Mittwoch, 29. Februar 2012
[2] Malawi: Die Vorwürfe im Detail
hgp, 15:02h
[Teil 1] (empfehlenswert als Einleitung)
Ein Wort vorab: ich habe hier sehr häufig aus zwei Quellen zitiert, die ich mit "Carver" und "Powers" abkürzte; im ersten Beitrag habe ich diese Quellen genau benannt.
Noch ein Wort vorab: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit diversen Vorwürfen gegen Zeugen Jehovas bzw. ihre religiöse Leitungsgremien. Im Endeffekt bin ich zum Ergebnis gekommen, dass die Vorwürfe nicht darauf beruhen, dass die Leitung der Zeugen Jehovas sich falsch verhalten hat, sondern darauf, dass die Kritikpunkte nur in einer Scheinwelt bestehen können, die erhebliche Teile der Realität ausblendet.
Malawi, das vormalige Nyassaland, wurde 1964 nach längerem Kampf von Großbritannien unabhängig. Der Kampf wurde wurde im wesentlichen von NAC geführt, der malawischen Unabhängigkeitsbewegung, aus der im Jahr 1960 die MCP (Malawi Congress Party) hervorging, die dann ab 1966 ab alleinige politische Partei des Landes zugelassen war.
Die wichtigste Persönlichkeit im Unabhängigkeitskampf war Hastings Kamuzu Banda, der Parteichef der MCP, der ab 1961 Ministerpräsident von Nyassalnad war und ab 1964 dann das Land in die Unabhängigkeit führte, das Land 1966 in eine Republik (mit sich selbst als Präsident) umwandelte und sich 1971 zum "Präsident auf Lebenszeit" machte. Seine Herrschaft endete 1994, als er wahrscheinlich fast 100 Jahre alt war (sein Geburtsdatum kann nicht mehr genau festgestellt werden), nachdem große Teile der Bevölkerung gegen seine Herrschaft protestierten und die Unterstützung der westlichen Mächte zu ende des kalten Krieges nachließ.
Präsident Banda und die MCP forderten, dass alle Landesbürger Mitglied der Staatspartei würden. Zeugen Jehovas verweigerten dies bis auf Einzelfälle geschlossen. In der Folge wurden Zeugen Jehovas mehrmals (1964, 1967, 1972 und 1975) das Ziel landesweiter Pogrome, bei denen insgesamt tausende Frauen Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden, wahrscheinlich hunderte Personen umgebracht wurden, tausende Häuser und Felder enteignet wurden, die große Mehrheit der Zeugen Jehovas ihren Arbeitsplatz verloren und praktisch alle Zeugen Jehovas mehrmals aus dem Land fliehen mussten. Schläge und andere Formen der Folter waren üblich.
Die Nachbarländer (Mosambik und Sambia) weigerten sich, die Flüchtlinge aufzunehmen, und trieben sie wieder zurück, woraufhin der Kreislauf der Gewalt wieder von vorne begann. Ab 1975 waren tausende Zeugen unter zum Teil unmenschlichen Haftbedingungen inhaftiert. Im Laufe der achtziger Jahre verbesserten sich die Lebensbedingungen für die Zeugen Jehovas dann allmählich. Nach 1994 wurden sie dann wieder als Religionsgemeinschaft zugelassen und die Verfolgungsmaßnahmen endeten.
Vor diesem Hintergrund wird der religiösen Leitung der Zeugen Jehovas (der leitenden Körperschaft) vorgeworfen, dass sie an den Verfolgungsmaßnahmen eine Mitschuld (oder nach einigen Kritikern sogar die Alleinschuld) trägt. Im Kern konzentrieren sich diese Anschuldigungen auf folgende Überlegung:
Zeugen Jehovas weigerten sich, die Parteimitgliedskarten der Staatspartei MCP zu erwerben. Diese Weigerung war Anlass für die beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen. Wenn die leitende Körperschaft den Gläubigen erlaubt hätte, die Karten zu kaufen, dann hätte es keine Verfolgung gegeben. Also ist gemäß den Vorwürfen die Weigerung der leitenden Körperschaft, dies zu erlauben, Ursache der Verfolgung. Und, so weiter der Vorwurf, es gibt in der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas genügend Möglichkeiten, die es erlaubt hätten, den Kauf der Parteimitgliedskarten zu gestatten. Ein Verbot wäre gar nicht erforderlich gewesen.
Daher will ich mir diese Punkte jetzt im Detail betrachten. Welche Begründung gaben Zeugen Jehovas für ihre Weigerung an? Im Erwachet vom 22.03.1976, S. 25 heißt es dazu beispielsweise:
Die erste Frage, die gestellt werden müsste, aber von den Kritikern an der leitenden Körperschaft nicht gestellt wird, lautet: Warum gab es denn in Malawi nur eine Partei, die mit dem Staat praktisch identisch war? Es ist kaum realistisch, dass die Bevölkerung Malawis komplett einer Meinung in politischen Fragen war und daher alle aus eigenem Antrieb nur diese Partei wollten.
Einen Wink mit Zaunpfahl bekommen wir im Buch von Carver (S. 12), wo eine Aussage von Präsident Banda zur politischen Opposition wiedergegeben wird:
Damit ist offensichtlich, dass die MCP nicht nur "eine andere Form von Behörde" war, wie es verschiedentlich angedeutet wird. Vielmehr handelte es sich um eine Organisation, deren Existenzberechtigung und Sinn darin lag, jede politische Opposition gegen Banda auszuräumen.
Damit ist auch klar, dass niemand, der Mitglied der MCP wurde, "politisch neutral" bleiben konnte. Er war Mitglied in einer Organisation, die abweichende politische Meinungen unterdrückte. Damit unterstützte das Mitglied automatisch die politische Seite der MCP und damit Banda. Abgesehen davon, dass der einzelne damit Unterstützer für jede Menge Menschenrechtsverletzungen wurde, war ihm auch klar, dass er selbst linientreu bleiben musste, um nicht selbst das Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden.
Wieso wird dann trotzdem behauptet, dass politische Neutralität bei gleichzeitiger Mitgliedschaft in der MCP kein Problem war? Es kann offensichtlich nicht an den Fakten liegen, denn die zeigen eindeutig das Gegenteil, ohne dass man sich bei der Suche überanstrengen muss, wenn man denn will. Möglicherweise haben also alle Kritiker, die diese Behauptung aufstellen, in keiner Weise Ahnung vom Thema, dann müssten sie sich natürlich vorwerfen lassen, dass sie die leitende Körperschaft verurteilen (oder zumindest angreifen), ohne überhaupt die Fakten zum eigenen Argument zu kennen. Das ist zumindest höchst seltsam. Und natürlich disqualifiziert es die entsprechenden Personen für eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit ihrem Standpunkt. Wer von seinem Standpunkt selbst so wenig Ahnung hat, dass er nicht merkt, dass er nicht in der Realität angesiedelt ist, darf nicht erwarten, dass andere ihn ernst nehmen.
Es gibt aber natürlich noch eine weitere Möglichkeit, die zumindest für einen Teil der Kritiker zutrifft. Denn zumindest einige Kritiker behaupten, dass sie Zugriff auf "Insiderwissen" hätten bezeihungsweise die entsprechenden Vorgänge in Malawi genau zu verfolgt zu haben und die entsprechenden Vorgänge genau kannten. Trotzdem stellen sie (zumindest in diesem Punkt hier) Behauptungen auf, die offensichtlich falsch sind. Wenn aber Unwissenheit nicht Ursache des Problems sein kann, dann muss es die Absicht sein, die Kritik entgegen anders lautendem eigenen Wissen zu verbreiten. Welche Intention dahinter liegt, kann man natürlich nur raten, aber es sollte niemandem schwer fallen, eine realistische Möglichkeit zu finden. Welche Möglichkeit das aber auch immer ist, sie disqualifiziert den entsprechenden Kritiker als ernstzunehmenden Gesprächspartner in dieser Frage. Denn wie soll man jemandes Behauptungen trauen, wenn diese absichtlich dem eigenen Wissen entgegenstehen?
Banda gab sich eine Reihe von Ehrentiteln, die deutliche Anklänge an messianische Titel der Bibel enthielten. Folgende Beschreibung kann als Beispiel dienen:
Wie Powers beschreibt, war es auch obligatorische Pflicht jedes Staatsbürgers am Straßenrand zu stehen und zu jubeln, wenn der Präsident vorbeifuhr (S. 201).
Auch für Politiker in Malawi gehörte es nicht nur zum guten Ton, sondern es war Pflicht, Banda zu huldigen. Carver zitiert eine Lobeshymne aus dem Parlament (S. 13f), wobei auch hier wieder die messianischen Untertöne deutlich sind (Führer, Löwe von Malawi, vgl. Matthäus 23,10 NWÜ; Offenbarung 5,5):
Natürlich war es für Zeugen Jehovas unannehmbar, an derartigen Zeremonien teilzunehmen. Genauso wenig, wie sie eine Generation vorher in Deutschland ihr Heil auf Hitler zurückführen konnten, konnten sie in Malawi Banda vergleichbare Ehrerbietung erweisen, ohne dass sie gegen diverse ausdrückliche biblische Gebote verstoßen hätten. Die Ehrerbietung, die Banda forderte, ging weit über alles hinaus, was ein Staatsoberhaupt von seinen Untertanen legitim fordern konnte.
Was hatte das ganze mit der MCP zu tun? Konnte man nicht Parteimitglied sein, ohne an der Menschenverehrung für Banda teilzunehmen? Auch hier sind die Beobachtungen der zitierten Quellen eindeutig:
Wie Carver (S. 13) beschreibt, war die MCP zentraler Bestandteil von Bandas "stark [auf ihn natürlich] personalisierten autokratischen Herrschaftssystem" und damit natürlich auch integraler Bestandteil des Personenkults um Banda.
Nach Powers lautete einer der Parteislogans (S. 157): "Ein Führer, eine Partei, ein System, keine Opposition". Er erklärt (S. 156): "Banda und andere transformierten die MCP in einen Machtapparat, der unmittelbar verbunden war mit Persönlichkeit und Autorität ihres Führers.
