Dienstag, 3. April 2012
Das Kreuz mit den Zeugen Jehovas (1): Worte und Bedeutung
Nun naht das Osterfest mit großen Schritten und bald werden wir wieder in unseren Zeitungen lesen (oder überblättern) können, was uns Kirchenmänner über das "Heilsgeschehen am Kreuz" erzählen. Häufig benutzen sie auch andere Ausdrücke für das, was am Karfreitag geschah, aber das Kreuz ist immer irgendwo enthalten. Es ist daher wenig überraschend, dass Theologen und Laien der großen Kirchen weithin irritiert sind, wenn sie hören, dass Zeugen Jehovas "das Kreuz ablehnen". Hier ein paar typische Reaktionen, auf die ich gestoßen bin:

Dr. Hellmund bezeichnet die "konsequenten Ersetzung des Begriffsfeldes „Kreuz, Kreuzigung, kreuzigen" durch das Wort Pfahl und entsprechende Abwandlungen" in der Neuen-Welt-Übersetzung als "Eintragung von ZJ-'Erkenntnissen' und Bezeichnungen", womit er anscheinend meint, dass Zeugen Jehovas ihre "Irrlehren" manipulativ in "ihre" Bibelübersetzung hineinschreiben.

Ein Blogger bemerkt auf seiner Seite: "Auf den ersten Blick mag ein Christ nicht nachvollziehen können, warum ein Zeuge Jehovas überhaupt darauf besteht, daß Jesus Christus an einem Pfahl ("Marterpfahl") gestorben ist. [...] Ist die Abkehr vom Kreuz ein weiterer Schritt in die Richtung gewesen, Jehovas Zeugen von allen anderen christlichen Gemeinschaften abzugrenzen, sie zu isolieren?"

Eine protestantische Seite kritisiert die Wiedergabe des Wortes "stauros" mit "Marterpfahl" in der Neuen-Welt-Übersetzung als "falsche Übersetzung".

Ausführlicher beschäftigt sich Dr. Gassmann mit dieser Frage. Da sich sogar theologische Arbeiten (u.a. eine Diplomarbeit von Ralf Köhler aus dem Jahr 1999) auf ihn als Autorität beziehen, werde ich mich im folgenden mit seinen Ansichten auseinandersetzen.

Vorab will ich aber auf einige Punkte hinweisen, die es erschweren, sich hier eine eigene Meinung zu bilden. Zum ersten werden gerne zwei Fragen in einen Topf geworfen, die eigentlich gesondert behandelt werden müssten. Denn mit dem Ausdruck "Kreuz" werden zwei sehr verschiedene Dinge bezeichnet: einerseits das Folterinstrument, an dem Jesus Christus starb und andererseits das "Hauptsymbol des Christentums" wie es von Gassmann bezeichnet wird und wie es in Gestalt kleiner Figuren an Wänden und auf Schmuckstücken Verwendung findet.

Dies sollte eigentlich keiner Diskussion wert sein. Beide Dinge können fast unabhängig voneinander besprochen werden. Die einzige Beziehung zwischen den beiden besteht darin, dass das "christliche Symbol" seine Form von der angeblichen Gestalt des Folterinstruments bezieht, an dem Jesus starb.

Zum zweiten muss man sich die Frage stellen, wie weit die genaue Form dieser beiden Dinge von Bedeutung für uns heute ist. Wir werden feststellen, dass in beiden Fragen Kritiker der Zeugen Jehovas munter zwischen "dem Hauptsymbol des Christentums" und "Folterinstrument, an dem Jesus starb" hin- und herwechseln, ohne zu bemerken, dass sie zwei verschiedene Kategorien verwechseln und ihre Antworten daher nicht zur Frage passen.

Und drittens muss ich aufpassen, dass ich mich nicht selber übertölpel, indem ich einfach annehme, dass 'Kreuz' eine mögliche Übersetzung für ein antikes Wort ist, und dann diese Übersetzung als Beweis ansehe, dass das entsprechende Wort wirklich 'Kreuz' bedeutet, ohne dass ich die Korrektheit der Annahme prüfe. Wir werden sehen, dass dieser Fehler häufiger gemacht wird, als man denkt und von Personen, die es eigentlich besser wissen müssten.

