Donnerstag, 29. Juli 2010
Dawkins Airlines (II):
Wo ist mein Fallschirm?
Wo ist mein Fallschirm?
hgp, 16:49h
Vorab eine kleine Klarstellung: Sinn dieser Beiträge ist es nicht, sich über irgend etwas oder irgend jemand lustig zu machen; niemandem ist damit gedient, wenn man über andere und ihre Ansichten lacht. Aber es ist wichtig, ob es Gott gibt oder nicht, da davon eine ganze Menge in unserem Leben abhängt, egal ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Das einzige, worüber ich mich von Zeit zu Zeit mal lustig mache ist, wenn Menschen, die es besser wissen müssten, Dinge erzählen, die einfach Unsinn sein müssen.
Teil 1 dieser Serie
Im zweiten Teil dieser Serie will ich mich mit dem nächsten grundlegenden Problem von Dawkins' Argument beschäftigen, mit dem er zeigen will, dass es keinen Gott gibt: Dawkins wollte nicht nur zeigen, dass Gott unwahrscheinlicher ist als die zufällige Entstehung von Leben, sondern auch, dass Selektion wahrscheinlicher ist. Im ersten Teil kam ich zu dem Schluss, dass Dawkins' Argument nicht erlaubt zu sagen, wie unwahrscheinlich Gott überhaupt ist. Zum zweiten Teil seines Argumentes schreibt er auf Seite 168 des Buches "der Gotteswahn":
Wenn ich ein sehr unwahrscheinliches Ereignis in viele kleine Schritte zerteile (wie Dawkins sagt), die eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit haben, ändert sich dadurch erst mal nichts an der Gesamtwahrscheinlichkeit. Denn die relativ hohen Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Schritte muss man multiplizieren, um die Gesamtwahrscheinlichkeit zu erhalten. Wenn ich z.B. ein Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit 10-6 in 20 Schritte mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% zerteile, dann ist jeder Schritt relativ wahrscheinlich (nämlich 50%), aber die Wahrscheinlichkeit, dass alle 20 Ereignisse eintreffen, beträgt trotzdem nur
0,520 = 10-6
Wenn also die Selektion nichts weiter täte, als ein unwahrscheinliches Ereignis in kleine Schritte zu teilen, dann würde sie nicht helfen. Sie muss vielmehr die einzelnen Schritte wahrscheinlicher machen als sie es ohne Selektion wären.
Wie kann das gehen? Dadurch, dass jeder Schritt hin zu dem komplexen Ergebnis einen Selektionsvorteil hat, vermehrt er sich so stark, dass die einzelnen Schritte nicht mehr unabhängig voneinander getan werden müssen und daher die Wahrscheinlichkeiten nicht mehr multipliziert werden müssen. Dawkins benutzt hier die Parabel vom "Gipfel des Unwahrscheinlichen", den man nicht mit einem Sprung erreichen kann, aber den man bequem auf einem sanft geneigten Weg Schritt für Schritt erreichen kann. Die Höhe (bzw. der Höhenunterschied) stellt dabei die Wahrscheinlichkeit dar (je höher desto unwahrscheinlicher). Der Versuch von unten auf den Gipfel zu springen stellt den Versuch dar, etwas sehr unwahrscheinliches einfach mit Zufall zu erreichen; der sanft geneigte Weg stellt den Weg dar, den die Selektion nimmt.
In der Wissenschaft wird dieser "Gipfel" als Fitness-landschaft oder Fitnessfunktion beschrieben, in der jedem "Genom" eine Überlebenswahrscheinlichkeit zugeordnet wird. Auch hier wird die Funktion in Form von Bergen und Tälern dargestellt, wobei die Berge einen Zustand mit guter Überlebenswahrscheinlichkeit darstellen und die Täler Zustände geringer Überlebenswahrscheinlichkeit.
Was für Beispiele von Selektion findet man in der Natur? Wenn ich mich an meinen Biologieunterricht erinnere (und spätere Lektüre von Sachbüchern), dann gab es folgende Beispiele:
-Insekten auf Inseln, die die Flugfähigkeit verloren hatten, und deswegen vom Wind nichts ins Meer geweht wurden
-Birkenspanner, die ihre Pigmentproduktion nicht mehr regulieren und daher komplett schwarz sind.