Demnach war die Partei nicht unabhängig von Banda, sondern integraler Bestandteil des Personenkults. Auch die Parteimitgliedskarte enthielt das Bildnis des Präsidenten, das als Symbol des Personenkults diente. Wer also eine Parteimitgliedskarte kaufte, verstand deutlich, dass die Loyalität, die auf der Innenseite von den Parteimitgliedern gefordert wurde, eine absolute Loyalität gegenüber Präsident Banda war und damit genau die Loyalität, die Christen einzig für Gott reservieren dürfen. Die Parteimitgliedskarte selbst war Symbol des Personenkults.
Damit sollte klar sein, dass die eingangs zitierte Frage nach den Parallelen zwischen der Situation in Malawi und dem Kaiserkult im alten Rom nur gestellt werden können, wenn man entweder keine Ahnung davon hat, was in Malawi so vor sich ging, oder aber wenn man es ignorieren will. Es ist klar, dass der Kauf einer MCP-Karte zum Ziel hatte, den Personenkult zu unterstützen, den die Partei um ihren Führer Banda organisierte. Auch hier disqualifiziert sich die Kritik entweder aufgrund von Unwissen oder weil sie versucht, den Leser irre zu führen.
Zuerst einmal lag das Problem in der Art und Weise, wie die Karten verkauft wurden. Vielleicht stellen wir uns als Mitteleuropäer so vor, dass die Karten in irgendeinem Büro oder Amt "ausgestellt" wurden. Diese Vorstellung ist weit von der Realität entfernt. Der Verkauf der Karten wird wie folgt beschrieben (Powers, S.178):
Ein weiteres Problem lag darin, dass die Karten selten ausgefüllt wurden. Bei der hohen Analphabetenrate im Land (sie wird für den heutigen Tag mit 36% angegeben, hin und wieder aber auch höher mit 50%, lag aber in den siebziger Jahren mit Sicherheit wesentlich höher. 1970 standen Grundschulen nur für 35% der Kinder zur Verfügung, es ist davon auszugehen, dass von der damals erwachsenen Bevölkerung ein noch geringerer Teil auch nur eine grundlegende Schulbildung genossen hatte) geschah es häufig, dass weder der Verkäufer noch der Käufer überhaupt in der Lage waren, die Karte auszufüllen. Die Abbildungen von Karten im Internet sind nicht ausgefüllt, obwohl sie unzweifelhaft einmal benutzt wurden. Solange die Karten aber nicht ausgefüllt sind, können sie nicht als Ausweis dienen. Jeder kaufte eine gleiche Karte. Ohne die persönlichen Daten war ein Versuch der Identifizierung anhand der Karte witzlos.
Parteimitgliedschaftskarten wurden auch "an" Neugeborene und sogar noch ungeborene Kinder verkauft (oder vielmehr an die Eltern, siehe Carver, S. 15,81). Es liegt auf der Hand, dass die Karte hierbei weder zur Identifizierung dienen konnte noch das dies Zweck des Verkaufs gewesen sein kann.
Welchem Zweck dienten die Karten dann, wenn es nicht als Ausweis war? Carver schreibt hierzu:
Nach dem Gesagten ist klar, dass die MCP-Parteikarten in keiner Weise als "Ausweis" gedacht waren, oder so verwendet wurden. Außer der reinen Behauptung, dass dies doch so sei, kann man daher auch nirgendwo eine Begründung hierfür finden. Damit komme ich zu der interessanteren Frage, wieso dann diese Behauptung aufgestellt wurde. Da bereits eine oberflächliche Untersuchung der Zustände im damaligen Malawi zeigt, dass die Behauptung haltlos ist, muss der Grund für die Behauptung woanders liegen.
Die Behauptung, dass die MCP-Karte ein "einfacher Ausweis" wäre, erleichtert es, die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas für ihr Vorgehen zu kritisieren. Man muss sich keine (für das moralische Selbstwertgefühl unangenehmen) Fragen stellen, ob die Verwendung der Karten ethisch überhaupt annehmbar war oder ob sich die leitende Körperschaft nicht etwa gegen ein Repressionsmittel eines totalitären Regimes zu Wehr setzte. Vielmehr kann man so tun, als ob der Kauf der Karten ein ganz normaler alltäglicher Vorgang gewesen sei, den man mit dem Ausfüllen eines Formulars bei uns auf der Behörde vergleichen kann.
Erst diese Fiktion ermöglicht dann eine effektive Kritik an der leitenden Körperschaft; sie erlaubt es, die Schuld an den Menschenrechtsverletzungen von den Menschenrechtsverletzern auf die leitende Körperschaft umzuverteilen, ohne dass man sich im einzelnen über die Vorgänge Rechenschaft geben müsste. Derartige Behauptungen sind damit ein wichtiges Mittel zur Formulierung der Kritik. Daher scheint es in den ca. zwei Jahrzehnten, in denen diese Kritik geäußert wurde, auch kaum jemanden gegeben zu haben, der die Grundlage dieses Kritikpunktes jemals hinterfragt hätte.
In unseren Breiten ist das heutzutage kein Problem mehr, da moderne Rechtsstaaten das Grundrecht auf Gewissensfreiheit anerkennen. In Malawi war das ein Problem. Wie beschrieb Banda selbst das damals existierende politische System (Carver, S. 14)?
Die MCP war hierbei ein wichtiger Baustein der totalitären Macht. Powers merkt an, dass die MCP als persönliche Machtbasis des Präsidenten diente (S. 150). Diese Quelle bezeichnet die MCP als "absolutistische Körperschaft". Anders ausgedrückt: Wer Mitglied in der MCP wurde, musste nicht nur Bandas Anspruch auf absoluten Gehorsam anerkennen, sondern er musste ihn auch selber verteidigen.
Parteimitglieder unterwarfen sich in besonderem Maße diesem absoluten Machtanspruch. Carver beschreibt einen Parteitagsbeschluss, der besagt, dass "jedes Parteimitglied, das der Illoyalität schuldig ist, [...] auf irgendeine Art bestraft wird, die der Präsident [=Banda] jeweils für sinnvoll ansieht" (S. 16). Damit unterwarf man sich mit dem Parteieintritt "freiwillig" der Willkür Bandas. Was genau "illoyal" ist, wurde natürlich von der Parteispitze willkürlich entschieden; so beschreibt Carver eine Fülle von Fällen, in denen Banda Mitglieder der Parteiführung verfolgen ließ. Es ist aber für Christen nicht möglich, sich einem derartigen Autoritätsanspruch zu unterwerfen, da sie "Gott mehr gehorchen müssen als Menschen" (Apostelgeschichte 5,28f).
Die Parteimitgliedkarte enthielt genau diese Forderung nach absolutem Gehorsam: Die Karte enthielt folgende Formulierung:
Es ist natürlich auch hier möglich, dass die Kritiker diesen Anspruch Bandas nicht kannten. Aber wer keine Ahnung hat, sollte besser nicht andere kritisieren, die wie die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas hier einfach einen vollkommen überzogenen Machtanspruch zurückweisen. Sollten die Kritiker aber selber genau wissen, was für eine Form von Herrschaft die leitende Körperschaft hier ablehnte, dann machen sie sich der Täuschung ihrer Leserschaft schuldig, da sie genau den entscheidenden Punkt auslassen, der ihrer Kritik den Boden unter den Füßen wegzieht. In beiden Fällen ist die Kritik dadurch natürlich entwertet, da sie nicht auf Tatsachen beruht, sondern auf einer sorgfältig ausgewählten "alternativen Realität".
Beide Vorwürfe beruhen auf der Annahme, dass der Leitung der Zeugen Jehovas das Leid der Gläubigen wirklich egal war. Das wird aber immer unterstellt, aber nie gezeigt. In der Realität hat die leitende Körperschaft alles unternommen, was in ihrer Macht stand, um den Glaubensbrüdern in Malawi zu helfen. Das war allerdings nicht viel. Denn in Malawi gab es keine Öffentlichkeit, an die man hätte appellieren können und auch im "Westen" verhallten alle Hilferufe ungehört. Obwohl Banda extrem von ausländischer Hilfe abhängig war, die er vor allem von Staaten wie den USA, Großbritannien, Japan oder Bundesrepublik Deutschland erhielt (Carver, S. 7f), waren die entsprechenden Regierungen bis in die neunziger Jahre nicht bereit, ihre Hilfe von der Beachtung der Menschenrechte abhängig zu machen. So hat Human Rights Watch noch 1990 appelliert, dass die US-Regierung "anfangen[!] sollte, gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren".
Zeugen Jehovas standen hingegen keinerlei Druckmittel zu Verfügung. Sie konnten nur an die Weltöffentlichketi appellieren, aber diese Appelle blieben ungehört, da Machterhalt im kalten Krieg allen Beteiligten wichtiger waren als Menschenrechte. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo es möglich war, Hilfslieferungen an die Betroffenen zu schicken, haben Zeugen Jehovas diese Möglichkeit genutzt.
Eigentlich steht hinter diesen Vorwürfen aber noch ein anderes Argument: Wenn die leitende Körperschaft den Gläubigen erlaubt hätte, die Karte zu kaufen, dann wäre alles gut gewesen. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass man sich damit das Leben viel zu einfach macht. In Wirklichkeit ging das nicht. Damit sind diese Vorwürfe aber haltlos, da sie Handlungsalternativen suggeriert, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren.
Damit sollte klar sein, dass Zeugen Jehovas aufgrund der Realität im Lande und aufgrund ihrer realen Glaubenslehre keine Möglichkeit hatte, der Verfolgung in Malawi auszuweichen ohne ihren Glauben aufzugeben.