Die Fragestellung

Gassmann stellt in seinem Buch "Die Zeugen Jehovas : Geschichte, Lehre, Beurteilung" aus dem Jahr 1996 unter der Überschrift "Kreuz oder Marterpfahl?" auf Seite 189 die Frage (unter Auslassung der Quellenangaben):
"...1936 wurde [von Zeugen Jehovas] erklärt, alles deute darauf hin, daß Christus an einem Pfahl starb, nicht an einem Kreuz aus zwei rechtwinklig angeordneten Balken"

Worauf beruht diese »neue Entdeckung«?
Gassmann bezieht sich hier in seiner Frage erst einmal auf das Folterinstrument, an dem Jesus starb. Im folgenden bespricht er vier (angebliche) Argumente der Zeugen Jehovas dafür, dass dieser stauros keine Kreuzform hatte.

An dieser Stelle muss ich noch ein weiteres Problem erwähnen: verschiedene Autoren benutzen verschiedene Ausdrücke für verschieden Kreuzformen. Ich mache mir ab sofort das Leben einfacher, indem ich folgende Bezeichnungen benutze:
  • Mit Kreuz bezeichne ich alles, was annähernd die Form hat, die wir traditionell als Kreuz bezeichnen (in Form eines "T" oder "†")
  • Mit Pfahl bezeichne ich alles, was annähernd die Form eines senkrechten Stückes Holz ohne weitere Zutaten hat
  • Mit stauros bezeichne ich alles, wo die Form unbestimmt ist.
Das ist für mich einfacher, als wenn ich jedes mal anfangen müsste zu sagen "ein Kreuz, bei dem unbestimmt ist, ob es die traditionelle Form oder Pfahlform hatte". Bei Zitaten anderer Autoren werde ich aber jeweils stehen lassen, was diese schrieben oder aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die Bezeichnung an mein System anpasse. Wenn einer eine bessere Idee hat, wie man der Verwirrung in dieser Frage begegnen kann, dann immer her damit.

Das erste Argument

Gassmann bringt ein Argument, das ich zuerst einmal wiedergebe (Wem dies zu langweilig ist, kann weiterblättern, denn die wichtigen Details besprechen wir noch):
Das griechische Wort »stauros«, das gewöhnlich mit »Kreuz« übersetzt wird, bedeute [nach der Meinung der Zeugen Jehovas] »lediglich einen aufrechtstehenden Stamm, Pfahl, Spitzpfahl, Pfeiler oder Pfosten«, aber kein Kreuz. Das werde dadurch bestätigt, daß »xylon als Synonym für »stauros« im Neuen Testament gebraucht werden könne, was einfach »Holz« oder »Holzbalken« bedeute (HVB, S. 1.158).

Hierzu läßt sich sagen, daß die Wachtturm-Gesellschaft mit ihrer Übersetzung sicherlich die ursprünglichen Bedeutungen von »stauros« und »xylon« wiedergibt (vgl. Bauer 1971, Sp. 1.086 ff.; 1.515 f.). Was sie aber übersieht, ist die Erweiterung der ursprünglichen Bedeutung, die diese Begriffe im Laufe der Zeit erfahren haben. So ist es eine historisch gesicherte Tatsache, daß die Römer Hinrichtungen sowohl an einfachen Pfählen als auch an Kreuzen (aufrecht stehender Pfahl mit Querbalken) durchführten (vgl. z.B. die Beschreibungen in: Seneca, De Vita Beata 19,3; Epistula 101,12; Tacitus, Historiae IV, 3; Josephus; Antiquitates 11, 261 ff. [=XI,6,11ff]). Die zur Zeit Jesu übliche Hinrichtungsform war die Kreuzigung (vgl. ThWNT VII/1964, S. 573 f.). Der für »Kreuz« verwendete lateinische Begriff: »crux« wurde von den Verfassern des Neuen Testaments mit dem griechischen Begriff »stauros« (gelegentlich auch »xylon«) wiedergegeben (vgl. Bauer 1971, Sp. 1.515f.). [Ein hier angeführtes Zitat aus dem "Theologischen Wörterbuch zum NT" bespreche ich ausführlicher im nächsten Beitrag zum Thema "Kreuz"]
Und damit sind wir bei der ersten Fragestellung: Was genau bedeuten die Worte, die in der Bibel verwendet wurden? Insbesondere das Wort stauros wurde benutzt, um den Gegenstand zu bezeichnen, an dem Jesus zu Tode gefoltert wurde. Was genau bezeichnet dieses Wort, ein Kreuz, einen Pfahl oder irgend etwas anderes? Gassmann führt zuerst korrekt an, dass stauros in seiner ursprünglichen Bedeutung sich auf einen Pfahl bezieht.

