Dienstag, 18. Januar 2011
Reicht die Bibel allein?
Oder sollen Zeugen Jehovas in Wirklichkeit gar nicht alleine die Bibel lesen?
Letztes Jahr hatte ich bereits eine ähnliche Frage besprochen; diesmal will ich meinen Senf zu den Worten dieses freundlichen Mitmenschen absondern. Er schreibt:
Es ist immer wichtig, sich anhand der Bibel zu vergewissern, ob das, was andere mir als biblische Lehre anbieten, tatsächlich biblisch begründet ist. [...]Ich fände es schön, wenn auch die Zeugen Jehovas den Mut hätten, selbst in der Bibel nachzuforschen, ob ihre eigene Lehre auch tatsächlich der Bibel entspricht, oder ob sie sich vielleicht in einzelnen Punkten von der Bibel korrigieren lassen müßten.

In der Praxis scheint die Bereitschaft hierzu aber gering zu sein. [...]

Es werden nur Menschen, die noch nicht Zeugen Jehovas geworden sind, dazu aufgefordert, ihre eigene Religion anhand der Bibel zu prüfen. Wer meint, die Bibel allein genüge, der wird als Abtrünniger abgestempelt, ja sogar mit dem Teufel verglichen: Ein Beispiel: (WT 15.11.1981, Seite 28, Absatz 14)

Hin und wieder stehen unter dem Volke Jehovas Personen auf, die wie Satan eine unabhängige, kritische Haltung einnehmen. Sie wollen nicht "Schulter an Schulter" mit der weltweiten Bruderschaft dienen. (Vergleiche Epheser 2:19 bis 22.) Sie bieten dem Wort Jehovas eher eine "störrische Schulter" (Sach. 7:11, 12). Diese Hochmütigen versuchen, die "Schafe" von der einen internationalen "Herde", die Jesus auf der Erde eingesammelt hat, wegzuziehen, indem sie das Muster der "reinen Sprache", die Jehova in den vergangenen 100 Jahren auf so gütige Weise seinem Volk gelehrt hat, verunglimpfen (Joh. 10:7-10, 16). Sie versuchen, Zweifel zu säen und Arglose von dem reichlich mit geistiger Speise gedeckten "Tisch" im Königreichssaal der Zeugen Jehovas, wo wirklich "nichts mangelt", wegzuführen (Ps. 23:1-6). Sie sagen, es genüge, nur die Bibel zu lesen, entweder allein oder in kleineren Gruppen zu Hause. Aber seltsamerweise haben sie sich aufgrund dieses "Lesens der Bibel" Irrlehren zugewandt, die Geistliche der Christenheit vor 100 Jahren in ihren Kommentaren vertraten, und einige feiern sogar wieder Feste der Christenheit, z.B. den 25. Dezember, an dem die Römer die Saturnalien feierten. Jesus und seine Apostel warnten vor diesen Abtrünnigen (Matth. 24:11-13; Apg. 20:28-30; 2. Petr. 2:1,22).

Dieser Text enthält ein interessantes Eingeständnis. Er redet von Menschen, die Zeugen Jehovas waren, und die dann angefangen haben, selbst die Bibel zu lesen, ohne sich die Auslegung der Bibel vom Wachtturm vorgeben zu lassen. Wer dies tut, steht also in der Gefahr zu entdecken, daß in der Bibel manches anders steht als im Wachtturm.

Das deutet doch eher darauf hin, daß mit den Lehren des Wachtturms einiges im Argen liegt. Oder warum muß es der Wachtturm fürchten, wenn nur die Bibel allein gelesen wird?
Muss ich um meinen Glauben fürchten, wenn ich die Bibel alleine ohne Wachturm lese? Angesichts dessen, dass Zeugen Jehovas quasi jede Woche aufs neue daran erinnert werden, die Bibel selbstständig zu lesen und dann selbstständig über das gelesene nachzudenken, ist es wahrscheinlicher, dass der Autor dieser Zeilen etwas nicht verstanden hat.

Enthält der zitierte Wachtturm das "Eingeständnis", dass wer die Bibel ohne Wachtturm liest, dann erkennt, dass die Bibel etwas anderes lehrt als der Wachtturm? Schauen wir mal genau hin: "Lesen der Bibel" ist nicht umsonst in Anführungszeichen geschrieben, da (in leicht sarkastischem Ton) angedeutet wird, dass die entsprechenden Leute zwar behaupten, ausschließlich die Bibel zu lesen, aber in Wirklichkeit die Lehren anderer Kirchen oder religiöser Lehrer übernehmen, die sie entweder aus Kommentaren oder auf anderem Wege aufnehmen. Das Problem besteht also gerade nicht darin, dass sie die Bibel selbstständig lesen, sondern, dass sie unkritisch offensichtlich falsche Meinungen darüber übernehmen, was die Bibel lehrt. Wer so etwas tut und dann behauptet, nur die Bibel zu lesen, der betrügt entweder sich selbst oder andere, die ihm zuhören.

Es ist vollständig gerechtfertigt, vor Menschen zu warnen, die auf diese Weise versuchen, andere zu betrügen. Wer die Bibel liest, ohne einen Wachtturm dazu in die Hand zu nehmen, der wird eben nicht als Abtrünniger bezeichnet oder mit dem Teufel verglichen, sondern der, der versucht andere darüber zu täuschen, wo seine Lehren herstammen.

Leider hat unser lieber Mitmensch dies nicht mitgekriegt und versteht daher das gesamte Zitat falsch. Zeugen Jehovas werden dazu ermuntert, die Bibel zu lesen, ohne dabei unkritisch die Meinung anderer zu übernehmen. Die Mehrheit der Zeugen Jehovas tut das auch und ist daher aufgrund eigenen Nachdenkens überzeugt, dass ihre Glaubenslehren genau der Bibel entsprechen. Die meisten tun dies Tag für Tag.

Da unser lieber Mitmensch diesen Punkt falsch versteht, missversteht er dann auch die Äußerungen von Zeugen Jehovas, die meinen, sie hätten bereits ihre Glaubenslehre mit der Bibel verglichen. Es überrascht mich nicht, dass er keinerlei Verständnis für diese Haltung aufbringen kann, da er die zugrunde liegenden Überlegungen offensichtlich nicht mitkriegt.

Ich persönlich kann sagen, dass ich sehr gerne auch einmal die Bibel ohne "Wachtturm in der Hand" lese. Es überrascht mich nicht mehr, dass ich dabei fast immer zu ziemlich genau den gleichen Schlussfolgerungen gelange, die ich auch im Wachtturm nachlesen kann.

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