Wichtig ist hier erst einmal die Frage: Was genau muss ein vernünftiger säkularer Standpunkt alles beinhalten, damit er ethisch angemessen ist? Die Kritik an Zeugen Jehovas stellt darauf ab, dass man nichts tun sollte, was das Leben der eigenen Gläubigen gefährdet. Wenn das alles wäre, dann könnte man natürlich die leitende Körperschaft von diesem Standpunkt aus kritisieren. Denn natürlich hat die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas in Malawi dazu geführt, dass Leben und körperliche Unversehrtheit der Gläubigen verletzt wurden. Wenn Zeugen Jehovas nicht Menschenverehrung und absoluten Gehorsam einem Menschen gegenüber verweigert hätten, dann hätte sich ihr Schicksal wohl kaum von dem anderer Einwohner unterschieden. Wie wir sahen, war das keine Garantie dafür, dass man in Ruhe gelassen wurde, aber es erhöhte die Chancen.
Es gibt allerdings noch einen weiteren Aspekt, den man hierbei nicht vergessen darf, und das sind die Menschenrechte. Wie wir bereits sahen, gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass Banda ein totalitärer Diktator war, der von seinen Landsleuten absoluten Gehorsam forderte. Wie Carver und andere im Detail beschreiben, gehörten Menschenrechtsverletzungen in Malawi zum Alltag. Willkürliche Verhaftungen, Folter, Mord, Schauprozesse, Vertreibungen, Zensur und Vergewaltigungen sind gut dokumentiert. Menschenrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf einen fairen Prozess, auf die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Briefgeheimnis waren in Malawi außer Kraft gesetzt.
Und damit muss man die Frage anders stellen, als sie von den Kritikern gestellt wird, nämlich: Wie ist die angemessene Reaktion gegenüber einem Staat, der seinen Bürgern die grundlegendsten Menschenrechte vorenthält? Es ist natürlich möglich, dass man sich sein Leben in einer solchen Diktatur durch Konformismus erkauft, dadurch dass man tut, was der Diktator fordert. Aber einer der Gründerväter der USA, Benjamin Franklin merkte an: "Wer wesentliche Freiheiten für zeitweilige Sicherheit aufgibt, verdient weder das eine noch das andere", und wird im Endeffekt beide verlieren, wie in den USA häufig zu diesem Zitat hinzugefügt wird.
Und das ist eine Tatsache, die sich in allen Diktaturen dieser Welt immer wieder aufs neue bestätigt. Was der Diktator will, um seine Macht zu erhalten, sind Untertanen, die ihm aufs Wort gehorchen. Um seine Untertanen in diesem Zustand zu halten, benutzt er gezielt die Androhung von Gewalt gegen jeden, der abweichend denkt und handelt oder auch nur seine Autorität leugnet, allen denken und handeln vorschreiben zu dürfen. In dem Augenblick, wo der einzelne seine Freiheit aufgibt und sich diesem Druck beugt, wird er zum einen zum willenlosen Spielball in der Hand des Diktators und zum zweiten wird er Bestandteil des Apparates, der den Diktator an der Macht erhält.
Und im Endeffekt gewinnt er nicht die Sicherheit, die er sich eigentlich erhofft. Carver beschreibt den Fall vollkommen regimetreuer Journalisten, die den Fehler machten, wahrheitsgetreu eine Propagandarede der "offiziellen Geliebten" des Präsidenten wiederzugeben. Da aber diese sich später einen Punkt der Rede anders überlegte, wurden die Journalisten wegen "falscher Berichterstattung" inhaftiert. Auch selbst nachdem sie später wieder frei kamen, waren sie natürlich ihren Job los (S. 79f). Selbst absolute Linientreue war also keine Garantie für Freiheit und Sicherheit.
Wie wir bereits gesehen haben, war die Parteimitgliedskarte ein äußeres Symbol dieses Zustands. Durch den Kauf und den täglichen Gebrauch erklärte sich der einzelne einverstanden damit, dass er keine Menschenrechte hatte und zu absolutem Gehorsam verpflichtet war. Wie oben bereits erläutert, enthielt die Karte ausdrücklich die Verpflichtung ihres Trägers zu absolutem Gehorsam gegenüber der Partei und damit auch gegenüber dem Präsidenten; damit war automatisch der Verzicht auf alle Menschenrechte verbunden, die der Präsident nicht zugestehen wollte. Vor diesem Hintergrund war also die Frage, ob man die Parteimitgliedskarte kaufte, in Wirklichkeit eine Frage danach, ob man "freiwillig" auf die eigenen Menschenrechte verzichten kann, darf oder soll. Die eigentliche Alternative bestand also darin, entweder auf die Menschenrechte freiwillig zu verzichten oder aber sofort das Opfer direkter Menschenrechtsverletzungen zu werden. Carver zeigt anhand von zahlreichen Beispielen, wie Bandas Regime gezielt die Artikel 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 17, 18, 19, 20 und 21 der Erklärung der Menschenrechte verletzte und hierfür die Gefolgschaft aller seiner "Untertanen" einforderte.
Und damit lautet die grundlegende Frage: Darf man jemanden auffordern, auf die eigenen Menschenrechte zu verzichten? Die Erklärung der Menschenrechte sagt in der Präambel, dass diese Rechte "angeboren" und "unveräußerlich" sind. Wenn die leitende Körperschaft es den Gläubigen "freigestellt" hätte, ob sie die Karte kaufen wollen, dann hätte sie damit indirekt gesagt: "Eure Menschenrechte sind veräußerlich; ihr müsst selbst entscheiden, ob ihr sie verkaufen wollt oder nicht". Dies hätte man zurecht als zynisch und verwerflich kritisieren können. Aber genau diesen Standpunkt hat die leitende Körperschaft nicht eingenommen.
Hingegen müssen die Kritiker der leitenden Körperschaft genau diesen abartigen Standpunkt einnehmen, wenn sie überhaupt etwas kritisieren wollen. Denn wenn die Menschenrechte unveräußerlich sind, dann kann und darf man niemanden auffordern, diese Rechte aufzugeben. Aber der grundlegende Kritikpunkt lautet ja: "Die leitende Körperschaft hätte die Gläubigen nie davon abhalten dürfen, den Parteiausweis zu erwerben." Das heißt aber mit anderen Worten: "Die leitende Körperschaft hätte die Gläubigen nie davon abhalten dürfen, ihre Menschenrechte aufzugeben." Wer so argumentiert, der behandelt die Menschenrechte als verkäuflich. Aus diesem Grund gehen die Kritiker auch sehr wenig bis gar nicht auf die real vorhandenen Verhältnisse in Malawi ein, sondern konstruieren die oben beschriebene Scheinwelt, in der alle Menschenrechtsverletzungen ignoriert und verharmlost werden und in der die entscheidenden Punkte unter den Teppich kehren, die jeden Zeugen Jehovas dazu bringen würden, von sich aus den Kauf der Parteimitgliedskarten zu verweigern.
Ich darf daher einfach fragen: Vergessen die Kritiker diese Punkte absichtlich oder haben sie bloß keine Ahnung? Wenn sie die Fakten absichtlich unter den Teppich kehren, dann stimmt ganz offensichtlich etwas nicht mit ihrem ethischen Kompass. Wenn sie aber trotz Unwissen derartige Angriffe starten, wie ernst darf man sie dann nehmen? Und wenn sie (entgegen meinen oben genannten Ergebnissen) die Fakten auf ihrer Seite haben, wieso nennen sie sie dann nicht? Man kann diese Fragen nicht endgültig beantworten, ohne den entsprechenden Personen in den Kopf zu schauen. Und im Endeffekt ist es auch nicht erforderlich. Denn egal, welche Alternative man bevorzugt, es bleibt dabei, dass man sich eine Scheinwelt aufbauen muss, um im behandelten Thema die leitende Körperschaft zu kritisieren.
Hat die leitende Körperschaft überhaupt die Möglichkeit gehabt, auf die Gläubigen Druck auszuüben? Es wird behauptet, dass die Gläubigen den Kauf des Parteiausweises vor allem aufgrund der Anweisungen der Wachtturmgesellschaft und wegen der Drohung mit dem Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft (und dem damit verbundenen Kontaktabbruch) verweigerten. In der Realität kann das nicht stimmen. Spätestens seit 1967 gab es nur noch sporadische Kontakte der malawischen Zeugen Jehovas ins Ausland. Die Kontaktpflege der Gläubigen im Land war schwierig und meist mit erheblichen Gefahren für den einzelnen verbunden. Unter diesen Umständen war eine "Drohung mit Kontaktabbruch" keine Drohung sondern nur die Fortschreibung des ohnehin bestehenden (vom Staat erzwungenen) Ist-Zustands. Daher kann das Verhalten der einzelnen Gläubigen nicht auf Zwang seitens der leitenden Körperschaft beruhen.
Zeugen Jehovas hatten auch keine echten Druckmittel gegenüber Banda und seinem Staat. Das einzige Mittel, das sie hatten, war die Öffentlichkeit. Hiervon machten sie, so weit es ging, Gebrauch. Jede der Verfolgungswellen wurde international öffentlich gemacht, und die Leser der entsprechenden Artikel wurden gebeten, Protestbriefe an die malawische Regierung zu senden. Weitergehende Möglichkeiten standen Zeugen Jehovas nicht zur Verfügung.
Andererseits wären die Verfolgungsmaßnahmen gegen Zeugen Jehovas vermeidbar gewesen (oder zumindest hätte man sie erheblich abschwächen können), wenn die Geldgeber der malawischen Regierung entsprechenden Druck ausgeübt hätten. Malawi war (und ist) einer der ärmsten Staaten der Welt und war von Entwicklungshilfe abhängig. Aufgrund der politischen Orientierung erhielt Malawi Entwicklungshilfe vor allem von Staaten, die angeblich die Menschenrechte hoch hielten. Carver nennt vor allem die USA, Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland und Japan (S. 7). Diese Staaten waren über die Menschenrechtsverletzungen gut informiert. Human Rights Watch stellte aber noch 1989 eine "unkritische Unterstützung" Malawis durch die USA fest. Die anderen westlichen Staaten reagierten ähnlich. Hier bestand die realistische Möglichkeit, Menschenrechtsverletzungen zu beenden oder erheblich einzuschränken, ganz einfach dadurch, dass man die Hilfe an die Bedingung geknüpft hätte, dass die Empfänger die Menschenrechte einhalten müssen. Im kalten Krieg bestand aber anscheinend kein Interesse hieran.