Er behauptet dann aber, dass dieses Wort später (zur Zeit der Abfassung des NT) verschiedene Formen bezeichnen kann: einfache Pfähle oder auch verschiedene traditionelle Kreuzformen. Daher kann man aus dem Wort selber nicht schlussfolgern, wie der bezeichnete Gegenstand aussieht. Diese Information muss aus einer anderen Quelle stammen, entweder dem Kontext oder aber unserem gesicherten Wissen. Wenn Gassmann ein vernünftiges Argument gegen Zeugen Jehovas vorbringen will, dann müsste er genau diese Bedeutungserweiterung nachweisen.

Was bedeutet stauros?

Gassmann beantwortet diese Frage, was genau stauros bedeutet, mit der Bezugnahme auf vier antike Quellen, die angeblich folgendes belegen: "So ist es eine historisch gesicherte Tatsache, daß die Römer Hinrichtungen sowohl an einfachen Pfählen als auch an Kreuzen (aufrecht stehender Pfahl mit Querbalken) durchführten (vgl. z.B. die Beschreibungen in: Seneca, De Vita Beata 19,3; Epistula 101,12; Tacitus, Historiae IV, 3; Josephus; Antiquitates 11, 261 ff. [=XI,6,11ff])."

Nun werde ich genau das tun, was Gassmann vorschlägt, nämlich die vier genannten antiken Quellen nachlesen, um zu klären, wie genau die Hinrichtung bei den alten Römern aussieht. Um niemanden mit den langweiligen Details dieser Texte zu quälen, habe ich die Details in eine Fußnote verbannt1.

Das Ergebnis dieser Überprüfung ist so eindeutig wie überraschend. Was zeigen uns diese Quellen? Eine vergleicht einen stauros mit einem Pfahl. Die anderen Quellen schweigen sich zur genauen Form aus. Wie Gassmann dort herausliest, dass "die Römer Hinrichtungen ... an Kreuzen (aufrecht stehender Pfahl mit Querbalken) durchführten", muss wohl sein Geheimnis bleiben. Die Texte jedenfalls, die er als Beleg hierfür anführt, sagen dies nicht aus. Das wirft natürlich die Frage auf: Warum nennt Gassmann Belegstellen, die gar keine Belege enthalten? Hat er seine Belegstellen gar nicht gelesen? Oder hat er es gewusst aber gehofft, dass ich sie nicht lese? Oder hat er einfach eine Übersetzung gelesen, in der "Kreuz" stand und dann einfach den Fehler gemacht anzunehmen, dass dies ein Hinweis auf die Form des stauros sei?

Ganz egal, was nun genau Gassmann sich gedacht hat, sein Argument steht in diesem Punkt erst einmal ohne Grundlage da. Und damit sind wir beim ersten Problem: Es gibt überhaupt keine Belege in der antiken Literatur aus der Zeit bis zum Ende des ersten Jahrhunderts, dass Hinrichtungen von den Römern an einem Kreuz (im Gegensatz zu stauros mit unbestimmter Form) vorgenommen wurden. Nun musst du mir das nicht glauben, denn so gut kenne ich die antike Literatur nicht; deswegen lasse ich es Gunnar Samuelsson sagen, einen evangelischen Theologen, der seine Doktorarbeit ("Crucifixion in antiquity" = "Kreuzigung in der Antike") genau zu dieser Frage verfasst hat (S. 303):
Ein stauros ist ein Pfahl im weitesten Sinne. Es ist nicht äquivalent mit einem 'Kreuz' (†). In einigen Fällen ist es ein Werkzeug zum Äufhängen, an dem Leichen aufgehängt werden, zum foltern oder in einigen Fällen, um als Form der Hinrichtung aufzuhängen. Wenig bis nichts kann darüber gesagt werden, woraus es gemacht war oder wie es aussah.
Mit anderen Worten, es gibt keine antike Beschreibung, in der ein stauros in Kreuzform beschrieben wird oder in der diese Form auch nur angedeutet wird. Die meisten Belegstellen für stauros enthalten keine Hinweise auf die genaue Gestalt; die restlichen Belege legen meistens einen Pfahl oder etwas ähnlich geformtes nahe.

