Freitag, 29. April 2011
apostatische Legasthenie: ein Fallbeispiel
hgp, 09:26h
Ein vernünftiger Grundsatz für konstruktives Argumentieren lautet: "Führe nicht auf Bösartigkeit zurück, was man auch anders erklären kann". Dieser Grundsatz kann einem helfen, in Internetforen und ähnlichen Plätzen nicht selber den Verstand und den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Wenn z.B. jemand dein Argument völlig falsch versteht, besteht beim Durchschnittsmenschen die Neigung zu sagen: das hat er gemacht, weil er lügt/mich fertigmachen will/ noch etwas böseres. Unser Grundsatz hilft uns aber in einer derartigen Situation, erst einmal andere Möglichkeiten zu untersuchen, wie z.B.: das hat er gesagt, weil er zu blöd ist/ mein Argument ihm zu hoch ist/ er allgemein inkompetent ist (oder möglicherweise andere Formen des Missverständnisses).
Der Grundsatz hilft uns also zu vermeiden, anderen schlechte Beweggründe zu unterstellen, wenn es ausreicht, ihre allgemeine Beschränktheit als Ursache für ihr Verhalten anzunehmen. Wir wollen einmal ein Fallbeispiel aus der Realität betrachten: Gestern stieß ich auf den Bericht des Bremer Rechtsausschusses, der sich mit der Rechtstreue der Zeugen Jehovas beschäftigte und zu wenig schmeichelhaften Ergebnissen kam. Ein wesentlicher Punkt der Argumentation bestand in den "Erkenntnissen" von Ex-Zeugen Jehovas, die schilderten, wie es bei Zeugen Jehovas "wirklich" zugeht.
Einer dieser Ex-Zeugen zeigte anhand unserer Literatur, welche Einstellung zur Kindererziehung wir so (angeblich) hätten. Der entsprechende Abschnitt im Bericht auf Seite 20,21 lautet (Hervorhebungen von mir):
Wieso also die abartige Schlussfolgerung, dass Zeugen Jehovas ihre eigene Kindererziehung automatisch mit dem Strafrecht der frühen Eisenzeit gleichsetzen? Die bösartige Erklärung wäre, dass Herr K. bewusst gelogen hat, um Zeugen Jehovas schlecht darzustellen. Er hätte einfach einen Satz aus dem Zusammenhang gerissen, um Zeugen Jehovas zu unterstellen, dass sie sich nicht an das Gesetz halten wollen. Aber die wollen wir ja erst einmal zurücksetzen und sehen, ob es nicht eine andere gibt.
Angesichts dessen, dass er nicht alleine mit diesem Problem dasteht, könnte man natürlich über eine weniger böse Ursache spekulieren: könnte es sein, dass Herr K. und seine Mitstreiter einem Zwang folgen, Zitate aus ihrem Zusammenhang zu reißen und in einem komplett anderen Zusammenhang wiederzugeben? Ich will dieses Phänomen daher mit dem Namen "apostatische Legasthenie" bezeichnen. Das würde erklären, dass die Betroffenen die Zeugen Jehovas verlassen haben: wer ständig tut, was Herr K. hier machte, der muss schnell den Eindruck gewinnen, dass alles, was er liest, grotesk ist. Wer als Zeuge Jehovas nicht in der Lage ist, die (zugegebenerweise höchst anspruchsvolle) Leistung zu vollbringen, einen gelesenen Satz im Kontext des dargebotenen Artikels zu verstehen, sondern ihn in einen völlig anderen Kontext stellt, der gewinnt natürlich, den Eindruck, dass die Schriften der Zeugen Jehovas seltsam sind.3
Das wäre natürlich eine private Tragödie der Betroffenen. Allerdings scheint es so, dass der Zwang sich dann auch darin ausdrückt, die eigenen Missverständnisse als Fakten über andere öffentlich zu verkünden. Damit wird das natürlich auch ein Problem derjenigen, über die geredet wird, in unserem Fall der Zeugen Jehovas.
Im vorliegenden Beispiel trifft dann der Zwang der Ex-Zeugen mit einem zwanghaften Verhalten von Politikern zusammen, dass sie davon abhält wahrzunehmen, was eigentlich los ist. Auf Seite 22 erklärt der Rechtsausschuss selber, dass der Vertreter der Zeugen Jehovas ihn darauf hinwies, dass die benutzte Form des Zitierens nicht sinnvoll ist. (Das Zitieren aus Schriften der Zeugen Jehovas sei nicht geeignet, ein objektives Bild der Religionsgemeinschaft zu zeichnen.)