Wem wirklich am Wohl der einzelnen Gläubigen in Malawi gelegen ist, der hätte hier einen echten Kritikpunkt. Seltsamerweise kommt aber keiner der Kritiker darauf, hier mit der Kritik anzufangen. Das zeigt mir, dass allem Anschein nach nicht das Wohl des Einzelnen Anstoß zur Kritik ist, sondern eher der Wille, die öffentliche Meinung über Zeugen Jehovas negativ zu beeinflussen.
Einige Kritiker gehen daher etwas anders vor, sie lassen offen, ob die leitende Körperschaft in Malawi richtig gehandelt hat, kritisieren aber, dass es sich um ein Beispiel von Doppelmoral gehandelt habe, da sie die gleichen Grundsätze an anderen stellen der Erde ignoriert hätten. Das will ich dann im nächsten Beitrag zu dieser Frage betrachten.
[Fortsetzung]
Ein Wort vorab: ich habe hier sehr häufig aus zwei Quellen zitiert, die ich mit "Carver" und "Powers" abkürzte; im ersten Beitrag habe ich diese Quellen genau benannt.
Noch ein Wort vorab: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit diversen Vorwürfen gegen Zeugen Jehovas bzw. ihre religiöse Leitungsgremien. Im Endeffekt bin ich zum Ergebnis gekommen, dass die Vorwürfe nicht darauf beruhen, dass die Leitung der Zeugen Jehovas sich falsch verhalten hat, sondern darauf, dass die Kritikpunkte nur in einer Scheinwelt bestehen können, die erhebliche Teile der Realität ausblendet.
Vorgeschichte
Malawi, das vormalige Nyassaland, wurde 1964 nach längerem Kampf von Großbritannien unabhängig. Der Kampf wurde wurde im wesentlichen von NAC geführt, der malawischen Unabhängigkeitsbewegung, aus der im Jahr 1960 die MCP (Malawi Congress Party) hervorging, die dann ab 1966 ab alleinige politische Partei des Landes zugelassen war.
Präsident Banda regierte als totalitärer Diktator über Malawi (Quelle Landkarte: wikimedia) |
Präsident Banda und die MCP forderten, dass alle Landesbürger Mitglied der Staatspartei würden. Zeugen Jehovas verweigerten dies bis auf Einzelfälle geschlossen. In der Folge wurden Zeugen Jehovas mehrmals (1964, 1967, 1972 und 1975) das Ziel landesweiter Pogrome, bei denen insgesamt tausende Frauen Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden, wahrscheinlich hunderte Personen umgebracht wurden, tausende Häuser und Felder enteignet wurden, die große Mehrheit der Zeugen Jehovas ihren Arbeitsplatz verloren und praktisch alle Zeugen Jehovas mehrmals aus dem Land fliehen mussten. Schläge und andere Formen der Folter waren üblich.
Die Nachbarländer (Mosambik und Sambia) weigerten sich, die Flüchtlinge aufzunehmen, und trieben sie wieder zurück, woraufhin der Kreislauf der Gewalt wieder von vorne begann. Ab 1975 waren tausende Zeugen unter zum Teil unmenschlichen Haftbedingungen inhaftiert. Im Laufe der achtziger Jahre verbesserten sich die Lebensbedingungen für die Zeugen Jehovas dann allmählich. Nach 1994 wurden sie dann wieder als Religionsgemeinschaft zugelassen und die Verfolgungsmaßnahmen endeten.
Vor diesem Hintergrund wird der religiösen Leitung der Zeugen Jehovas (der leitenden Körperschaft) vorgeworfen, dass sie an den Verfolgungsmaßnahmen eine Mitschuld (oder nach einigen Kritikern sogar die Alleinschuld) trägt. Im Kern konzentrieren sich diese Anschuldigungen auf folgende Überlegung:
Zeugen Jehovas weigerten sich, die Parteimitgliedskarten der Staatspartei MCP zu erwerben. Diese Weigerung war Anlass für die beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen. Wenn die leitende Körperschaft den Gläubigen erlaubt hätte, die Karten zu kaufen, dann hätte es keine Verfolgung gegeben. Also ist gemäß den Vorwürfen die Weigerung der leitenden Körperschaft, dies zu erlauben, Ursache der Verfolgung. Und, so weiter der Vorwurf, es gibt in der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas genügend Möglichkeiten, die es erlaubt hätten, den Kauf der Parteimitgliedskarten zu gestatten. Ein Verbot wäre gar nicht erforderlich gewesen.
Daher will ich mir diese Punkte jetzt im Detail betrachten. Welche Begründung gaben Zeugen Jehovas für ihre Weigerung an? Im Erwachet vom 22.03.1976, S. 25 heißt es dazu beispielsweise:
Jehovas Zeugen halten aber in Malawi — wie anderswo — konsequent an ihrer Neutralität in politischen Angelegenheiten fest. Diese Haltung stützt sich auf die Bibel. Jesus sagte von seinen Nachfolgern: „Sie [sind] kein Teil der Welt . . ., so, wie ich kein Teil der Welt bin“ (Joh. 17:14). Aus diesem Grunde weigern sie sich, Parteimitgliedskarten der herrschenden „Malawi Congress Party“ zu erwerben,...Diese Behauptung wird nun auf verschiedene Weise kritisiert.
Neutralität und Staatspartei
So soll das Gebot, politisch neutral zu leben, nicht anwendbar sein, wenn es in einem Land nur eine Staatspartei gibt. Es wird argumentiert, dass dann Partei und Staat sozusagen nicht mehr unterschieden werden können: Da die Partei so eng mit dem Staat verbunden ist, macht es keinen Unterschied, ob eine Anweisung von der Partei kommt, oder ob es sich um ein Gesetz des Staates handelt. In jedem Fall handele es sich daher um "obrigkeitliche Gewalten", wie dies in Römer Kapitel 13 ausgedrückt wird. Und Zeugen Jehovas gehorchen anderswo auch dem Staat. Ein Kritiker drückt dies wie folgt aus:In Malawi gab es zu der Zeit ein Ein-Parteien-System, so dass diese Karte lediglich benötigt wurde um damit zum Ausdruck zu bringen, dass man staatstreu wäre.Dieses Argument ist aus mehreren Gründen falsch. Zwar stimmt es, dass Zeugen Jehovas Römer 13 (und eine Reihe anderer Bibeltexte) als göttliches Gebot verstehen, der jeweiligen Regierung und den Behörden des Staates zu gehorchen, aber damit ist das Thema noch lange nicht geklärt.
Die erste Frage, die gestellt werden müsste, aber von den Kritikern an der leitenden Körperschaft nicht gestellt wird, lautet: Warum gab es denn in Malawi nur eine Partei, die mit dem Staat praktisch identisch war? Es ist kaum realistisch, dass die Bevölkerung Malawis komplett einer Meinung in politischen Fragen war und daher alle aus eigenem Antrieb nur diese Partei wollten.
Einen Wink mit Zaunpfahl bekommen wir im Buch von Carver (S. 12), wo eine Aussage von Präsident Banda zur politischen Opposition wiedergegeben wird:
Diese Leute [politische Gegner] sind jetzt wilde Tiere. Sie müssen vernichtet werde. Ich rede nicht um den heißen Brei herum. Verhaftet sie; aber wenn sie sich der Verhaftung widersetzen, dann ist für mich alles in Ordnung, was ihr mit ihnen macht.Im Jahr 1966 sagte er (ebenda, S. 23):
Wenn ich 10.000 oder 100.000 einsperren muss, um politische Stabilität und eine effektive Verwaltung zu gewährleisten, dann werde ich es tun. Damit mich niemand falsch versteht: ich werde jeden einsperren lassen, der die politische Stabilität des Landes gefährdet.Das ist keine übertrieben "Parteitagsrhetorik" sondern war bitterer Ernst. Wie Carver an diversen Beispielen beschrieb, wurde jeder das Ziel von Verfolgungsmaßnahmen der Partei, wenn er in politischen Fragen eine abweichende Meinung vertrat. Der Verlust des Arbeitsplatzes war dabei nur der Anfang einer Kette von Maßnahmen, die über willkürliche Verhaftungen, Schauprozesse, Folter in Gefängnissen bis hin zu Hinrichtung, offenem politischen Mord und Terroranschlägen reichte. Ein Beispiel hierfür ist Mkwapatira Mhango ein Oppositionspolitiker im sambischen Exil, von dessen Ermordung durch einen Bombenanschlag (zusammen mit neun weiteren Toten) Human Rights Watch 1990 berichtete und Banda bzw. der MCP anlastete. Außerdem wird dort gesagt:
Banda führte 1989 eine Kampagne gegen angebliche [politische] Gegner durch, deren Schwerpunkt in Nordmalawi lag. Mindestens ein politischer Gefangener starb im Zuge dieser Aktion entweder durch Verhungern oder Folter, während viele weitere ohne Anklage in Haft bleiben. Obwohl als Dissidenten verdächtigte in Haft umkamen, es glaubwürdige Berichte schwerer Folter von Gefangenen gibt und hunderte aus dem Norden [Malawis] im Gefängnis sind, gibt es keinen öffentlichen Protest der USA wegen der Menschenrechtsverletzungen in MalawiIn einer Quelle wird dies wie folgt zusammengefasst:
Bandas Präsidentschaft ist von schwerer Repression gekennzeichnet. Politische Rivalen wurden durch Exil, Haft und außergerichtliche Hinrichtungen [lies: Mord] eliminiert.