-Menschen, deren Hämoglobinmoleküle schlechter funktionieren, um mit Malaria fertig zu werden.
-Bakterien, deren Stoffwechsel schlechter funktioniert, um mit Antibiotika u.ä. fertig zu werden.
Diese kurze Auswahl demonstriert, dass ganz überwiegend besser angepasste Lebewesen nicht komplexer werden sondern meist im Gegenteil Komplexität abbauen.
Was sagen die Labore? Dieser Artikel zeigt, dass es für die Selektion sehr schwer bis unmöglich ist, einen Weg zu einem Gewinn an Komplexität zu finden, der aus nur zwei Schritten besteht, obwohl jeder Schritt einen Selektionsvorteil(!) bietet. Wie das? Es gibt für jeden dieser Schritte konkurrierende Schritte, die jeweils Komplexität abbauen und den weiteren Weg zur Komplexität dann verschließen. Diese vereinfachenden Schritte haben aber einen noch größeren Selektionsvorteil als der jeweilige Schritt zur Komplexität. Deswegen wurde der Schritt zur größeren Komplexität nicht getan. Also auch hier gibt es Anzeichen, dass Komplexität nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit einem Zugewinn an Selektionsvorteil.
Wieso ist das so? Zuerst mal hat noch niemand nachgewiesen, dass er wirklich einen ununterbrochenen Weg von einfachen zu komplexen Formen gibt, der jeweils einen Selektionsvorteil bietet. Bevor das also nachgewiesen ist, kann man diese Idee nicht einfach als Tatsache behandeln.
Forscher tun das trotzdem. Sie nehmen an, dass alle Lebewesen sich durch Selektion aus einfachen Vorfahren entwickelt haben. Wenn das war ist, dann ist es offensichtlich, dass es einen Weg für die Entwicklung geben muss, selbst wenn man ihn heute nicht mehr genau nachvollziehen kann. In dem Augenblick aber, in dem man die Frage stellt: "Konnten sich denn alle Lebensformen so entwickeln?", ist diese Annahme natürlich nicht gerechtfertigt. Diese Frage kann man erst zugunsten der Evolution klären, wenn man in einer sinnvollen Anzahl von Fällen diesen Weg auch wirklich hinreichend detailliert aufgezeigt hat. Wobei eine sinnvolle Anzahl mit Sicherheit mindestens "eins" lauten sollte und sinnvollerweise größer sein sollte.
Können wir damit rechnen, dass es derartige Wege gibt? Für relativ triviale Fälle: ja. Solange die Verbesserungen sich auf ein oder zwei Mutationen beschränkt, kann man entsprechende Wahrscheinlichkeiten abschätzen und das Ergebnis ist: es kann (manchmal) funktionieren. Aber mit ein bis zwei Mutationen kann man kaum komplexere Strukturen erzeugen. Sobald die Anzahl der erforderlichen Mutationen größer wird, stellt sich die Frage nach dem Selektionsvorteil der einzelnen Mutationen. Wenn nicht jeder Schritt einen Vorteil bringt, dann werden die Wahrscheinlichkeiten schnell SEHR klein, dass alle Mutationen stattfinden werden und selektiert werden.
Obwohl es also nach heutigem Stand der Dinge kein derartiges Beispiel gibt, nehmen wir mal an, man würde einen Weg finden, der in Form von einzelnen Mutationen und deren kleinen Selektionsvorteil eine komplexere Struktur entstehen lassen könnte. Wäre damit bewiesen, dass komplexe Strukturen entstehen können? Noch lange nicht. Warum?
