Donnerstag, 27. Januar 2011
Befragung und Vorurteil
Wie bereits hier und hier (und hier) berichtet, hat die Regierung von Baden-Württemberg aufgrund eines Gutachtens die Anerkennung von Zeugen Jehovas als K.d.ö.R. abgelehnt. Damit ist sie zu einem anderen Ergebnis gekommen als zwölf andere Bundesländer, die Zeugen Jehovas anerkannt haben und alle (rechtskräftigen) Gerichtsurteile, die mit dem Fall befasst waren. Was hat Mappus & Co. zu ihrer Meinung gebracht? Während wir alle mit angehaltenem Atem abwarten, welche "Erkenntnisse" das "Gutachten" der Regierung bringen wird, wenn es denn mal veröffentlicht wird, will ich mir den Kopf darüber zerbrechen, wie die "Erkenntnisse" zustande kamen (die einzelnen Äußerungen kann man in den o.g. Links nachverfolgen, ich spare mir die Mühe, für jede Aussage einen gesonderten Link anzugeben):
Justizminister Goll verwies lediglich auf die Ergebnisses eines Gutachtens, für welches zahlreiche Gespräche mit Aussteigern geführt worden seien.

Natürlich steht es den Behörden frei, derartige Befragungen durchzuführen. Allerdings hätten sie dann auch tun müssen, was u.a. das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil erklärte:
Das Oberverwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgehoben, der Vortrag des Beklagten lasse im Weiteren die Frage offen, ob die von ihm vorgelegten Berichte die hinreichend sichere Einschätzung erlaubten, dass die geschilderten Erfahrungen Einzelner über den Einzelfall hinaus auf ein Verhalten schließen ließen, das den verbindlichen Vorgaben der Klägerin entspreche.
Ich will versuchen, das so zu übersetzen, dass ich das als Nicht-Anwalt auch verstehen kann: All die Leute, die von den BaWü-Behörden zu Zeugen Jehovas interviewt wurden, wurden nicht als "Experten", sondern als Zeugen angehört. Sie sollten oder wollten dazu etwas sagen, was Zeugen Jehovas tun und lassen.  Hierzu konnten sie erzählen, was sie persönlich erlebt haben.

Entsprechend der Aussage des Gerichts muss dann aber geprüft werden, was die Aussagen überhaupt mit dem Fall zu tun haben. Ein Beispiel: eine Aussage des "Gutachtens" aus BaWÜ lautet, dass Zeugen Jehovas sich häufig von ihrem Partner scheiden lassen, wenn er ausgeschlossen wird. Liegt das nun daran, dass die Religionsgemeinschaft die Mitglieder zur Scheidung drängt? Oder möglicherweise  daran, dass häufig Menschen ausgeschlossen werden, die ihren Partner verlassen und sich einen anderen suchen? Im zweiten Fall wäre die Scheidung wohl kaum die Schuld der Religionsgemeinschaft. Wenn aber das "Gutachten" anstelle solch einer Untersuchung die Feststellung enthalten sollte, dass die Scheidungen möglicherweise auf die Religion zurückzuführen seien, ohne dass dies im Einzelfall nachgeprüft wurde, dann ist diese Feststellung einfach Spekulation und damit als Entscheidungsgrundlage ungeeignet. Die Frage kann aber nicht beantwortet werden ohne dass der andere Partner (der noch Zeuge Jehovas ist) befragt wird. Wenn ich wetten würde, würde ich darauf setzen, dass der "Gutachter" dies nicht getan hat.

Nach den Presseberichten sieht es so aus, dass ein weiterer Vorwurf lautet, dass Ausgeschlossene keinen oder weniger Kontakt zu Familie und Freunden haben, die weiter Zeugen Jehovas sind. An dieser Stelle müssten mehrere Dinge geprüft werden: Nach den vorliegenden Gerichtsentscheiden ist nur der Kontakt zur unmittelbaren Familie (Eltern und Kinder) überhaupt entscheidungsrelevant. Weiterhin muss die Frage beantwortet werden, warum genau diese Eltern den Kontakt mit ihren Kindern (oder umgekehrt) einschränken und wie weit sie es tun. Gibt es eine Anweisung der Religionsgemeinschaft, oder entscheiden die jeweiligen Personen dies selber? Wenn sie es selber entscheiden, wie weit kann man das dann der  Religionsgemeinschaft anlasten? Dürfen Eltern entscheiden, dass sie mit ihren (erwachsenen) Kindern den Umgang einschränken, oder gibt es eine gesetzliche Verpflichtung zu einem guten Verhältnis? Kann es sein, dass die Angehörigen, die Zeugen Jehovas sind, verbale Angriffe auf ihren Glauben leid sind und daher den Umgang einschränken oder die Lebensführung der Ausgeschlossenene soweit missbilligen, dass sie mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollen, oder dass sie sich aus anderen Gründen miteinander verkracht haben? Anders gesagt, haben sie legitime Gründe, den Umgang einzuschränken?