Unter Bandas Regime hatte die Gewalt sich zu Staatsterrorismus entwickelt. Ein Personenkult verbunden mit dem vollen Einsatz von Unterdrückungsmaßnahmen, eine 'Sicherheitsabteilung', die die Menschen ausspionierte sowie Festnahme und Eliminierung aller, die aus der Reihe tanzten, sorgte dafür, dass es keine Änderung oder Herausforderung für Bandas "eigentümlichen und despotischen Führungsstil" gab. "Bandas Macht war so weit frei von Verantwortung, dass abertausende unschuldiger Menschen verhaftet, gefoltert und ermordet wurden... ohne dass irgendwelche Fragen gestellt wurden".Die Staatspartei war hierbei Nachrichtendienst zur Überwachung der Gesinnung der Bevölkerung und Vollstreckungsinstrument in einem (Carver, S. 15). Die Parteimiliz stand außerhalb des allgemeinen Rechts: Verhaftungen der Parteimizionäre durften von der Polizei nicht angezweifelt oder überprüft werden. Die Parteimiliz konnte praktisch jeden unter jeglichem Vorwand verhaften, ohne dass die Betreffenden irgendeine Möglichkeit hatten, dagegen vorzugehen. Polizei, Gerichte und Behörden waren in einem solchen Fall einfach nicht zuständig. Parteimilizionäre standen außerhalb der normalen Strafverfolgung. Hierzu wieder Originalton Banda (Carver S. 15):
"Kein MYP-Mitglied [Parteimiliz] darf von der Polizei ohne meine Zustimmung verhaftet werden... Wenn ein MYP-Mitglied jemanden verhaftet und zur Polizeiwache bringt, darf der Verantwortliche Polizist ihn nicht freilassen... Wenn er ihn freilässt, begeht er ein Verbrechen."Es überrascht nicht, dass diese Berechtigung, Verhaftungen vorzunehmen unter diesen Umständen "vollkommen willkürlich gehandhabt wurde" (Carver, S. 24).
Banda ließ jede politische Opposition eliminieren |
Damit ist auch klar, dass niemand, der Mitglied der MCP wurde, "politisch neutral" bleiben konnte. Er war Mitglied in einer Organisation, die abweichende politische Meinungen unterdrückte. Damit unterstützte das Mitglied automatisch die politische Seite der MCP und damit Banda. Abgesehen davon, dass der einzelne damit Unterstützer für jede Menge Menschenrechtsverletzungen wurde, war ihm auch klar, dass er selbst linientreu bleiben musste, um nicht selbst das Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden.
Oppositionelle wurden inhaftiert,... ...gerne auch ohne Prozess und Möglichkeit, einen Anwalt zu bekommen |
Es gibt aber natürlich noch eine weitere Möglichkeit, die zumindest für einen Teil der Kritiker zutrifft. Denn zumindest einige Kritiker behaupten, dass sie Zugriff auf "Insiderwissen" hätten bezeihungsweise die entsprechenden Vorgänge in Malawi genau zu verfolgt zu haben und die entsprechenden Vorgänge genau kannten. Trotzdem stellen sie (zumindest in diesem Punkt hier) Behauptungen auf, die offensichtlich falsch sind. Wenn aber Unwissenheit nicht Ursache des Problems sein kann, dann muss es die Absicht sein, die Kritik entgegen anders lautendem eigenen Wissen zu verbreiten. Welche Intention dahinter liegt, kann man natürlich nur raten, aber es sollte niemandem schwer fallen, eine realistische Möglichkeit zu finden. Welche Möglichkeit das aber auch immer ist, sie disqualifiziert den entsprechenden Kritiker als ernstzunehmenden Gesprächspartner in dieser Frage. Denn wie soll man jemandes Behauptungen trauen, wenn diese absichtlich dem eigenen Wissen entgegenstehen?
Menschenanbetung
In verschiedenen Ausgaben des Erwachet! wurde die Parteimitgliedschaft in der MCP mit der Kaiser-Verehrung verglichen, die das römische Reich im ersten Jahrhundert von den Christen forderte und die zu ähnlichen Verfolgugnswellen führte wie in Malawi. Dieser Vergleich wird als unzutreffend kritisiert. So heißt es z.B.:Das Darbringen von Weihrauch auf dem Altar [für den römischen Kaiser] wurde ganz sicher als Akt der Anbetung angesehen. War aber der Kauf einer Parteimitgliedskarte genauso zweifelsfrei ein Akt der Anbetung? Ich fand nichts, das diesen Gedanken eindeutig nahelegte. Handelte es sich dann aber um eine Verletzung der christlichen Neutralität, einen Bruch der Lauterkeit gegenüber Gott?Gab es in Malawi ein Problem mit Menschenanbetung? Allem Anschein nach gab es sogar ein sehr intensives Problem. Der Personenkult um Banda wird von vielen unabhängigen Quellen geschildert (z.B. Powers, Seite 27,135,150ff,17). So schreibt eine Quelle:
Ein grotesker Personenkult um den "Ngwazi" (Chichewa für Erlöser) verklärte den kleinwüchsigen Arzt zu einem gottähnlichen Idol.Also selbst eine Quelle, die mit Zeugen Jehovas anscheinend nicht das geringste zu tun hat, meint, dass Banda sich eine gottähnliche Position anmaßte. Diese Anmaßung machte sich auf verschiedenste Weise im täglichen Leben bemerkbar. Wie von einem Blogger beschrieben, war es Gesetz, dass jede Behörde und jedes Geschäft ein Bild des Diktators aufhängen musste. Powers (S.201) führt aus, dass der Name des Präsidenten allgegenwärtig war: Gebäude, Straßen und andere öffentliche Einrichtungen waren nach ihm benannt. Auch sein Bild war überall zu sehen, nicht nur auf öffentlichen Gebäuden sondern auch auf Geldscheinen und vor jedem Kinofilm (Fernsehen gab es nicht).
[Hervorhebungen von mir]
Banda gab sich eine Reihe von Ehrentiteln, die deutliche Anklänge an messianische Titel der Bibel enthielten. Folgende Beschreibung kann als Beispiel dienen:
[Bandas] übliche Ehrennamen waren u.a. Ngwazi (Eroberer oder Häuptling der Häuptlinge [vgl. Offenbarung 19,16]), Mpulumutsi (Retter, Heiland [die Anspielung ist offensichtlich]), Wamuyaya (Präsident auf Lebenszeit) und Nkhoswe (Nummer Eins). Alle staatlichen Einrichtungen mussten ihn als "Seine Exzellenz, der Präsident auf Lebenszeit, Ngwazi Dr. H. Kamuzu Banda" benennen.Dieselbe Quelle führt ebenfalls aus:
Er nannte sich den Vater der Nation und zwar auf eine Weise, die einen seltsam an die Dreieinigkeit erinnerte; seine Macht beruhte darauf, dass er die Nation verkörperte, während er ihr einziger Vorvater war.In einem weiteren Bericht über Banda wird gesagt:
Er umgab sich mit hunderten von Frauen, deren Kleidung sein Bild trug, und die [für ihn] tanzten und Lobeshymnen sangen. In ihrer Gegenwart wurde er sichtlich erregt.Wie Carver (S. 20f) ausführt, werden die Sängerinnen und Tänzerinnen von CCAM (Frauenentwicklungsorganisation) zur Verfügung gestellt. Powers (S. 201) nennt die häufigen organisierten öffentlichen Auftritte der mbumba-Tänzerinnen einen "liturgischen Kalender", was andeutet, dass die Huldigung offen religiöse Züge annahm.
Wie Powers beschreibt, war es auch obligatorische Pflicht jedes Staatsbürgers am Straßenrand zu stehen und zu jubeln, wenn der Präsident vorbeifuhr (S. 201).
Auch für Politiker in Malawi gehörte es nicht nur zum guten Ton, sondern es war Pflicht, Banda zu huldigen. Carver zitiert eine Lobeshymne aus dem Parlament (S. 13f), wobei auch hier wieder die messianischen Untertöne deutlich sind (Führer, Löwe von Malawi, vgl. Matthäus 23,10 NWÜ; Offenbarung 5,5):
Es gibt vieles, was unseren großen Führer groß macht- in Malawi, in Afrika und in allen Ländern unter der Sonne, die wichtig sind. Ich will nur einige Dinge nennen, die unseren Führer, den Löwen von Malawi zum größten Mann machen: Er ist ein aufrechter Christ. Er ist ein außerordentlich mutiger Mann. Er ist der größte Gelehrte und Historiker. er ist der größte Staatsgründer, den Malawi jemals hatte. Er ist der größte Redner in Malawi, wenn nicht in der ganzen Welt. Er ist der größte Lehrer.Diese Beispiele reichen aus zu zeigen, dass Banda sich mit einem intensiven Personenkult umgab, der religiöse Züge annahm. Banda forderte von seinen Bürgern gottähnliche oder messianische Verehrung, die sich in Titeln, Bilderverehrung, religiösen Zeremonien zu seinen Ehren (mbumba, s.o.) und Lobeshymnen für ihn ausdrückten.
Natürlich war es für Zeugen Jehovas unannehmbar, an derartigen Zeremonien teilzunehmen. Genauso wenig, wie sie eine Generation vorher in Deutschland ihr Heil auf Hitler zurückführen konnten, konnten sie in Malawi Banda vergleichbare Ehrerbietung erweisen, ohne dass sie gegen diverse ausdrückliche biblische Gebote verstoßen hätten. Die Ehrerbietung, die Banda forderte, ging weit über alles hinaus, was ein Staatsoberhaupt von seinen Untertanen legitim fordern konnte.
Eine MCP-Mitgliedskarte mit Bild des Präsidenten |
Wie Carver (S. 13) beschreibt, war die MCP zentraler Bestandteil von Bandas "stark [auf ihn natürlich] personalisierten autokratischen Herrschaftssystem" und damit natürlich auch integraler Bestandteil des Personenkults um Banda.
Nach Powers lautete einer der Parteislogans (S. 157): "Ein Führer, eine Partei, ein System, keine Opposition". Er erklärt (S. 156): "Banda und andere transformierten die MCP in einen Machtapparat, der unmittelbar verbunden war mit Persönlichkeit und Autorität ihres Führers.
Demnach war die Partei nicht unabhängig von Banda, sondern integraler Bestandteil des Personenkults. Auch die Parteimitgliedskarte enthielt das Bildnis des Präsidenten, das als Symbol des Personenkults diente. Wer also eine Parteimitgliedskarte kaufte, verstand deutlich, dass die Loyalität, die auf der Innenseite von den Parteimitgliedern gefordert wurde, eine absolute Loyalität gegenüber Präsident Banda war und damit genau die Loyalität, die Christen einzig für Gott reservieren dürfen. Die Parteimitgliedskarte selbst war Symbol des Personenkults.