Der Rechtsausschuss kam trotzdem auf Seite 31 und 33 des Berichts zum Ergebnis:
Im Endeffekt kenne ich weder Herrn K. noch den Bremer Rechtsausschuss gut genug, um sagen zu könne, ob sie mit Absicht so vorgehen oder wirklich den angedeuteten Zwängen unterliegen.2
1 Wie die Elberfelder Übersetzung hier herein gekommen ist, kann ich nicht erklären. Im Einsichtenbuch wurde sie hier nicht erwähnt. Möglicherweise deshalb, weil die Aussage in der EB "reißerischer" klingt als im eigentlichen Zitat und besser geeignet ist Vorurteile zu erzeugen. Möglicherweise aus diesem Grund wurde auch aus dem Zitat der Hinweis entfernt, dass es sich im wesentlichen um einen Bibeltext und nicht um einen Ratschlag der Religionsgemeinschaft handelt.
2 Sollte ich einige "Sarkasmus"-Tags im Artikel vergessen haben, so bitte ich um Entschuldigung.
3 In anderen Fällen hat dieses Phänomen anscheinend dazu geführt, dass Artikel aus den sechziger und siebziger Jahren (die ausnahmsweise wirklich etwas mit Kindererziehung zu tun hatten) im Kontext eines Gesetzes aus den neunziger Jahren gelesen wurden. Natürlich werden derartige Vergleiche bei anderen Religionsgemeinschaften wie z.B. der evangelischen und katholischen Kirche nicht gezogen.
Der Grundsatz hilft uns also zu vermeiden, anderen schlechte Beweggründe zu unterstellen, wenn es ausreicht, ihre allgemeine Beschränktheit als Ursache für ihr Verhalten anzunehmen. Wir wollen einmal ein Fallbeispiel aus der Realität betrachten: Gestern stieß ich auf den Bericht des Bremer Rechtsausschusses, der sich mit der Rechtstreue der Zeugen Jehovas beschäftigte und zu wenig schmeichelhaften Ergebnissen kam. Ein wesentlicher Punkt der Argumentation bestand in den "Erkenntnissen" von Ex-Zeugen Jehovas, die schilderten, wie es bei Zeugen Jehovas "wirklich" zugeht.
Einer dieser Ex-Zeugen zeigte anhand unserer Literatur, welche Einstellung zur Kindererziehung wir so (angeblich) hätten. Der entsprechende Abschnitt im Bericht auf Seite 20,21 lautet (Hervorhebungen von mir):
Zur Frage der Züchtigung und des Kindesmissbrauches äußerten sich die Vertreter der Aussteigerorganisationen eingehend. So zitierte Siegfried Koloschin aus dem Einsichtenbuch der Wachtturm-Gesellschaft, der Elberfelder Bibel: „Blutige Striemen läutern den Bösen und Schläge die Kammern des Leibes“. Zu diesen Aussagen der Elberfelder Bibel erläutere das Lexikon: „In der Heiligen Schrift wird wiederholt betont, wie nützlich Schläge als Strafmittel seien können.“ Das bedeute, die Züchtigung habe so zu erfolgen, dass sich der Gezüchtigte bessere. Der konkrete Text der Erläuterung laute: „Quetschwunden sind es, die das Schlechte wegscheuern und Schläge die innersten Teile des Leibes. Der Gezüchtigte sollte erkennen, dass er töricht gehandelt hatte und dass er sich ändern sollte. Wer wirklich weise ist, lässt sich mit Worten zurechtweisen, sodass es nicht nötig sein wird, ihn zu schlagen.“ Hieraus sei zweifelsfrei zu erkennen, dass die Züchtigung des Kindes durch Gewalt und Schläge dem Glaubensgrundsatz der Jehovas Zeugen entspreche.Und an dieser Stelle muss ich die Frage stellen: warum beschuldigt Herr K. Zeugen Jehovas in dieser Weise? Er kann es offensichtlich nicht deswegen, was er gelesen hat. Da das Zitat halbwegs korrekt ist, muss er die entsprechende Seite im Einsichtenbuch aufgeschlagen haben1. Und wer die Seite aufschlägt, sieht auf den ersten Blick, dass hier nicht von Kindererziehung die Rede ist, ganz einfach aus dem Grund, dass es sich um einen Lexikoneintrag handelt, der das Strafrecht im alten Israel zum Thema hat und nicht Kindererziehung in modernen Zeiten.
Wieso also die abartige Schlussfolgerung, dass Zeugen Jehovas ihre eigene Kindererziehung automatisch mit dem Strafrecht der frühen Eisenzeit gleichsetzen? Die bösartige Erklärung wäre, dass Herr K. bewusst gelogen hat, um Zeugen Jehovas schlecht darzustellen. Er hätte einfach einen Satz aus dem Zusammenhang gerissen, um Zeugen Jehovas zu unterstellen, dass sie sich nicht an das Gesetz halten wollen. Aber die wollen wir ja erst einmal zurücksetzen und sehen, ob es nicht eine andere gibt.