Erst einmal besteht das Problem, dass auch Mutationen mit einem geringen Selektionsvorteil mist aussterben, bevor sie als Grundlage weiterer Entwicklung dienen können. Wieso das? Weil in einer stabilen Population jedes Lebewesen im Durchschnitt genau einen Nachkommen hervorbringt. Wer einen Selektionsvorteil von einem Prozent gegenüber dem Durchschnitt hat, wird im Durchschnitt 1,01 Nachkommen haben. Diese Zahl ist aber natürlich eine statistische Größe, d.h. wenn wir schon eine große Zahl derartiger Lebewesen haben, können wir IM DURCHSCHNITT mit 1,01 Nachkommen rechnen. Das einzelne Individuum kann eine Nachkommenzahl von Null, eins, zwei etc. haben, wobei es für jede Anzahl von Nachkommen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gibt. Ich habe mal eine Abschätzung für folgende Werte vorgenommen:
Anz. der Nachkommen
| zugehörige Wahrscheinlichkeit
0 52%
1 20%
2 14%
3 7%
4 4%
5 2%
6 1%
Wenn wir das zusammenrechnen ergibt das durchschnittlich 1,01 Nachkommen. ABER in ca. 80% aller Fälle stirbt die Nachkommenslinie komplett aus trotz des bereits eingerechneten Selektionsvorteils! In 52% aller Fälle stirbt die Mutation bereits in der ersten Generation aus. Andere Wahrscheinlichkeitsverteilungen werden etwas andere Ergebnisse bringen, aber im Prinzip wird sich nichts daran ändern, dass der Großteil (70% .. 90%) der positiven Mutationen ausstirbt. Damit eine Mutation sich verbreiten kann, muss sie entweder einen extremen Selektionsvorteil bieten (was aber die Evolutionstheorie nicht annehmen kann) oder sie muss entsprechend häufig auftreten.
Damit hat sich das Problem aber immer noch nicht erledigt. Unsere positiv selektierte Mutation auf dem Weg zur komplexen Struktur muss sich noch gegen andere positiv selektierte Mutationen durchsetzen, die komplexe Strukturen abbauen, oder die Änderungen hervorrufen, die den Weg zur komplexen Struktur verbauen. Nun ist es offensichtlich, dass es relativ wenige Wege zu einer komplexen Struktur gibt, aber sehr viele Wege zu einer einfachen Struktur. Welche dieser Mutationen wird sich im Endeffekt durchsetzen? Die Selektion hat kein Ziel und "wählt" daher nach dem Zufallsprinzip irgendeine Veränderung aus.
Und hier ergibt sich eine paradoxe Situation: Ziel der Evolution ist es, durch Selektion den Zufall aus der Evolution zu vertreiben. Hier aber findet der Zufall durch eine Hintertür wieder zurück. Dawkins macht wiederholt klar, dass Mutationen nicht zufällig ausgewählt werden und damit hat er recht. Aber er beschreibt nicht, wie die Auswahlfunktion (Fitnessfunktion) aus der Menge der möglichen Fitnessfunktionen ausgesucht wird. Wieso sollte eine Fitnessfunktion bevorzugt werden, die zu komplexen Strukturen führt? Da die Selektion "blind" ist, sollte sie natürlich blind irgendeine Fitnessfunktion schnappen, unabhängig davon, ob sie zu einfacheren oder komplexeren Strukturen führt. Und diese blind gewählte Fitnessfunktion wird dann ganz regelmäßig die entsprechende Mutation bevorzugen, und das sollte in der überwiegenden Anzahl der Fälle eine Mutation sein, die NICHT zu einer komplexen Struktur führt.
Wenn nun selektionspositive Mutationen meistens zu komplexen Strukturen führen, würde das vielleicht noch funktionieren; aber nach unserer Erfahrung (siehe die Beispiel oben) führen die meisten selektionspositiven Mutationen zu einfacheren Strukturen. Wer aber entscheidet, welche von mehreren positiven Mutationen sich durchsetzt? Richtig, es ist die Fitnessfunktion, die die Überlebenswahrscheinlichkeit der einzelnen Lebewesen angibt. Diese Funktion hängt natürlich von einer ganzen Menge zufälliger Einflüsse ab. Es gibt je nach Wetter und anderen Faktoren eine beinahe endlose Zahl möglicher Fitnessfunktionen, die möglicherweise verschiedene Ergebnisse bringen. Und wie wird nun die Fitnessfunktion ausgewählt, die die einzelnen Mutationen selektiert?
Im Endeffekt erfolgt diese Auswahl natürlich zufällig. Und damit haben wir das Problem von der zufälligen Auswahl einer Mutation zur zufälligen Auswahl einer Fitnessfunktion verlagert. Was heißt das? Zufällig ist nicht die die Frage, welches Merkmal selektiert wird, sondern die Frage, welche Fitnessfunktion denn nun die Auswahl des besten Merkmals übernimmt.
