Donnerstag, 29. September 2011
[Michael=Jesus] Die Spur durch die Jahrhunderte
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Heutzutage haben viele Trinitarier ein Problem damit, Jesus mit dem Erzengel Michael gleichzusetzen, da sie Jesus mit Gott gleichsetzen. Hier hatte ich bereits einmal angekündigt, dass ich einmal ein paar Beispiele dafür zeigen will, dass verschiedene protestantische Gruppen und Theologen in der Vergangenheit kein Problem damit hatten, Jesus mit dem Erzengel Michael zu identifizieren.

Das grundlegende Problem (für Trinitarier) ist hierbei, dass man entweder annehmen muss, dass diese Identifikation keine Bedeutung hat, dann gibt es aber auch keinen logischen Grund mehr, Jesu Identifikation mit Gott anzunehmen, da diese meist ebenfalls über einen Vergleich der verschiedenen Attribute funktioniert; oder aber man muss annehmen, dass dass es einen Widerspruch in der Bibel gibt.

Calvin (die Zuordnung des Bildes zu dem Theologen ist historisch nicht 100% gesichert)
Das ist natürlich nicht ganz korrekt, es gibt noch zwei weitere Möglichkeiten: man kann entweder begründen, warum die Gleichsetzung Jesu mit Gott nicht aus der Bibel abgeleitet werden kann (wie es die Zeugen Jehovas tun) oder man kann einfach selektiv nur das wahrnehmen, was einem in den Kram passt (wie es leider viele Kritiker von Zeugen Jehovas in dieser Frage tun).

Solange es keine Zeugen Jehovas gab, fiel es Trinitariern noch einfacher, den biblischen Befund in dieser Frage wahrzunehmen. C.T. Russell hat lediglich diese protestantische Tradition fortgeführt. Hier also einige Beispiele für diese Ansicht aus den letzten 500 Jahren:

Johannes Calvin (1509-1564), Mitbegründer der reformierten Bewegung, aus der die reformierten Kirchen (u.a. in den Niederlanden, Süd-West-Deutschland, Schweiz, Frankreich (Hugenotten), Ungarn) und die presbyterianischen Kirchen des englischen Sprachraums hervorgingen, und ihr herausragender Theologe:
Some think the word Michael represents Christ, and I do not object to this opinion. Clearly enough, if all angels keep watch over the faithful and elect, still Christ holds the first rank among them, because he is their head, and uses their ministry and assistance to defend all his people. But as this is not generally admitted, I leave it in doubt for the present, and shall say more on the subject in the twelfth chapter.

Einige denken, das Wort "Michael" bezieht sich auf Christus, und ich widerspreche dieser Meinung nicht. Es ist offensichtlich: obwohl alle Engel über die treuen und auserwählten wachen, hat doch Christus den ersten Rang unter ihnen, denn er ist ihr Haupt, und er bedient sich ihres Dienstes und ihrer Unterstützung um sein ganzes Volk zu verteidigen. Aber da dies nicht allgemein anerkannt ist, lasse ich dies hier offen und werde im zwölften Kapitel hierauf zurückkommen.[Kommentar zu Daniel 10,13]

By Michael many agree in understanding Christ as the head of the Church. But if it seems better to understand Michael as the archangel, this sense will prove suitable, for under Christ as the head, angels are the guardians of the Church.

Viele verstehen unter Michael Christus das Haupt der Kirche. Aber wenn man es für besser hält, Michael als den Erzengel anzusehen, ist diese Ansicht [ebenfalls] sinnvoll, denn unter Christus als dem Haupt sind Engel die Hüter der Kirche.[Kommentar zu Daniel 12,1; alle Übersetzungen von mir]
Calvin hatte anscheinend kein Problem damit, Jesus als Michael zu identifizieren, obwohl er Trinitarier war. Er sah zwar auch die gegenteilige Meinung für möglich an, wollte aber ausdrücklich nicht ausschließen, dass Michael Jesus ist.

Der Kommentar der Genfer Bibel, einer Bibelübersetzung der Puritaner aus dem Jahr 1557 sagt folgendes zu Daniel 12,1:
[...]God will send his angel to deliver it, whom he here calls Michael, meaning Christ, who is proclaimed by the preaching of the Gospel.