Damit sollte klar sein, dass die eingangs zitierte Frage nach den Parallelen zwischen der Situation in Malawi und dem Kaiserkult im alten Rom nur gestellt werden können, wenn man entweder keine Ahnung davon hat, was in Malawi so vor sich ging, oder aber wenn man es ignorieren will. Es ist klar, dass der Kauf einer MCP-Karte zum Ziel hatte, den Personenkult zu unterstützen, den die Partei um ihren Führer Banda organisierte. Auch hier disqualifiziert sich die Kritik entweder aufgrund von Unwissen oder weil sie versucht, den Leser irre zu führen.
Ausweis oder Parteimitgliedschaft?
Einige behaupten, dass die MCP-Parteimitgliedskarte in Wirklichkeit in Malawi als Ausweis gedacht war. So können wir im Internet in verschiedenen Kritiken lesen:Gleichzeitig hat man den Brüdern in Malawi verboten, eine “Parteimitgliedskarte” zu kaufen, die in Wirklichkeit ein einfacher Ausweis der Regierung war.Eine Begründung für diese Behauptung wird nicht gegeben und kann auch nicht gegeben werden. Der Sinn eines Ausweises besteht darin, dass der Inhaber sich damit "ausweisen" kann, er dient zum Nachweis der Identität des Besitzers. Die Parteimitgliedskarten konnten aus mehreren Gründen in keiner Weise dazu genutzt werden, die Identität des Inhabers festzustellen.
Nur weil sie nicht bereit waren eine Parteimitgliedskarte mit sich zu führen, obwohl es die einzige Partei im Land war und der Besitz dieser Karte nur als eine Art Ausweis gedient hat.
Zuerst einmal lag das Problem in der Art und Weise, wie die Karten verkauft wurden. Vielleicht stellen wir uns als Mitteleuropäer so vor, dass die Karten in irgendeinem Büro oder Amt "ausgestellt" wurden. Diese Vorstellung ist weit von der Realität entfernt. Der Verkauf der Karten wird wie folgt beschrieben (Powers, S.178):
Mitglieder der MCP-Jugendliga stellten sich an Märkten und Bushaltestellen auf, und verlangten, dass die Passanten Parteikarten kauften.Die Karten wurden auf offener Straße an Passanten verkauft, deren Identität gar nicht bekannt war. Zwar enthielten die Karten ein Feld, um den Namen des Inhabers einzutragen; aber selbst wenn die Karte beim Verkauf vollständig ausgefüllt worden wäre, hätte es keine Garantie dafür gegeben, dass die Angaben richtig waren.
In Bandas Gefängnissen gehörte Folter zum Alltag |
Parteimitgliedschaftskarten wurden auch "an" Neugeborene und sogar noch ungeborene Kinder verkauft (oder vielmehr an die Eltern, siehe Carver, S. 15,81). Es liegt auf der Hand, dass die Karte hierbei weder zur Identifizierung dienen konnte noch das dies Zweck des Verkaufs gewesen sein kann.
Welchem Zweck dienten die Karten dann, wenn es nicht als Ausweis war? Carver schreibt hierzu:
(S. 64) Häufige Kampagnen zum Verkauf von MCP-Karten waren eine wichtige Methode, die politische Kontrolle zu erhalten.Der grundlegende Sinn der Parteikarten war demnach nicht, den Inhaber zu identifizieren, sondern er bestand darin, jeden Bürger im täglichen Leben regelmäßig zu einer Loyalitätserklärung gegenüber dem Regime zu zwingen. Derartige Mittel werden von totalitären Regimen mit schöner Regelmäßigkeit angewandt, um bei den Untertanen Treue zu "erzeugen". Genauso wie ein Deutsche durch das tägliche "Heil Hitler" dutzende Male am Tag seine unbedingte Treue zum Regime ausdrückte, so drückte der Bürger Malawis seine (absolute) Treue gegenüber Banda aus, wenn er einkaufte, zum Arzt ging, mit dem Bus fuhr oder etwas auf einer Behörde erledigte.
(S.14) Parteimitgliedschaft ist essentiell für jede Form sozialen Aufstiegs, z.B. um einen Job in der Verwaltung zu bekommen. Auf einer noch grundlegenderen Ebene war die Parteikarte Voraussetzung, die Bedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Eine Reihe von Flüchtlingen und anderen Quellen hat ggü. Africa Watch beschrieben, dass die Karte nötig ist, um auf dem Markt einzukaufen oder zum Bus fahren.
Banda beanspruchte absolute Unterwerfung von Parteimitgliedern |
Die Behauptung, dass die MCP-Karte ein "einfacher Ausweis" wäre, erleichtert es, die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas für ihr Vorgehen zu kritisieren. Man muss sich keine (für das moralische Selbstwertgefühl unangenehmen) Fragen stellen, ob die Verwendung der Karten ethisch überhaupt annehmbar war oder ob sich die leitende Körperschaft nicht etwa gegen ein Repressionsmittel eines totalitären Regimes zu Wehr setzte. Vielmehr kann man so tun, als ob der Kauf der Karten ein ganz normaler alltäglicher Vorgang gewesen sei, den man mit dem Ausfüllen eines Formulars bei uns auf der Behörde vergleichen kann.
Erst diese Fiktion ermöglicht dann eine effektive Kritik an der leitenden Körperschaft; sie erlaubt es, die Schuld an den Menschenrechtsverletzungen von den Menschenrechtsverletzern auf die leitende Körperschaft umzuverteilen, ohne dass man sich im einzelnen über die Vorgänge Rechenschaft geben müsste. Derartige Behauptungen sind damit ein wichtiges Mittel zur Formulierung der Kritik. Daher scheint es in den ca. zwei Jahrzehnten, in denen diese Kritik geäußert wurde, auch kaum jemanden gegeben zu haben, der die Grundlage dieses Kritikpunktes jemals hinterfragt hätte.
Relativer Gehorsam oder absoluter?
Ich will nun noch einmal zu Römer 13 zurückkommen. Wie bereits gesagt, enthält dieser Text die Aufforderung an Christen, dem Staat als obrigkeitlicher Gewalt zu gehorchen. Wenn man sich die NWÜ an dieser Stelle ansieht, dann findet man den Ausdruck: "stehen in ihren relativen Stellungen als von Gott angeordnet". Wie wir gleich sehen werden, ist das Wort "relativ" entscheidend. Es überrascht mich daher auch nicht, dass genau hiervon in keiner Kritik die Rede ist. So kann man z.B. lesen:Staatsangehöriger ist man in jedem Fall. Von eben diesen politischen Staaten und deren Herrschern schreibt der Apostel Paulus in Römer, Kapitel 13, und ermahnt die Christen, ihnen als "Gottes Dienern" untertan zu sein. [...]Wie man deutlich sieht, taucht das Wort "relativ" in diesem Argument nicht auf (auch nicht im ausgelassenen Kontext). Dabei gibt dieses Wort ein entscheidendes Detail wieder (das eigentlich selbstverständlich sein sollte), nämlich dass ein Christ sich seiner Regierung nicht absolut unterordnen darf. Absoluten Gehorsam kann und darf er nur Gott leisten.
Die Herrschaft wird von der Malawi Congress Party ausgeübt; andere Parteien sind nicht zugelassen. Damit wird sie faktisch gleichbedeutend mit der Regierung, den "obrigkeitlichen Gewalten". Wenn jemand aber Staatsbürger und damit Mitglied des nationalen politischen Gemeinwesens sein konnte, ohne seine Lauterkeit gegenüber Gott zu verletzen, wie sollte dann die Lauterkeit verletzt sein, wenn man dem Verlangen der Regierung nach kam (das von allen Instanzen vom Staatsoberhaupt abwärts erhoben wurde), dass jeder eine Mitgliedskarte der herrschenden Partei erwerben solle? Damals wie heute frage ich mich, wo da überhaupt ein großer Unterschied liegt.
In unseren Breiten ist das heutzutage kein Problem mehr, da moderne Rechtsstaaten das Grundrecht auf Gewissensfreiheit anerkennen. In Malawi war das ein Problem. Wie beschrieb Banda selbst das damals existierende politische System (Carver, S. 14)?
Das System von Malawi besteht darin: Kamuzu sagt: Es ist so und damit ist die Sache erledigt. Ob es jemandem passt oder nicht: so wird das hier gemacht. Wir können es nicht zulassen, dass jeder entscheidet, was er tut.Mit anderen Worten, Banda beabsichtigte ein politisches System, in dem er unbeschränkte Entscheidungsgewalt hatte und die gesamte Bevölkerung sich seinen Entscheidungen unterzuordnen hatte. Die Bertelsmannstiftung bezeichnet dies als "extrem autoritäres Einparteien-Regime, dass auf [Bandas] persönliche Bedürfnisse zugeschnitten war" und in dem er eine "unbeschränkte Machtposition" innehatte. Diese Quelle beschreibt dies wie folgt: "Es wurde schnell klar, dass Banda seine Herrschaft als absolut betrachtete". Carver spricht von einem "totalitären Einfluss auf alle Aspekte des Lebens" (S. 21). Er zitiert auch folgende Beschreibung von Bandas Herrschaft (S. 22):
Zu dieser Zeit [ca. 1975] hat der Präsident ein Netzwerk umfassender und persönlicher Kontrolle etabliert, dass die volle Macht des Gesetzes hatte und trotzdem vollkommen willkürlich war. Er hat die Macht, einseitg zu erklären, wer Mitglied der Partei oder Parlaments ist oder auch nicht, die Macht zu entscheiden, ob jemand Anrecht auf ein Grundstück hat oder eine Firma gründen darf. Er konnte Menschen vor Gerichte bringen, die er aussuchte und die Verhandlung unter Umständen durchführen lassen, die den Angeklagten kaum eine Chance auf Freispruch gab; wurden sie wider Erwarten doch freigesprochen, konnte er entweder sofort ein neues Verfahren anordnen oder sie bis zu einem Verfahren in Haft lassen, dass stattfindet wann er es angemessen hält und unter Umständen, die er als angemessen betrachtet. Als Ergänzung seiner weitgehenden Macht hat er ein Quasi-Monopol auf die Medien und die Macht, jeden zu bestrafe, der irgendetwas sagt, was ihm nicht gefällt.Allem Anschein nach hatte Banda seinen totalitären Machtanspruch bei der großen Mehrheit der malawischen Bevölkerung durchgesetzt und bis kurz vor Ende seiner Herrschaft behalten. Nun kann ein Christ aber keinem Menschen das absolute Recht auf Herrschaft gewähren. Daher war auch dieser Aspekt der Herrschaft Bandas (der nebenher jegliche Form politischer Freiheit verneinte) für Zeugen Jehovas unannehmbar. Auch Bandas Gefolgsleute setzten Bandas Herrschaftsanspruch mit der Souveränität Gottes gleich; so berichtet z.B. Carver (S. 13) folgende Aussage eines malawischen Politikers:
Im Himmel gibt es keine Opposition. Gott will keine Opposition [...]. Warum sollte Kamuzu Opposition dulden?Aus dieser Aussage geht die vorherrschende Einstellung hervor, dass Bandas Autoritätsanspruch genau so hoch wie die Autorität Gottes anzusiedeln ist. Für Christen ist dies ein klarer Fall von Gotteslästerung und eine eben so klare Verletzung des Grundsatzes aus Apostelgeschichte 5,28f, "Gott mehr zu gorchen als Menschen".