Was war zur Zeit Jesu üblich?

Gassmann führt weiter aus: "Die zur Zeit Jesu übliche Hinrichtungsform war die Kreuzigung (vgl. ThWNT VII/1964, S. 573 f.)." Wenn das so stimmen würde, dann wäre das natürlich ein gewichtiger Grund, auch für Jesu stauros anzunehmen, dass er Kreuzform hatte.

Aber auch hier lässt Gassmanns Belegstelle ihn im Stich; das theologische Wörterbuch zum Neuen Testament enthält hier einen Widerspruch in seinen Aussagen, einen Widerspruch, den Gassmann etwas später sogar wörtlich zitiert, anscheinend ohne zu bemerken, dass hier etwas nicht stimmen kann3. Ich will daher noch einmal die Worte anführen und den Widerspruch hervorheben:
Das Kreuz war entweder ein senkrechter, oben zugespitzter Pfahl (skolops...), oder es bestand aus einem senkrechten Balken u[nd] einem oben aufliegenden Querbalken (Form des T, crux commissa) oder auch aus zwei sich schneidenden Balken von gleicher Länge (Form †, crux immissa)....
Das Kreuz Jesu, das die Römer zum Vollzug der Todesstrafe errichteten, war wie jedes andere Kreuz ein mit einem Querbalken versehener senkrechter Pfahl.
Ich hoffe, der Widerspruch ist offensichtlich: Wenn ein stauros die Form eines einfachen senkrechten Pfahls haben konnte, dann hatte nicht "jedes Kreuz" (d.h. jeder stauros) einen Querbalken. Mindestens eine der beiden Aussagen des Wörterbuchs muss also falsch sein. Da wir oben bereits sahen, dass die Pfahlform historisch gesichert ist, muss also die zweite Aussage falsch sein. Es ist daher nicht besonders weise, diesen Satz als Grundlage für ein weiteres Argument zu benutzen.

Es gibt noch eine weitere Stelle im Text des Wörterbuchs, die Gassmann möglicherweise im Sinn hatte, als er seine Behauptung aufstellte: Auf S. 573 wird beschrieben, wie eine Kreuzigung ablief. Das Problem hierbei: Es wird nicht gesagt, dass diese Hinrichtungsform zur Zeit Jesu üblich war; es wird überhaupt kein Bezug zur Zeit Jesu hergestellt. Der einzige Bezug, den ich hier sehen kann, besteht zur Frage, wie die Hinrichtung aussah, wenn denn bereits geklärt ist, dass ein ein Kreuz als Hinrichtungsinstrument benutzt wird.

Mit anderen Worten: Gassmanns Quelle sagt nicht das aus, was er gerne belegt hätte. An keiner Stelle beschäftigt sich der von ihm zitierte Artikel mit der Frage, welche Form des stauros zur Zeit Jesu üblich war. Ganz nüchtern betrachtet behandelt der Artikel überhaupt nicht die Frage der zeitlichen Entwicklung der Form des stauros. Wieso Gassmann trotzdem eine Antwort auf eine Frage findet, die überhaupt nicht behandelt wurde, muss auch hier sein Geheimnis bleiben.

