransfusionen medizinisch notwendig sind. So beeinflussen sie ihre Anhänger in nicht vertretbarer Art und Weise."
Wenn der Papst in Rom verlangt, keine Verhütungsmittel zu benutzen, ist das ein Grund, dass die katholische Kirche nicht anerkannt werden kann? Natürlich dürfen sich Religionen zu allgemeinen Fragen äußern und damit auch Einfluss ausüben. Wer legt fest, wann derartige Äußerungen ein vertretbares Maß übersteigen? Bisher waren es die Gesetze und Gerichte, die diese Gesetze anwenden. Und diese Gerichte haben festgestellt, dass Zeugen Jehovas ihre Kompetenzen in dieser Frage nicht übersteigen. Eine "Expertin" sollte das wissen, hindert sie aber nicht daran mal eben das Gegenteil zu behaupten.
Ehemalige Zeugen Jehovas sind laut Lerchenmüller auch Jahre nach ihrem Ausstieg geprägt von einem "Grundgehorsam". "Dies äußert sich darin, dass sie für jede Konfliktsituation die Schuld bei sich selber suchen, wie es ihnen beigebracht wurde": Die Anhänger sind überzeugt, dass ihr System funktioniert. "Wenn es mal nicht funktioniert, ist der Anwender schuld, weil er sich abgewandt hat oder zu kritisch war. Oder, wenn er unter dem Einfluss einer negativ eingestellten Person steht." Viele Zeugen Jehovas wagten nicht, kritische Gedanken zu haben - "aus Angst, ihr Lebensglück zu verspielen".
Das mag auf ehemalige Zeugen Jehovas möglicherweise zutreffen - obwohl ich das doch anzweifele. Es ist aber doch absurd, eine Religionsgemeinschaft nach der Meinung derer zu beurteilen, die nicht dazugehören wollen. Wie ist es mit denen, die Zeugen Jehovas sein wollen? Haben sie möglicherweise eine ganz andere Einstellung? Nach meiner Erfahrung eindeutig ja.

Weder Medien noch "Experten" scheinen sich Gedanken über die Folgen ihrer Forderungen zu machen. Wenn man alles das umsetzen wollte, was in Bezug auf Zeugen Jehovas in BaWü gefordert wird, dann könnten wir uns von einem Großteil dessen verabschieden, was wir bisher als Rechtsstaat und Grundrechte kannten.

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