Zusammenfassend gibt es also mindestens folgende Hindernisse für die Selektion, komplexe Strukturen zu erzeugen:
1) Es gibt wahrscheinlich keine durchgehend selektionspositiven Wege zu komplexen Strukturen
2) Kleine Selektionsvorteile durch neue Mutationen verschwinden meist von ganz alleine wieder
3a) Die meisten Selektionsvorteile führen nicht zu komplexen Strukturen.
3b) Die "Auswahl" der Fitnessfunktionen erfolgt zufällig, wobei die meisten Fitnessfunktionen nicht zu komplexen Strukturen führen.
Dawkins behauptete, dass Selektion die Entstehung "unwahrscheinlicher Strukturen" wahrscheinlicher machen würde. Damit die Selektion das wirklich kann, müsste sie aber die genannten Punkte irgendwie umgehen können. Dazu schreibt Dawkins aber nichts. Entweder hat er das Problem also nicht erkannt, oder aber er will sich damit nicht beschäftigen. Solange er das aber nicht tut, ist seine Behauptung nicht nur unbewiesen, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass Selektion unwahrscheinliche Strukturen erzeugen kann, ist wahrscheinlich nicht größer als wenn der Zufall alleine sie zustande bringen sollte.
Teil 1 dieser Serie
Im zweiten Teil dieser Serie will ich mich mit dem nächsten grundlegenden Problem von Dawkins' Argument beschäftigen, mit dem er zeigen will, dass es keinen Gott gibt: Dawkins wollte nicht nur zeigen, dass Gott unwahrscheinlicher ist als die zufällige Entstehung von Leben, sondern auch, dass Selektion wahrscheinlicher ist. Im ersten Teil kam ich zu dem Schluss, dass Dawkins' Argument nicht erlaubt zu sagen, wie unwahrscheinlich Gott überhaupt ist. Zum zweiten Teil seines Argumentes schreibt er auf Seite 168 des Buches "der Gotteswahn":
Wie kommt es, dass die natürliche Selektion das Problem der Unwahrscheinlichkeit lösen kann, während Zufall und und Gestaltung von vornherein zum Scheitern verurteilt sind? Die Antwort lautet: Natürliche Selektion ist ein additiver Prozess, der das Problem der Unwahrscheinlichkeit in viele kleine Teile zerlegt. Jedes dieser Teile ist zwar immer noch ein wenig unwahrscheinlich, aber nicht so sehr, dass sich ein echtes Hindernis ergeben würde. Folgen vieler solcher mäßig unwahrscheinlichen Ereignisse in einer Reihe aufeinander, so ist das Endprodukt der Anhäufung tatsächlich so unwahrscheinlich, dass es weit außerhalb der Reichweite des Zufalls liegt. [...] Die Leistung der Akkumulation begreift [der Kreationist] nicht.Dann bleibt mir also nichts übrig, als zu sehen, was die Akkumulation leistet und ob sie wirklich so gut ist wie Dawkins behauptet.
Das Problem
Woher weiß aber Dawkins (oder überhaupt irgend jemand), dass unwahrscheinliche Strukturen durch Selektion wahrscheinlicher entstehen als durch Zufall? Weil jeder einzelne Schritt relativ wahrscheinlich ist. Hier gibt es aber nun mehrere Probleme:Wenn ich ein sehr unwahrscheinliches Ereignis in viele kleine Schritte zerteile (wie Dawkins sagt), die eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit haben, ändert sich dadurch erst mal nichts an der Gesamtwahrscheinlichkeit. Denn die relativ hohen Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Schritte muss man multiplizieren, um die Gesamtwahrscheinlichkeit zu erhalten. Wenn ich z.B. ein Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit 10-6 in 20 Schritte mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% zerteile, dann ist jeder Schritt relativ wahrscheinlich (nämlich 50%), aber die Wahrscheinlichkeit, dass alle 20 Ereignisse eintreffen, beträgt trotzdem nur
0,520 = 10-6
Wenn also die Selektion nichts weiter täte, als ein unwahrscheinliches Ereignis in kleine Schritte zu teilen, dann würde sie nicht helfen. Sie muss vielmehr die einzelnen Schritte wahrscheinlicher machen als sie es ohne Selektion wären.