Angesichts dessen, dass er nicht alleine mit diesem Problem dasteht, könnte man natürlich über eine weniger böse Ursache spekulieren: könnte es sein, dass Herr K. und seine Mitstreiter einem Zwang folgen, Zitate aus ihrem Zusammenhang zu reißen und in einem komplett anderen Zusammenhang wiederzugeben? Ich will dieses Phänomen daher mit dem Namen "apostatische Legasthenie" bezeichnen. Das würde erklären, dass die Betroffenen die Zeugen Jehovas verlassen haben: wer ständig tut, was Herr K. hier machte, der muss schnell den Eindruck gewinnen, dass alles, was er liest, grotesk ist. Wer als Zeuge Jehovas nicht in der Lage ist, die (zugegebenerweise höchst anspruchsvolle) Leistung zu vollbringen, einen gelesenen Satz im Kontext des dargebotenen Artikels zu verstehen, sondern ihn in einen völlig anderen Kontext stellt, der gewinnt natürlich, den Eindruck, dass die Schriften der Zeugen Jehovas seltsam sind.3
Das wäre natürlich eine private Tragödie der Betroffenen. Allerdings scheint es so, dass der Zwang sich dann auch darin ausdrückt, die eigenen Missverständnisse als Fakten über andere öffentlich zu verkünden. Damit wird das natürlich auch ein Problem derjenigen, über die geredet wird, in unserem Fall der Zeugen Jehovas.
Im vorliegenden Beispiel trifft dann der Zwang der Ex-Zeugen mit einem zwanghaften Verhalten von Politikern zusammen, dass sie davon abhält wahrzunehmen, was eigentlich los ist. Auf Seite 22 erklärt der Rechtsausschuss selber, dass der Vertreter der Zeugen Jehovas ihn darauf hinwies, dass die benutzte Form des Zitierens nicht sinnvoll ist. (Das Zitieren aus Schriften der Zeugen Jehovas sei nicht geeignet, ein objektives Bild der Religionsgemeinschaft zu zeichnen.)
Der Rechtsausschuss kam trotzdem auf Seite 31 und 33 des Berichts zum Ergebnis:
Die von Vertretern der Aussteigerorganisationen in der Anhörung am 16. Februar 2011 zitierten Textpassagen aus Veröffentlichungen der Religionsgemeinschaft lassen den Schluss zu, dass körperliche Züchtigung als probates Mittel empfohlen wird.Der Rechtsausschuss betrachtet also auch die offensichtlich unsinnige Aussage des Herrn K. als "glaubwürdig" und zieht daraus die widersinnige Schlussfolgerung, dass "körperliche Züchtigung als probates Mittel empfohlen wird". Wie kommen Politiker zu so etwas? Die Neigung von Politikern, Leute, die "meine Meinung wiedergeben", als Experten zu anzusehen und sie als Grundlage für eigene Entscheidung hinzuzuziehen. Auf diese Weise hatten wir jahrzehntelang "sichere" Atomkraftwerke bis zu dem Tag, an dem die Politiker die Meinung wechselten und die "Experten" von gestern die Opposition von heute geworden sind. Ähnlich betrachtet der Rechtsausschuss anscheinend die Meinung, die der eigenen entspricht als "Expertenmeinung", die glaubhaft ist. Es ist also fast egal, was die "Experten" sagen, Hauptsache es passt zur Meinung der Politiker und wirkt (für Außenstehende) nicht sofort lächerlich.
[...]
Der Rechtsausschuss stellt fest, dass die Aussagen der angehörten Expertinnen und Experten als glaubhaft einzuschätzen sind und im deutlichen Gegensatz zu den Angaben der Zeugen Jehovas stehen. Einem parlamentarischen Ausschuss steht es zu, über die Inhalte seiner Arbeit und sein Vorgehen frei zu entscheiden.
Im Endeffekt kenne ich weder Herrn K. noch den Bremer Rechtsausschuss gut genug, um sagen zu könne, ob sie mit Absicht so vorgehen oder wirklich den angedeuteten Zwängen unterliegen.2
1 Wie die Elberfelder Übersetzung hier herein gekommen ist, kann ich nicht erklären. Im Einsichtenbuch wurde sie hier nicht erwähnt. Möglicherweise deshalb, weil die Aussage in der EB "reißerischer" klingt als im eigentlichen Zitat und besser geeignet ist Vorurteile zu erzeugen. Möglicherweise aus diesem Grund wurde auch aus dem Zitat der Hinweis entfernt, dass es sich im wesentlichen um einen Bibeltext und nicht um einen Ratschlag der Religionsgemeinschaft handelt.
2 Sollte ich einige "Sarkasmus"-Tags im Artikel vergessen haben, so bitte ich um Entschuldigung.
3 In anderen Fällen hat dieses Phänomen anscheinend dazu geführt, dass Artikel aus den sechziger und siebziger Jahren (die ausnahmsweise wirklich etwas mit Kindererziehung zu tun hatten) im Kontext eines Gesetzes aus den neunziger Jahren gelesen wurden. Natürlich werden derartige Vergleiche bei anderen Religionsgemeinschaften wie z.B. der evangelischen und katholischen Kirche nicht gezogen.
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