Donnerstag, 2. Februar 2012
Wachtturm nun doch wieder verboten in Russland
Ein Berufungsgericht hat am 02.02.2012 eine Entscheidung einer Unterinstanz wieder aufgehoben. Damit bleiben die Zeitschriften "Wachtturm" und "Erwachet!" in Russland als "extremistisch" verboten.

Geschichte des Falls

Zum Hintergrund: In den vergangenen Jahren haben einige Gerichte einzelne Artikel in den Zeitschriften1 als extremistisch eingestuft. Daraufhin hob die russische Dienststelle für die Überwachung im Bereich Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation (Roskomnadzor) am 26.04.2010 die Lizenz der beiden Zeitschriften auf (Pressemitteilung der Zeugen Jehovas hierzu).

Zeugen Jehovas klagten dagegen und am 06.10.2011 entschied ein Moskauer Gerecht, dass der Lizenzentzug aufzuheben sei (Hier ein Presse-Bericht dazu; hier wird das Datum des Verbots mit 06.04.2010 angegeben, mir erscheint das Datum aus der o.g. Presseerklärung glaubwürdiger). Am 17.11.2011 entschied sich die Behörde, dagegen in Berufung zu gehen.

Nun hat ein Berufungsgericht entschieden, dass der Lizenzentzug bestehen bleibt. In dem vorliegenden Bericht werden die Gründe für die Entscheidung nicht angegeben. Es ist mir auch noch nicht klar, ob es weitere Berufungsmöglichkeiten in Russland gibt.

Extremismusvorwürfe

In den letzten Jahren wurden wiederholt verschiedene Veröffentlichungen von Zeugen Jehovas aufgrund des Extremismus-Gesetzes von 2002 als "extremistisch" verboten. Wie Forum 18 Anfang 2009 berichtete, wurde teilweise die Literatur auch ohne Gerichtsentscheid als verboten behandelt:
In the Urals region of Sverdlovsk, Jehovah's Witness tracts are already being treated as extremist even in the absence of a ban, with 14 people detained for distribution since the start of 2009 alone.
Bereits im Jahr 2008 wurden Versuche unternommen, einzelne Veröffentlichungen zu verbieten.

Am 08.12.2009 entschied das oberste Gericht Russlands, dass das erste Verbot, dass in der Ortschaft Taganrog in der Nähe der ukrainischen Grenze verhängt wurde, Gültigkeit hat. Damit unterliegt nach diesem Bericht jede Person der Strafverfolgung, die eine entsprechende Veröffentlichung besitzt. Ab dem Jahr 2010 haben die russischen Behörden von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch gemacht, um einzelne Zeugen Jehovas festzunehmen und anzuklagen oder auf andere Weise einzuschüchtern. Im Jahr 2011 wurden in Russland auch Webseiten zensiert2, die entsprechende Literatur enthalten.

Der russische Menschenrechtsbeauftragte Odintsov bezeichnete gegenüber Forum 18 das Vorgehen der Behörden als "Rücksowjetisierung", mit der (missliebige) Minderheitenreligionen bekämpft werden sollen; er sieht die Lage als "bedrohlich" an.

Ein Autor befürchtet ebenfalls, dass die russischen Behörden bei der Bekämpfung von religiösen Minderheiten zu den Mitteln der Vergangenheit (sprich: des Stalinismus) zurückkehren:
Do these developments mark a return to past methods? Two statements from those on either side of the battle against religious extremism are at least reminiscent of the Soviet drive against all forms of dissent.

The first comes from Lyubov Sliska, First Deputy Speaker of the Russian Duma (the lower house of Parliament) and a member of its United Russia faction. In September 2008 she said: "Preventative measures are the main thing which should be done now to lower the risk of the appearance and spread of sectarian and extremist ideology. The educational aspect of work by our main Russian confessions will put an end to sectarian extremism."

The second comes from Isa Bedtsiyev, a Chechen Muslim who frequents the mosque in Kaluga from which "The Personality of a Muslim" was taken in an FSB security service raid in May 2008. At a press conference in Moscow in March 2009, he explained that he no longer keeps books at home, because, "I know that if someone comes to search my home, they'll find something. In Russia, if they launch a fight against something - a committee to fight against aliens, for example - they'll find them."
Nebenbei bemerkt wurde (zuminde zeitweise) auch die lutherische Kirche in Russland Ziel derartiger "Extremismus"-Vorwürfe. Ein Versuch, die hinduistische Bhagavad-Gita als "extremistisch" zu verbieten, führte sogar zu diplomatischen Verstimmungen mit Indien.

Zeugen Jehovas haben natürlich keine mächtigen Fürsprecher, die ihnen in entsprechender Weise helfen würden. Es besteht aber die Möglichkeit, dass (irgendwann in ein paar Jahren) der europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Zeugen Jehovas entscheiden wird. Ob das im Endeffekt hilft, bleibt dahingestellt. Die letzte Entscheidung des Gerichts zugunsten der Zeugen Jehovas in Moskau wurde von Russland bis heute nicht umgesetzt.
1 Aufgrund vollkommen aberwitziger Vorwürfe und Gutachten, wie man auf Englisch im Detail auf dieser Webseite der zeugen Jehovas nachlesen kann. Viele der kritisierten Stellen enthalten Gedanken, die man hierzulande wesentlich schärfer formuliert auf jeder ersten besten atheistischen/religionskritischen Seite nachlesen kann und die natürlich der Meinungsfreiheit unterliegen

2 Ein aktuelles Beispiel hierfür

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