Alle diese Fragen kann man nur klären, wenn man genau die Personen befragt, die den Umgang mit Ausgeschlossenen eingeschränkt haben. Es gibt aber kein Anzeichen dafür, dass dies geschehen ist. Daher kann das "Gutachten" auch hier nur Spekulationen darüber enthalten,  warum genau diese Zeugen Jehovas den Umgang einschränken und inwieweit diese Gründe auf Anweisungen oder Ratschläge der Religionsgemeinschaft zurückgeführt werden können. Eine weitere Frage besteht darin, wo die Grenze liegt, ab der das den Staat überhaupt zu interessieren hat. Ist ein Zeuge Jehovas verpflichtet, mit ausgeschlossenen Angehörigen z.B. über religiöse Fragen zu diskutieren? Hat das "Gutachten" diese Frage überhaupt gestellt oder wird einfach jedes Gefühl der Benachteiligung seitens eines Ausgeschlossenen als Beweis für Fehlverhalten der Zeugen Jehovas gerechnet? Ich denke, dass das "Gutachten" all diesen Fragen ausgewichen ist, ansonsten wäre die Haltung der Regierung von BaWü mit Sicherheit wesentlich offensiver.

Eine weitere Frage betrifft das "Wahlverbot". Das BVerfG hat hierzu festgestellt, dass keine Wahlpflicht besteht. Wahlenthaltung kann daher nur zu Ablehnung einer Religionsgemeinschaft führen, wenn sie Teil eines Versuchs ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu stürzen. Aber ich gleube nicht, dass das "Gutachten" einen derartigen Nachweis führt.

Natürlich besteht auch das Recht zur Wahl einer Behandlungsmethode. Daher ist die Ablehnung von Bluttransfusionen  das gute Recht jedes Zeugen Jehovas und aller anderen Menschen, die keine haben wollen. Die Religionsgemeinschaft würde nur dann gegen das Recht handeln, wenn sie einzelne Personen zwingen würde, gegen ihren Willen eine Transfusion abzulehnen. Ich wäre überrescht, wenn das "Gutachten" ernste Hinweise auf ein derartiges Verhalten enthält. Es würde zu allermindest dazu gehören, die Personen zu befragen, die angeblich gezwungen wurden und diejenigen, die angeblich andere zwangen. Es gibt auch hier kein Anzeichen, dass dies geschehen ist. Die zuständigen Gerichte haben auch festgestellt, dass niemand gegen seine eigene Überzeugung dazu gezwungen ist, eine Zustimmung zur Bluttransfusion für andere zu geben. Es ist dann Sache des Arztes zu entscheiden, ob die Transfusion wirklich benötigt wird und dann die Zustimmung von einem Richter geben zu lassen anstatt sie von den Eltern zu erhalten. Auch hier gibt es keinen Hinweis darauf, dass das "Gutachten" etwas anderes enthält als das eben beschriebene.

Ansonsten sollen Zeugen Jehovas zu Straftaten "ermuntern". Ich bin gespannt, wie das bewiesen werden soll. Wahrscheinlich mit anonymen Vorwürfen aus dem Internet. Und wenn es da steht, muss es ja stimmen. </sarkasmus>

Meine Vermutung: das Gutachten listet alle bisher verbreiteten Vorwürfe gegen Zeugen Jehovas auf, die Meinung von Einzelpersonen, die sagen: "ja, das ist so!" und schließt dann: "wenn diese Leute Recht haben, dann dürfen Zeugen Jehovas nicht als K.d.ö.R. anerkannt werden.". Die Frage, ob "diese Leute" denn Recht haben mit ihren Behauptungen und ob das für eine Anerkennung überhaupt relevant ist bzw. ob die Aussagen nicht im wesentlich bloß subjektive Eindrücke anstelle von Fakten enthalten, wird -wenn überhaupt- gestellt, dann auf keinen Fall beantwortet. Und so wird die Regierung von BaWü einen Rechtsstreit ohne sinnvolle Argumente beginnen.

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