Freitag, 28. Oktober 2011
1.Timotheus 6,4 und Der Wachtturm vom 15.07.2011: Geistig Krank?
In England haben ein paar Tageszeitungen darüber berichtet, dass Zeugen Jehovas wegen einer Äußerung im Wachtturm angezeigt wurden. So heißt es z.B. hier im Independent:
The official magazine for Jehovah's Witnesses has described those who leave the church as "mentally diseased", prompting an outcry from former members and insiders concerned about the shunning of those who question official doctrine.

[meine Übersetzung]: Die offizielle Zeitschrift für Zeugen Jehovas hat diejenigen, die die Kirche verlassen, als "geisteskrank" beschrieben, was einen Aufschrei unter ehemaligen Mitgliedern und Insidern hervorrief, die besorgt sind wegen der Meidung derer, die die offizielle Doktrin in Frage stellen.
Im weiteren wird ein Satz aus dem Wachtturm zitiert:
Suppose that a doctor told you to avoid contact with someone who is infected with a contagious, deadly disease," the article reads. "You would know what the doctor means, and you would strictly heed his warning. Well, apostates are 'mentally diseased', and they seek to infect others with their disloyal teachings.

Angenommen, ein Arzt schärft dir ein, dich strikt von einer Person fernzuhalten, die an einer ansteckenden, tödlichen Krankheit leidet. Dir wäre völlig klar, was der Arzt dir sagen will, und du würdest dich gewissenhaft daran halten. Über Abtrünnige sagt die Bibel, dass sie „geistig krank“ sind und andere mit ihrem treulosen Gedankengut infizieren wollen (1. Tim. 6:3, 4).
Hierbei sieht man deutlich, dass in der Zeitung der Hinweis, dass es sich um ein Bibelzitat handelt, herausgenommen wurde. Damit wird der Versuch unternommen, aus einer Bibelauslegung einen Angriff auf ehemalige Zeugen Jehovas zu machen. Der Artikel im Independent (und der anderen Zeitungen) enthält noch eine Reihe weiterer offensichtlicher Fehler. Und im Internet wurden dann noch in einigen Diskussionen mehrere Fehler hinzugefügt. Daher hier in Kurzform Korrekturen der offensichtlichen Irrtümer:

Ist der Ausdruck "geistig krank" in 1.Timotheus 6,4 eine falsche Übersetzung?

Nein! Wenn man z.B. hier nachschaut, dann findet man folgende Bedeutungen:
1) to be sick

2) metaph. of any ailment of the mind

a) to be taken with such an interest in a thing as amounts to a disease, to have a morbid fondness for

[Übersetzung]:

1) krank sein

2) im übertragenen Sinne von jedem Geistesleiden

a) an etwas so interessiert sein, dass es einer Krankheit gleich kommt, eine morbide Neigung zu etwas haben.
"geistig krank" gibt den Gedanken also sehr gut wieder. Jede Menge anderer Übersetzungen vermitteln ebenfalls den Gedanken einer "krankhaften Neigung", so z.B.:
Hfa: ...diese Leute sind wie von einer Seuche befallen
NGÜ: ...haben eine krankhafte Vorliebe für Streitfragen und Wortgefechte
GN: ...hat einen krankhaften Hang zu spitzfindigen Untersuchungen und Wortgefechten
NL: ...hat einen ungesunden Hang zu Streitereien und Wortgefechten
NEÜ: ...hat einen krankhaften Hang zu Streitfragen und Wortgefechten
Werden ehemalige Zeugen Jehovas in dem Artikel als "geistig krank" bezeichnet?

Nein! Der Artikel macht ausdrücklich keine Angaben dazu, dass sich der Bibeltext auf ehemalige Zeugen Jehovas bezieht; statt dessen heißt es: "Sie [die Personen, von denen der Artikel handelt] können innerhalb[!] der Christenversammlung aufstehen" und "die Organisation [der Zeugen Jehovas] zu verlassen, reicht ihnen nicht", es kann sich also um Personen handeln, die (noch) als Zeugen Jehovas angesehen werden.

Es wird auch ausdrücklich nicht von denen gesprochen, die einfach keine Zeugen Jehovas mehr sein wollen, sondern von solchen, die "mehr wollen". Weiter heißt es, dass der Artikel auf Personen bezieht, die den Glauben anderer zerstören wollen und die dabei hinterhältig vorgehen (z.B. indem sie andere in dem Glauben lassen, dass sie selbst Zeugen Jehovas sind und diesen Anschein ausnutzen, um andere mit falschen Argumenten zu füttern).