Wie kann das gehen? Dadurch, dass jeder Schritt hin zu dem komplexen Ergebnis einen Selektionsvorteil hat, vermehrt er sich so stark, dass die einzelnen Schritte nicht mehr unabhängig voneinander getan werden müssen und daher die Wahrscheinlichkeiten nicht mehr multipliziert werden müssen. Dawkins benutzt hier die Parabel vom "Gipfel des Unwahrscheinlichen", den man nicht mit einem Sprung erreichen kann, aber den man bequem auf einem sanft geneigten Weg Schritt für Schritt erreichen kann. Die Höhe (bzw. der Höhenunterschied) stellt dabei die Wahrscheinlichkeit dar (je höher desto unwahrscheinlicher). Der Versuch von unten auf den Gipfel zu springen stellt den Versuch dar, etwas sehr unwahrscheinliches einfach mit Zufall zu erreichen; der sanft geneigte Weg stellt den Weg dar, den die Selektion nimmt.
In der Wissenschaft wird dieser "Gipfel" als Fitness-landschaft oder Fitnessfunktion beschrieben, in der jedem "Genom" eine Überlebenswahrscheinlichkeit zugeordnet wird. Auch hier wird die Funktion in Form von Bergen und Tälern dargestellt, wobei die Berge einen Zustand mit guter Überlebenswahrscheinlichkeit darstellen und die Täler Zustände geringer Überlebenswahrscheinlichkeit.
Geht das denn?
Die erste Frage, die ich mit stelle: Bedeutet denn "besser angepasst" unbedingt "komplexer"? Wenn das nicht so wäre, dann würde der "sanft ansteigende Weg" der Selektion nämlich nicht zu den komplexen Formen führen, die wir in der Natur finden, sondern zu einfachen sehr spezialisierten Formen. Dawkins' Parabel vom Gipfel des Unwahrscheinlichen würde dann einfach zwei Begriffe verwechseln, die nichts miteinander zu tun haben: Komplexität und Angepasstheit. Wie kann man nun herausfinden, ob "der Gipfel des Unwahrscheinlichen" nun unwahrscheinlich und angepasst oder nur eins von beiden ist? Man kann zum einen nachschauen, was beobachtete Beispiele von Selektion denn so tun. Man kann daneben aber noch andere Dinge prüfen: Was ergibt sich z.B. in Laborversuchen zum Thema Selektion? Und gibt es ein paar theoretische Überlegungen, die die Frage beantworten oder zumindest eine Antwort nahe legen? Schauen wir mal:Was für Beispiele von Selektion findet man in der Natur? Wenn ich mich an meinen Biologieunterricht erinnere (und spätere Lektüre von Sachbüchern), dann gab es folgende Beispiele:
-Insekten auf Inseln, die die Flugfähigkeit verloren hatten, und deswegen vom Wind nichts ins Meer geweht wurden
-Birkenspanner, die ihre Pigmentproduktion nicht mehr regulieren und daher komplett schwarz sind.
-Menschen, deren Hämoglobinmoleküle schlechter funktionieren, um mit Malaria fertig zu werden.
-Bakterien, deren Stoffwechsel schlechter funktioniert, um mit Antibiotika u.ä. fertig zu werden.
Diese kurze Auswahl demonstriert, dass ganz überwiegend besser angepasste Lebewesen nicht komplexer werden sondern meist im Gegenteil Komplexität abbauen.
Was sagen die Labore? Dieser Artikel zeigt, dass es für die Selektion sehr schwer bis unmöglich ist, einen Weg zu einem Gewinn an Komplexität zu finden, der aus nur zwei Schritten besteht, obwohl jeder Schritt einen Selektionsvorteil(!) bietet. Wie das? Es gibt für jeden dieser Schritte konkurrierende Schritte, die jeweils Komplexität abbauen und den weiteren Weg zur Komplexität dann verschließen. Diese vereinfachenden Schritte haben aber einen noch größeren Selektionsvorteil als der jeweilige Schritt zur Komplexität. Deswegen wurde der Schritt zur größeren Komplexität nicht getan. Also auch hier gibt es Anzeichen, dass Komplexität nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit einem Zugewinn an Selektionsvorteil.