Gott wird seinen Engel senden, um [die Kirche] zu erlösen; dieser wird hier Michael genannt, das heißt Christus, der durch das Predigen des Evangeliums verkündet wird.
Auch hier haben Trinitarier Jesus ohne weiteres mit Michael identifiziert.

Und ein deutschsprachiger reformierter Theologe, Johannes Piscator (1546-1625) schrieb im Kommentar der von ihm übersetzen Bibel:
Kommentar zu Daniel 10:21: Euer Fürst] Der Engel der euch Juden zum Fürsten gesetzt ist / daß er euch beschütze. Oder/ Christus selbst.

Offenbarung 12:7: Michael] Das ist Christus; welcher GOtt gleich ist/ Philip. 2,6. Dann Michael heißt/ Der wie GOtt ist. Also Dan. 10,21
John Wesley (1703-1791; nicht Westley), Mitbegründer der Methodisten:
[...] Michael your prince, the Messiah shall appear for your salvation.

[...] Michael, euer Fürst, der Messias, wird für eure Erlösung erscheinen.[Kommentar zu Daniel 12,1]
Auch hier wieder das gleiche: Michael wird ohne Probleme mit Jesus identifiziert.

Philip Doddridge (1702-1751), ein nonkonformistischer Theologe schrieb in seinem Kommentar zu Offenbarung 12,7 auf S. 446:
Michael, the great leader of God's host, and therein an emblem of the great Emmanuel,

Michael war der grosse Anführer der Heere Gottes, der hierinnen ein Sinnbild des großen Immanuels war, [=Christus, s. Matthäus 1,23]
(dt. Übersetzung von 1758, S. 1476f)
Ähnliche Meinungen gab es im 18. Jahrhundert im deutschen Pietismus. So heißt es in der Berleburger Bibel:
Zu Daniel 12,1:
[...]wird der große Fürst Michael) der siegreiche Ueberwinder und vortreffliche Held, welchen man ja wol am besten von dem Sohn GOttes selbst verstehet,[...]

Zu Offenbarung 12,7:
Michael) durch welchen man hier gar wol Christum selbst verstehen kan, als das Haupt seiner Kirchen, auf welchen auch der Name mit seiner Bedeutung. wer ist wie GOtt? am eigenentlichsten gehet, weil die menschliche Natur in die Gemeinschaft der göttlichen aufgenommen ist, wie also der Name Michael durch den ganzen 89sten Psalm erkläret ist, daß der Schluß herauskommt: Wer ist wie der HErr unser GOtt, den uns GOtt unter der Gestalt des Menschen zeiget? Also Christus
Im 19. Jahrhundert vertrat der methodistische Prediger Joseph Benson (1748-1821) einen ähnlichen Standpunkt; In seinem Bibelkommentar (Band 3, S.841) schrieb er zu Daniel 12,1:
The great prince which standeth for the children of thy people, manifestly points out the Messiah, and cannot properly be understood of a created angel.

Der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes steht: deutet offensichtlich auf den Messias und kann nicht richtig von einem erschaffenen Engel verstanden werden.
Auch der protestantische Theologe Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869) identifizierte Michael mit Jesus. So schreibt er in seinem Werk "Die Offenbarung des heiligen Johannis, Band 1" auf den Seiten 407ff:
Es entsteht hier vor Allem die Frage: wer ist Michael? [...] Nach der einen Ansicht ist Michael kein anderer als Christus, oder richtiger ausgedrückt, das Wort, das im Anfange bei Gott war und von Anfang an alle seine Beziehungen zu seiner Kirche aus der Erde vermittelte.

Für die erstere [o.g.] Ansicht entscheiden aber folgende Gründe. 1. Schon der Name Michael — Wer ist wie Gott — selbst zeigt, daß wir Jhn nicht in dem Gebiete des Endlichen aussuchen dürfen.[...]