Die Personen, von denen im Wachtturm die Rede ist, werden also nicht darüber identifiziert, ob es sich um ehemalige Zeugen Jehovas handelt, sondern über ihre Absichten und ihre Vorgehensweise. Damit ist der "Aufschrei" ehemaliger Zeugen Jehovas unbegründet, es sei denn, dass die betreffenden genau dieses Verhalten an den Tag legen. Was ich von dem Vorgehen solcher Menschen halte, steht weiter unten.

Wird in dem Artikel dazu aufgerufen, diese Personen zu hassen oder ihnen irgendwie zu schaden?

Nein! Es wird aber deutlich auf die spirituellen Gefahren hingewiesen, die damit verbunden sind, wenn man mit derartigen Personen zu tun hat und es wird daher der Rat gegeben, sich von ihnen fernzuhalten (und sie folglich in Ruhe zu lassen). Was diejenigen, die "aufschreien" in Wirklichkeit fordern, ist, dass Zeugen Jehovas ihnen eine Plattform bieten, um die Religionsgemeinschaft von innen zerstören zu können. Das ist ähnlich absurd, als würden Zeugen Jehovas von der evangelischen Kirche fordern, dass sie bei evangelischen Gottesdiensten Werbung für die eigene Religion machen können.

Ist die Darstellung im Wachtturm übertrieben?

Meine persönliche Erfahrung sagt mir: nein. Als Beispiel kann die Reaktion auf den angesprochenen Wachtturm-Artikel dienen. Anstatt zu lesen, was deutlich ausgeschrieben ist, nämlich, dass es nicht um ehemalige Zeugen Jehovas geht, beklagen sich einige über etwas, was sowieso ausdrücklich im Artikel verneint wird. Das ist genau die "krankhafte Neigung zur Diskussion über Worte", von der im Timotheus-Brief die Rede ist. Und leider ist es so, dass viele Medien mehr an einer Story interessiert sind, als selber auch nur im geringsten zu recherchieren.

Meine persönliche Meinung

Die ganze "Aufregung" ist ein schönes Fallbeispiel für das, wovor im Wachtturm gesprochen wird: Der ganze "Fall" wurde ausgelöst von Menschen, die sich innerlich von den Zeugen Jehovas gelöst haben, aber weiter so tun als ob sie dazugehörten, mit dem erklärten Ziel, den Glauben anderer zu schwächen oder zu zerstören. Dabei zeigen sie ein obsessives Interesse daran, das misszuverstehen, was im Wachtturm (und in der Bibel) steht, also ein Beispiel für genau das, was im Wachtturm besprochen wird. Den betreffenden entgeht die Ironie, dass sie durch ihr Verhalten die Beschreibung im Wachtturm exakt bestätigen und zeigen, dass es sinnvoll ist, einen großen Bogen um sie zu machen.

Dieses Vorgehen ist natürlich ethisch genau so wenig zu rechtfertigen, als wenn ich in eine Kirche ginge, so täte, als wäre ich ein aufrichtiger Katholik/Protestant, und dann versuchen würde, bei den Gläubigen Zweifel zu säen, mit dem Ziel, ihren Glauben zu zerstören. Zeugen Jehovas gehen so nicht vor, wenn sie mit jemandem reden, ist vorab klar, welche Meinung sie vertreten. Es handelt sich hier um den Versuch, Menschen (Zeugen Jehovas sind auch Menschen!) bewusst für die eigenen Ziele (Schwächung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas) zu manipulieren. Das ist das eigentliche Problem beim "Aufschrei", das nämlich genau diese Vorgehensweise angesprochen wird und als das kenntlich gemacht wird, was es ist: unethisch.

Um ein derartiges Verhalten zu rechtfertigen, ist es dann natürlich erforderlich, die Opfer dieses Vorgehens "zu dämonisieren", indem man sie als Opfer einer Hirnwäsche darstellt bzw. als eine Organisation, die Menschen in Abhängigkeit hält. Hierzu werden dann, wie z.B. in Bremen auch (für Kenner) offensichtliche Falschdarstellungen benutzt.

Alles in allem also ist die Warnung angebracht, stellt aber keinen Angriff auf ehemalige Zeugen Jehovas dar.

Und ganz nebenbei gesagt, denke ich, dass entweder die Ermittlungen im Sande verlaufen werden, da die Polizei lesen kann oder spätestens ein Gericht im folgenden Prozess diese Fähigkeit zeigt. Aber vorher gab es dann natürlich ein paar Artikel in den Zeitungen, die Zeugen Jehovas mal wieder etwas falsch darstellen.

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