Wieso ist das so? Zuerst mal hat noch niemand nachgewiesen, dass er wirklich einen ununterbrochenen Weg von einfachen zu komplexen Formen gibt, der jeweils einen Selektionsvorteil bietet. Bevor das also nachgewiesen ist, kann man diese Idee nicht einfach als Tatsache behandeln.
Forscher tun das trotzdem. Sie nehmen an, dass alle Lebewesen sich durch Selektion aus einfachen Vorfahren entwickelt haben. Wenn das war ist, dann ist es offensichtlich, dass es einen Weg für die Entwicklung geben muss, selbst wenn man ihn heute nicht mehr genau nachvollziehen kann. In dem Augenblick aber, in dem man die Frage stellt: "Konnten sich denn alle Lebensformen so entwickeln?", ist diese Annahme natürlich nicht gerechtfertigt. Diese Frage kann man erst zugunsten der Evolution klären, wenn man in einer sinnvollen Anzahl von Fällen diesen Weg auch wirklich hinreichend detailliert aufgezeigt hat. Wobei eine sinnvolle Anzahl mit Sicherheit mindestens "eins" lauten sollte und sinnvollerweise größer sein sollte.
Können wir damit rechnen, dass es derartige Wege gibt? Für relativ triviale Fälle: ja. Solange die Verbesserungen sich auf ein oder zwei Mutationen beschränkt, kann man entsprechende Wahrscheinlichkeiten abschätzen und das Ergebnis ist: es kann (manchmal) funktionieren. Aber mit ein bis zwei Mutationen kann man kaum komplexere Strukturen erzeugen. Sobald die Anzahl der erforderlichen Mutationen größer wird, stellt sich die Frage nach dem Selektionsvorteil der einzelnen Mutationen. Wenn nicht jeder Schritt einen Vorteil bringt, dann werden die Wahrscheinlichkeiten schnell SEHR klein, dass alle Mutationen stattfinden werden und selektiert werden.
Obwohl es also nach heutigem Stand der Dinge kein derartiges Beispiel gibt, nehmen wir mal an, man würde einen Weg finden, der in Form von einzelnen Mutationen und deren kleinen Selektionsvorteil eine komplexere Struktur entstehen lassen könnte. Wäre damit bewiesen, dass komplexe Strukturen entstehen können? Noch lange nicht. Warum?
Erst einmal besteht das Problem, dass auch Mutationen mit einem geringen Selektionsvorteil mist aussterben, bevor sie als Grundlage weiterer Entwicklung dienen können. Wieso das? Weil in einer stabilen Population jedes Lebewesen im Durchschnitt genau einen Nachkommen hervorbringt. Wer einen Selektionsvorteil von einem Prozent gegenüber dem Durchschnitt hat, wird im Durchschnitt 1,01 Nachkommen haben. Diese Zahl ist aber natürlich eine statistische Größe, d.h. wenn wir schon eine große Zahl derartiger Lebewesen haben, können wir IM DURCHSCHNITT mit 1,01 Nachkommen rechnen. Das einzelne Individuum kann eine Nachkommenzahl von Null, eins, zwei etc. haben, wobei es für jede Anzahl von Nachkommen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gibt. Ich habe mal eine Abschätzung für folgende Werte vorgenommen:
Anz. der Nachkommen
| zugehörige Wahrscheinlichkeit
0 52%
1 20%
2 14%
3 7%
4 4%
5 2%
6 1%
Wenn wir das zusammenrechnen ergibt das durchschnittlich 1,01 Nachkommen. ABER in ca. 80% aller Fälle stirbt die Nachkommenslinie komplett aus trotz des bereits eingerechneten Selektionsvorteils! In 52% aller Fälle stirbt die Mutation bereits in der ersten Generation aus. Andere Wahrscheinlichkeitsverteilungen werden etwas andere Ergebnisse bringen, aber im Prinzip wird sich nichts daran ändern, dass der Großteil (70% .. 90%) der positiven Mutationen ausstirbt. Damit eine Mutation sich verbreiten kann, muss sie entweder einen extremen Selektionsvorteil bieten (was aber die Evolutionstheorie nicht annehmen kann) oder sie muss entsprechend häufig auftreten.