Die Partei setzte Bandas Machtanspruch um |
Parteimitglieder unterwarfen sich in besonderem Maße diesem absoluten Machtanspruch. Carver beschreibt einen Parteitagsbeschluss, der besagt, dass "jedes Parteimitglied, das der Illoyalität schuldig ist, [...] auf irgendeine Art bestraft wird, die der Präsident [=Banda] jeweils für sinnvoll ansieht" (S. 16). Damit unterwarf man sich mit dem Parteieintritt "freiwillig" der Willkür Bandas. Was genau "illoyal" ist, wurde natürlich von der Parteispitze willkürlich entschieden; so beschreibt Carver eine Fülle von Fällen, in denen Banda Mitglieder der Parteiführung verfolgen ließ. Es ist aber für Christen nicht möglich, sich einem derartigen Autoritätsanspruch zu unterwerfen, da sie "Gott mehr gehorchen müssen als Menschen" (Apostelgeschichte 5,28f).
Die Parteimitgliedkarte enthielt genau diese Forderung nach absolutem Gehorsam: Die Karte enthielt folgende Formulierung:
Einheit, Loyalität, Gehorsam und Disziplin, die vier Grundsteine der Partei sind in der Partei jederzeit zu beachten.Nach dem vorgesagten ist selbstverständlich, dass hier absoluter Gehorsam und absolute Loyalität gegenüber den willkürlichen Anordnungen des Diktators gemeint sind und nicht die "normale" Form von Gehorsam, die jeder Staatsbürger den Gesetzes seines Landes schuldet. Daher ist es offensichtlich falsch, wenn ein Kritiker behauptet:
in der Karte stand bestimmt nichts, was gegen ihren Glauben sprachIn der Realität enthielt die Karte eine Erklärung, dass man Banda (und seiner Partei) eine absolute Machtposition zubilligt, die nicht nur alle Menschenrechte aufhebt sondern auch (aus Sicht des Christen) nur Gott zustehen kann und keinem Menschen. Und das Problem war nicht das einfache Kaufen der Karte; wie bereits beschrieben, musste die Karte bei jeder Gelegenheit vorgezeigt werden. Damit war der einzelne gezwungen, aus jedweder alltäglichen Handlung (wie dem Kauf eines Brotes) einen Akt der Unterwerfung unter Bandas perversen absoluten Herrschaftsanspruch zu machen. Daher kann die Kritik an der leitenden Körperschaft nur aufrecht erhalten werden, indem man genau diese Tatsache nicht zur Kenntnis nimmt.
Es ist natürlich auch hier möglich, dass die Kritiker diesen Anspruch Bandas nicht kannten. Aber wer keine Ahnung hat, sollte besser nicht andere kritisieren, die wie die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas hier einfach einen vollkommen überzogenen Machtanspruch zurückweisen. Sollten die Kritiker aber selber genau wissen, was für eine Form von Herrschaft die leitende Körperschaft hier ablehnte, dann machen sie sich der Täuschung ihrer Leserschaft schuldig, da sie genau den entscheidenden Punkt auslassen, der ihrer Kritik den Boden unter den Füßen wegzieht. In beiden Fällen ist die Kritik dadurch natürlich entwertet, da sie nicht auf Tatsachen beruht, sondern auf einer sorgfältig ausgewählten "alternativen Realität".
Rassismus und Wirtschaft
Zumindest einige Kritiker der Zeugen Jehovas beschreiben die angebliche Einstellung der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas gegenüber den Gläubigen in Malawi: "es sind ja 'nur' Afrikaner" oder "sie waren schwarz und weit weg von Brooklyn", womit angedeutet wird, dass der Leitung das Leben der Gläubigen egal war. Und zusätzlich wird damit unterstellt, dass die Nationalität bzw. Rassenzugehörigkeit Ursache für diese Haltung war. Andere unterstellen der leitenden Körperschaft, dass ihnen die Leiden der Gläubigen egal waren, da es dort wirtschaftlich nichts zu holen gab.Beide Vorwürfe beruhen auf der Annahme, dass der Leitung der Zeugen Jehovas das Leid der Gläubigen wirklich egal war. Das wird aber immer unterstellt, aber nie gezeigt. In der Realität hat die leitende Körperschaft alles unternommen, was in ihrer Macht stand, um den Glaubensbrüdern in Malawi zu helfen. Das war allerdings nicht viel. Denn in Malawi gab es keine Öffentlichkeit, an die man hätte appellieren können und auch im "Westen" verhallten alle Hilferufe ungehört. Obwohl Banda extrem von ausländischer Hilfe abhängig war, die er vor allem von Staaten wie den USA, Großbritannien, Japan oder Bundesrepublik Deutschland erhielt (Carver, S. 7f), waren die entsprechenden Regierungen bis in die neunziger Jahre nicht bereit, ihre Hilfe von der Beachtung der Menschenrechte abhängig zu machen. So hat Human Rights Watch noch 1990 appelliert, dass die US-Regierung "anfangen[!] sollte, gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren".
Zeugen Jehovas standen hingegen keinerlei Druckmittel zu Verfügung. Sie konnten nur an die Weltöffentlichketi appellieren, aber diese Appelle blieben ungehört, da Machterhalt im kalten Krieg allen Beteiligten wichtiger waren als Menschenrechte. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo es möglich war, Hilfslieferungen an die Betroffenen zu schicken, haben Zeugen Jehovas diese Möglichkeit genutzt.
Eigentlich steht hinter diesen Vorwürfen aber noch ein anderes Argument: Wenn die leitende Körperschaft den Gläubigen erlaubt hätte, die Karte zu kaufen, dann wäre alles gut gewesen. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass man sich damit das Leben viel zu einfach macht. In Wirklichkeit ging das nicht. Damit sind diese Vorwürfe aber haltlos, da sie Handlungsalternativen suggeriert, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren.
Damit sollte klar sein, dass Zeugen Jehovas aufgrund der Realität im Lande und aufgrund ihrer realen Glaubenslehre keine Möglichkeit hatte, der Verfolgung in Malawi auszuweichen ohne ihren Glauben aufzugeben.
Menschenrechte
Bis hier habe ich mich damit beschäftigt, wie die Angelegenheit aus Sicht der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas aussieht; das Ergebnis ist eindeutig. Aber das Leben besteht nicht nur aus Glaubenslehre, und ich nehme an, dass vielen diese Glaubenslehre herzlich egal ist. Daher ist auch die Frage interessant: Wie kann man das Vorgehen der leitenden Körperschaft von einem säkularen Standpunkt aus beurteilen und wie sieht aus derselben Perspektive das Vorgehen der Kritiker aus?Wichtig ist hier erst einmal die Frage: Was genau muss ein vernünftiger säkularer Standpunkt alles beinhalten, damit er ethisch angemessen ist? Die Kritik an Zeugen Jehovas stellt darauf ab, dass man nichts tun sollte, was das Leben der eigenen Gläubigen gefährdet. Wenn das alles wäre, dann könnte man natürlich die leitende Körperschaft von diesem Standpunkt aus kritisieren. Denn natürlich hat die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas in Malawi dazu geführt, dass Leben und körperliche Unversehrtheit der Gläubigen verletzt wurden. Wenn Zeugen Jehovas nicht Menschenverehrung und absoluten Gehorsam einem Menschen gegenüber verweigert hätten, dann hätte sich ihr Schicksal wohl kaum von dem anderer Einwohner unterschieden. Wie wir sahen, war das keine Garantie dafür, dass man in Ruhe gelassen wurde, aber es erhöhte die Chancen.
Es gibt allerdings noch einen weiteren Aspekt, den man hierbei nicht vergessen darf, und das sind die Menschenrechte. Wie wir bereits sahen, gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass Banda ein totalitärer Diktator war, der von seinen Landsleuten absoluten Gehorsam forderte. Wie Carver und andere im Detail beschreiben, gehörten Menschenrechtsverletzungen in Malawi zum Alltag. Willkürliche Verhaftungen, Folter, Mord, Schauprozesse, Vertreibungen, Zensur und Vergewaltigungen sind gut dokumentiert. Menschenrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf einen fairen Prozess, auf die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Briefgeheimnis waren in Malawi außer Kraft gesetzt.
Und damit muss man die Frage anders stellen, als sie von den Kritikern gestellt wird, nämlich: Wie ist die angemessene Reaktion gegenüber einem Staat, der seinen Bürgern die grundlegendsten Menschenrechte vorenthält? Es ist natürlich möglich, dass man sich sein Leben in einer solchen Diktatur durch Konformismus erkauft, dadurch dass man tut, was der Diktator fordert. Aber einer der Gründerväter der USA, Benjamin Franklin merkte an: "Wer wesentliche Freiheiten für zeitweilige Sicherheit aufgibt, verdient weder das eine noch das andere", und wird im Endeffekt beide verlieren, wie in den USA häufig zu diesem Zitat hinzugefügt wird.