2. Michael tritt uns zuerst in dem Buche Daniel entgegen, und dort also müssen wir Aufschluß über sein Wesen suchen. Daß er aber dort mit dem Engel des Herrn, dem Worte, das im Anfange bei Gott war und von Anfang an alle seine Beziehungen zu seiner Kirche aus Erden vermittelte, identisch ist, wurde in den Beiträgen 1 S. 165 ff., und zuletzt gegen Hosmann, Stier, Hitzig in der Christol. 3, 2 S. 50 ff. nachgewiesen. Ebendaselbst S. 54 wurde auch gezeigt, daß in V. 9 des Briefes Judä Michael kein anderer als der Logos ist, und daß 1 Thess. 4, 16 nicht etwa aus eine Mehrheit von Erzengeln hinführt (wäre eine solche vorhanden, so könnte „Michael der Erzengel" bei Judas nur ein geschaffenes Wesen seyn), sondern im Gegentheil beweist, daß es nur einen Erzengel gibt, [...]
Hier wieder das gleiche Bild: Michael der Erzengel wird mit Jesus identifiziert.

Diese Beispiele zeigen, dass wichtige protestantische Gruppen (bzw. ihre herausragenden Vertreter), wie die Reformierter, die Methodisten, die Puritaner und die Pietisten in der Vergangenheit keine Probleme damit hatten, Jesus mit Michael zu identifizieren. Heute lehren die Adventisten dies weiter als Lehre. In dem Buch "Seventh-day Adventists Answer Questions On Doctrine" erklärt eine repräsentative Auswahl von adventistischen Bibellehrern hierzu:
We believe that the term "Michael" is but one of the many titles applied to the Son of God, the second person of the Godhead.

Wir glauben, dass der Ausdruck "Michael" nur einer der vielen Titel ist, die auf den Sohn Gottes, der zweiten Person Gottes angewandt werden.
Dieser Abschnitt zeigt aber auch das Problem, dass heutzutage viele Trinitarier davon abhält, diese Lehre zu glauben:
We emphatically reject [...] the position held by the Jehovah's Witnesses. We do not believe that Christ is a created being.
[...]
From the foregoing it will be seen that our concept of Michael, as just another title for the Lord Jesus Christ, is vastly different from the views of others who teach that Michael is merely a created, angelic being and not the Eternal Word of God.

Wir lehnen nachdrücklich die Position ab, die Zeugen Jehovas vertreten. wir glauben nicht, dass Christus ein erschaffenes Wesen ist.
[...]
Aus dem vorhergehenden kann ersehen werden, dass unser Konzept von Michael als einem weiteren Titel für den Herrn Jesus Christus sehr verschieden ist von den Ansichten anderer, die lehren, dass Michael lediglich ein erschaffenes Engelwesen ist und nicht das Ewige Wort Gottes.
Wie so oft ist also auch hier die Dreieinigkeitslehre die Mutter aller Probleme. Wer Jesus mit Michael identifiziert, muss klarstellen, warum Jesus als (Erz-)Engel kein Geschöpf sondern Schöpfer sein soll. Genau damit beschäftigt sich ein Großteil des zitierten adventistischen Artikels.

Hieraus ergibt sich natürlich folgende Frage (oder vielmehr Fragen):
Wenn man Jesus mit Michael identifizieren kann, warum lehnt das ein Großteil heutiger Trinitarier so vehement ab? Wäre es ihnen in diesem Fall nicht wichtiger, sich von den Zeugen Jehovas abzuheben als die Wahrheit zu lehren?

Wenn man sie nicht identifizieren kann, warum haben dass dann in der Vergangenheit so viele gemacht? Hat ein Großteil der trinitarischen Christen in der Vergangenheit etwas falsches über die Identität Michaels und Jesu gelehrt?

Kann der Erzengel Gott sein oder muss es sich um Geschöpf handeln? Ist es für Zeugen Jehovas notwendig, Jesus mit Michael zu identifizieren, um ihre Lehre zu formulieren, oder können sie auch unabhängig hiervon Jesus als Nicht-Gott identifizieren?

Zu der Position der Zeugen Jehovas hatte ich bereits mehrere Artikel geschrieben, die man hier finden kann.

Falls du noch weitere Beispiele von Theologen kennst, die Michael mit Jesus identifizieren, hinterlasse hier bitte einen Kommentar (am besten mit Links und genauen Angaben) oder sende mit eine Mail.

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