Damit hat sich das Problem aber immer noch nicht erledigt. Unsere positiv selektierte Mutation auf dem Weg zur komplexen Struktur muss sich noch gegen andere positiv selektierte Mutationen durchsetzen, die komplexe Strukturen abbauen, oder die Änderungen hervorrufen, die den Weg zur komplexen Struktur verbauen. Nun ist es offensichtlich, dass es relativ wenige Wege zu einer komplexen Struktur gibt, aber sehr viele Wege zu einer einfachen Struktur. Welche dieser Mutationen wird sich im Endeffekt durchsetzen? Die Selektion hat kein Ziel und "wählt" daher nach dem Zufallsprinzip irgendeine Veränderung aus.
Und hier ergibt sich eine paradoxe Situation: Ziel der Evolution ist es, durch Selektion den Zufall aus der Evolution zu vertreiben. Hier aber findet der Zufall durch eine Hintertür wieder zurück. Dawkins macht wiederholt klar, dass Mutationen nicht zufällig ausgewählt werden und damit hat er recht. Aber er beschreibt nicht, wie die Auswahlfunktion (Fitnessfunktion) aus der Menge der möglichen Fitnessfunktionen ausgesucht wird. Wieso sollte eine Fitnessfunktion bevorzugt werden, die zu komplexen Strukturen führt? Da die Selektion "blind" ist, sollte sie natürlich blind irgendeine Fitnessfunktion schnappen, unabhängig davon, ob sie zu einfacheren oder komplexeren Strukturen führt. Und diese blind gewählte Fitnessfunktion wird dann ganz regelmäßig die entsprechende Mutation bevorzugen, und das sollte in der überwiegenden Anzahl der Fälle eine Mutation sein, die NICHT zu einer komplexen Struktur führt.
Wenn nun selektionspositive Mutationen meistens zu komplexen Strukturen führen, würde das vielleicht noch funktionieren; aber nach unserer Erfahrung (siehe die Beispiel oben) führen die meisten selektionspositiven Mutationen zu einfacheren Strukturen. Wer aber entscheidet, welche von mehreren positiven Mutationen sich durchsetzt? Richtig, es ist die Fitnessfunktion, die die Überlebenswahrscheinlichkeit der einzelnen Lebewesen angibt. Diese Funktion hängt natürlich von einer ganzen Menge zufälliger Einflüsse ab. Es gibt je nach Wetter und anderen Faktoren eine beinahe endlose Zahl möglicher Fitnessfunktionen, die möglicherweise verschiedene Ergebnisse bringen. Und wie wird nun die Fitnessfunktion ausgewählt, die die einzelnen Mutationen selektiert?
Im Endeffekt erfolgt diese Auswahl natürlich zufällig. Und damit haben wir das Problem von der zufälligen Auswahl einer Mutation zur zufälligen Auswahl einer Fitnessfunktion verlagert. Was heißt das? Zufällig ist nicht die die Frage, welches Merkmal selektiert wird, sondern die Frage, welche Fitnessfunktion denn nun die Auswahl des besten Merkmals übernimmt.
Zusammenfassend gibt es also mindestens folgende Hindernisse für die Selektion, komplexe Strukturen zu erzeugen:
1) Es gibt wahrscheinlich keine durchgehend selektionspositiven Wege zu komplexen Strukturen
2) Kleine Selektionsvorteile durch neue Mutationen verschwinden meist von ganz alleine wieder
3a) Die meisten Selektionsvorteile führen nicht zu komplexen Strukturen.
3b) Die "Auswahl" der Fitnessfunktionen erfolgt zufällig, wobei die meisten Fitnessfunktionen nicht zu komplexen Strukturen führen.
Dawkins behauptete, dass Selektion die Entstehung "unwahrscheinlicher Strukturen" wahrscheinlicher machen würde. Damit die Selektion das wirklich kann, müsste sie aber die genannten Punkte irgendwie umgehen können. Dazu schreibt Dawkins aber nichts. Entweder hat er das Problem also nicht erkannt, oder aber er will sich damit nicht beschäftigen. Solange er das aber nicht tut, ist seine Behauptung nicht nur unbewiesen, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass Selektion unwahrscheinliche Strukturen erzeugen kann, ist wahrscheinlich nicht größer als wenn der Zufall alleine sie zustande bringen sollte.
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