Menschenrechtslogo (Quelle: Wikipedia) |
Und im Endeffekt gewinnt er nicht die Sicherheit, die er sich eigentlich erhofft. Carver beschreibt den Fall vollkommen regimetreuer Journalisten, die den Fehler machten, wahrheitsgetreu eine Propagandarede der "offiziellen Geliebten" des Präsidenten wiederzugeben. Da aber diese sich später einen Punkt der Rede anders überlegte, wurden die Journalisten wegen "falscher Berichterstattung" inhaftiert. Auch selbst nachdem sie später wieder frei kamen, waren sie natürlich ihren Job los (S. 79f). Selbst absolute Linientreue war also keine Garantie für Freiheit und Sicherheit.
Wie wir bereits gesehen haben, war die Parteimitgliedskarte ein äußeres Symbol dieses Zustands. Durch den Kauf und den täglichen Gebrauch erklärte sich der einzelne einverstanden damit, dass er keine Menschenrechte hatte und zu absolutem Gehorsam verpflichtet war. Wie oben bereits erläutert, enthielt die Karte ausdrücklich die Verpflichtung ihres Trägers zu absolutem Gehorsam gegenüber der Partei und damit auch gegenüber dem Präsidenten; damit war automatisch der Verzicht auf alle Menschenrechte verbunden, die der Präsident nicht zugestehen wollte. Vor diesem Hintergrund war also die Frage, ob man die Parteimitgliedskarte kaufte, in Wirklichkeit eine Frage danach, ob man "freiwillig" auf die eigenen Menschenrechte verzichten kann, darf oder soll. Die eigentliche Alternative bestand also darin, entweder auf die Menschenrechte freiwillig zu verzichten oder aber sofort das Opfer direkter Menschenrechtsverletzungen zu werden. Carver zeigt anhand von zahlreichen Beispielen, wie Bandas Regime gezielt die Artikel 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 17, 18, 19, 20 und 21 der Erklärung der Menschenrechte verletzte und hierfür die Gefolgschaft aller seiner "Untertanen" einforderte.
Und damit lautet die grundlegende Frage: Darf man jemanden auffordern, auf die eigenen Menschenrechte zu verzichten? Die Erklärung der Menschenrechte sagt in der Präambel, dass diese Rechte "angeboren" und "unveräußerlich" sind. Wenn die leitende Körperschaft es den Gläubigen "freigestellt" hätte, ob sie die Karte kaufen wollen, dann hätte sie damit indirekt gesagt: "Eure Menschenrechte sind veräußerlich; ihr müsst selbst entscheiden, ob ihr sie verkaufen wollt oder nicht". Dies hätte man zurecht als zynisch und verwerflich kritisieren können. Aber genau diesen Standpunkt hat die leitende Körperschaft nicht eingenommen.
Hingegen müssen die Kritiker der leitenden Körperschaft genau diesen abartigen Standpunkt einnehmen, wenn sie überhaupt etwas kritisieren wollen. Denn wenn die Menschenrechte unveräußerlich sind, dann kann und darf man niemanden auffordern, diese Rechte aufzugeben. Aber der grundlegende Kritikpunkt lautet ja: "Die leitende Körperschaft hätte die Gläubigen nie davon abhalten dürfen, den Parteiausweis zu erwerben." Das heißt aber mit anderen Worten: "Die leitende Körperschaft hätte die Gläubigen nie davon abhalten dürfen, ihre Menschenrechte aufzugeben." Wer so argumentiert, der behandelt die Menschenrechte als verkäuflich. Aus diesem Grund gehen die Kritiker auch sehr wenig bis gar nicht auf die real vorhandenen Verhältnisse in Malawi ein, sondern konstruieren die oben beschriebene Scheinwelt, in der alle Menschenrechtsverletzungen ignoriert und verharmlost werden und in der die entscheidenden Punkte unter den Teppich kehren, die jeden Zeugen Jehovas dazu bringen würden, von sich aus den Kauf der Parteimitgliedskarten zu verweigern.
Ich darf daher einfach fragen: Vergessen die Kritiker diese Punkte absichtlich oder haben sie bloß keine Ahnung? Wenn sie die Fakten absichtlich unter den Teppich kehren, dann stimmt ganz offensichtlich etwas nicht mit ihrem ethischen Kompass. Wenn sie aber trotz Unwissen derartige Angriffe starten, wie ernst darf man sie dann nehmen? Und wenn sie (entgegen meinen oben genannten Ergebnissen) die Fakten auf ihrer Seite haben, wieso nennen sie sie dann nicht? Man kann diese Fragen nicht endgültig beantworten, ohne den entsprechenden Personen in den Kopf zu schauen. Und im Endeffekt ist es auch nicht erforderlich. Denn egal, welche Alternative man bevorzugt, es bleibt dabei, dass man sich eine Scheinwelt aufbauen muss, um im behandelten Thema die leitende Körperschaft zu kritisieren.
Hat die leitende Körperschaft überhaupt die Möglichkeit gehabt, auf die Gläubigen Druck auszuüben? Es wird behauptet, dass die Gläubigen den Kauf des Parteiausweises vor allem aufgrund der Anweisungen der Wachtturmgesellschaft und wegen der Drohung mit dem Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft (und dem damit verbundenen Kontaktabbruch) verweigerten. In der Realität kann das nicht stimmen. Spätestens seit 1967 gab es nur noch sporadische Kontakte der malawischen Zeugen Jehovas ins Ausland. Die Kontaktpflege der Gläubigen im Land war schwierig und meist mit erheblichen Gefahren für den einzelnen verbunden. Unter diesen Umständen war eine "Drohung mit Kontaktabbruch" keine Drohung sondern nur die Fortschreibung des ohnehin bestehenden (vom Staat erzwungenen) Ist-Zustands. Daher kann das Verhalten der einzelnen Gläubigen nicht auf Zwang seitens der leitenden Körperschaft beruhen.
Zeugen Jehovas hatten auch keine echten Druckmittel gegenüber Banda und seinem Staat. Das einzige Mittel, das sie hatten, war die Öffentlichkeit. Hiervon machten sie, so weit es ging, Gebrauch. Jede der Verfolgungswellen wurde international öffentlich gemacht, und die Leser der entsprechenden Artikel wurden gebeten, Protestbriefe an die malawische Regierung zu senden. Weitergehende Möglichkeiten standen Zeugen Jehovas nicht zur Verfügung.
Andererseits wären die Verfolgungsmaßnahmen gegen Zeugen Jehovas vermeidbar gewesen (oder zumindest hätte man sie erheblich abschwächen können), wenn die Geldgeber der malawischen Regierung entsprechenden Druck ausgeübt hätten. Malawi war (und ist) einer der ärmsten Staaten der Welt und war von Entwicklungshilfe abhängig. Aufgrund der politischen Orientierung erhielt Malawi Entwicklungshilfe vor allem von Staaten, die angeblich die Menschenrechte hoch hielten. Carver nennt vor allem die USA, Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland und Japan (S. 7). Diese Staaten waren über die Menschenrechtsverletzungen gut informiert. Human Rights Watch stellte aber noch 1989 eine "unkritische Unterstützung" Malawis durch die USA fest. Die anderen westlichen Staaten reagierten ähnlich. Hier bestand die realistische Möglichkeit, Menschenrechtsverletzungen zu beenden oder erheblich einzuschränken, ganz einfach dadurch, dass man die Hilfe an die Bedingung geknüpft hätte, dass die Empfänger die Menschenrechte einhalten müssen. Im kalten Krieg bestand aber anscheinend kein Interesse hieran.
Wem wirklich am Wohl der einzelnen Gläubigen in Malawi gelegen ist, der hätte hier einen echten Kritikpunkt. Seltsamerweise kommt aber keiner der Kritiker darauf, hier mit der Kritik anzufangen. Das zeigt mir, dass allem Anschein nach nicht das Wohl des Einzelnen Anstoß zur Kritik ist, sondern eher der Wille, die öffentliche Meinung über Zeugen Jehovas negativ zu beeinflussen.
Fazit
Als Ergebnis stelle ich fest, dass die untersuchte Kritik am Vorgehen der leitenden Körperschaft im Konflikt mit der Regierung Malawis haltlos ist. Sie beruht auf Annahmen, die der Realität widersprechen. Die Wirklichkeit sah folgendermaßen aus:- Die MCP, die malawische Staatspartei, war nicht eine "andere Form von Staatsbehörde" sondern eine Organisation, die "Staatsterrorismus" betrieb und Werkzeug zum Machterhalt Bandas.
- Mitglieder der MCP konnten nicht politisch neutral sein, da die MCP alternative politische Meinungen mit Gewalt unterdrückte.
- Die Partei war an einem intensiven Personenkult um Präsident Banda beteiligt./li>
- Banda und seine Partei forderten absoluten Gehorsam von den Parteimitgliedern
- Der Parteiausweis war Druckmittel, um die Bürger zu unablässigen Solidaritätserklärungen gegenüber dem Staat zu zwingen.
- Banda und seine Partei verletzten gezielt und weitgehend alle Menschenrechte.
- Zeugen Jehovas hatten keine Druckmittel gegenüber der Regierung
- Zeugen Jehovas hatten ebenfalls keine Druckmittel gegenüber den eigenen Gläubigen./li>
- Die westliche Welt interessierte sich trotz großen Einflusses auf die malawische Regierung nicht für die Einhaltung der Menschenrechte dort
Einige Kritiker gehen daher etwas anders vor, sie lassen offen, ob die leitende Körperschaft in Malawi richtig gehandelt hat, kritisieren aber, dass es sich um ein Beispiel von Doppelmoral gehandelt habe, da sie die gleichen Grundsätze an anderen stellen der Erde ignoriert hätten. Das will ich dann im nächsten Beitrag zu dieser Frage betrachten.
[Fortsetzung]
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