Aber vielleicht bin ich ja einfach zu dumm zum lesen und kann nicht das finden, was Gassmann gefunden hat. Immerhin ist er ja Doktor der Theologie und ich nicht. Daher greife ich mir das nächste Lexikon zum Thema "Religion in Geschichte und Gegenwart", 4. Auflage, und schaue dort hinein. Auf S. 1745 lese ich dort unter der Überschrift "Kreuzigung in der Antike": "Die Strafe wird an einem Pfahl o.ä. vollstreckt, wobei Art und Weise der Durchführung- auch aufgrund von Willkür der Aburteilenden und Henker- variieren." Auf S. 1746 kann ich weiter lesen: "Dem NT ist die Form des Kreuzes nicht zu entnehmen." (Zitate jeweils ohne Quellenangaben wiedergegeben). Auch hier wird nichts zur Frage gesagt, welche genaue Form der Hinrichtung zur Zeit Jesu üblich war.

Das Problem liegt also nicht in meiner Lesefähigkeit, sondern, dass die von Gassmann aufgestellte Behauptung, was zur Zeit Jesu üblich war sich in seiner Quelle nicht belegen lässt und andere seriöse Quellen seiner Behauptung widersprechen. Auch hier will ich darauf verweisen, was Samuelsson zu sagen hat (S. 303f):
Was war die antike (vorchristliche) Terminologie der Kreuzigung? Die Antwort lautet, dass es solch eine Terminologie nicht gab. Es gab Ausdrücke für aufhängen (im weitesten Sinn) -eine Gruppe von Worten und Idiomen, die mehr oder weniger austauschbar benutzt wurden, um verschiedene Formen des aufhängens zu beschreiben (sowohl von Menschen als auch in mehreren Fällen andere). In dieser Gruppe gibt es eine Gruppe von 'Strafen durch aufhängen', und hierin eine Gruppe von 'Strafen durch aufhängen zur Hinrichtung' (also der lebenden Person), in dieser Gruppe gibt es eine Gruppe von Strafen, bei denen des Aufhängen an den Gliedmaßen vollzogen wird, wobei manchmal Nägel verwendet werden, und die manchmal zu langem Leiden an einem Aufhängungswerkzeug führten.
[...]
Es wurde bemerkt, dass die antiken Sprachen (d.h. Griechisch, Latein, Hebräisch/Aramäisch) keine speziellen Worte für "Kreuzigung" hatten. Nun wird hinzugefügt, dass der Grund hierfür darin liegen könnte, dass es Kreuzigung als spezielle Strafe nicht gab. Der Autor kann nichts erkennen, was gegen die Annahme spricht, dass der Mangel an Genauigkeit folgenden Grund hat: In der Antike gab es keine spezielle Terminologie für Kreuzigung, da es "Kreuzigung" als besondere Strafe nicht gab.
Da Samuelsson das Thema intensiv untersucht hat und die Ergebnisse seiner Untersuchungen für mich nachvollziehbar waren, bin ich natürlich geneigt, ihm zu glauben anstatt Gassmann.

Die crux der Sache

Nun komme ich zu einer wirklich bizarren Aussage Gassmanns: "Der für »Kreuz« verwendete lateinische Begriff: »crux« wurde von den Verfassern des Neuen Testaments mit dem griechischen Begriff »stauros« (gelegentlich auch »xylon«) wiedergegeben (vgl. Bauer 1971, Sp. 1.515f.)."

Seltsam ist hieran zuerst die Idee, dass "crux" zur Zeit der Abfassung des neuen Testaments für "Kreuz" verwendet wurde. Im protestantischen Lexikon "Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage" wird in S. 1745 für "crux" die Bedeutung "Marterholz" angegeben. Auch Samuelsson hat sich dazu geäußert, was "crux" bedeutet. Am Ende seiner Untersuchung kommt er zu dem Ergebnis (S. 286; 303, wieder meine Übersetzung):
In den untersuchten Texten ist crux:

Ein stehender Pfahl im allgemeinen; meist ein Pfahl, an dem Opfer aufgehängt werden, um zu sterben, mit den Gliedmaßen befestigt werden, oder auf dem sie gepfählt werden; oder ein Pfahl, an dem Leichen zur Schau gestellt werden.
[...]
crux und patibulum werden nicht im Sinne von "'Kreuz oder stehender Pfahl' mit 'Querholz' benutzt". crux ist wie patibulum irgendeine Form von Folter- oder Hinrichtungsinstrument. crux bezieht sich im Unterschied zu patibulum öfters auf einen stehenden Pfahl[!].
Gassmann 'übersieht' dieses Problem in seiner Argumentation; der laienhafte Leser wird aber durch die Ähnlichkeit der Begriffe "Kreuz" und "crux" dazu verleitet zu glauben, dass beides wirklich die gleiche Bedeutung habe. Wenn aber "crux" nicht Kreuz bedeutet, dann kann man aus der Verwendung von "crux" nicht auf die Gestalt in Form eines Kreuzes schließen.

Wirklich bizarr wird die Aussage aber dadurch, dass Gassmann behauptet, die Schreiber des NT hätten diesen Begriff aus dem lateinischen übersetzt. Diese Idee ist so weit jenseits jeder Logik, dass es mir die Sprache verschlägt. Es gibt viele Hinweise darauf, dass große Teile des NT einen sprachlichen Hintergrund im Hebräischen oder Aramäischen hatten und einige Teile möglicherweise aus diesen Sprachen übersetzt wurden. Aber ich habe noch nirgendwo einen Hinweis darauf gefunden, dass irgendwelche Teile des NT aus dem Lateinischen übersetzt sein sollten geschweige denn, dass dies für die Benutzung des Wortes stauros gelten sollte. Eine derartige außergewöhnliche These bedürfte mehr als eines Hinweises auf ein Wörterbuch, dass sich nebenbei bemerkt mit derartigen Fragen höchstens ganz am Rand auseinandersetzt.

Nun muss ich zugeben, dass ich die von Gassmann als Belegstelle angeführte Auflage des Wörterbuchs (Bauer 1971, Sp. 1.515f) nicht zur Hand habe sondern nur eine neuere 6. Auflage aus dem Jahr 1988. Als Gassmann sein Buch 1996 veröffentlichte, hätte er natürlich die aktuelle Ausgabe benutzen können statt einer alten. Was finde ich in der neuen Auflage? Kein einziges Wort über crux und wie es von den Verfassern des NT verwendet wurde.

Angesichts dessen, wie Gassmann andere Quellen benutzt, glaube ich natürlich nicht, dass die alte Ausgabe wesentlich mehr Informationen enthielt, auch da ich weiß, dass die Änderungen zwischen den zwei Auflagen im wesentlichen die zitierte Literatur betrafen und nicht den eigentlichen Inhalt. Allerdings würde ich mich freuen, wenn jemand, der die alte Ausgabe zur Hand hat, das bestätigen könnte. Ich könnte mir vorstellen, dass möglicherweise das Wüörterbuch in der alten Auflage einen (korrekten) Hinweis darauf enthält, dass crux von frühchristlichen lateinischen Autoren als Übersetzung von stauros verwendet wurde; aber das wäre genau das Gegenteil dessen, was Gassmann behauptet.

Im Endeffekt ist die Aussage Gassmanns hier so bizarr, dass ich annehme, dass hier ein Fehler in der Buchausgabe vorliegen muss. Wenn er wirklich die Idee hat, dass das NT (teilweise) aus dem Lateinischen stammt, dann würde er sich damit gegen einen Großteil der Experten auf dem Gebiet stellen, die nicht einmal diese Möglichkeit in Betracht ziehen.

Fazit

Zusammenfassend sehe ich, dass Gassmann einige echte Probleme mit seinen Argumenten hat, wenn es darum geht, die Bedeutung des Wortes stauros zu klären. Keine seiner Aussagen, die auf geradezu mystische Weise Logik und Fakten transzendieren, ist bei näherem Hinsehen belastbar: Die von ihm genannten Quellen sagen nicht das aus, was er behauptet. Er bleibt jede wirkliche Erklärung schuldig, wo und wie die Bedeutung von stauros erweitert wurde und zur Zeit Jesu dann auch "Kreuz" bedeutet. Wie wir sehen konnten, gibt es in seinem Argument nichts, was seine Behauptung stützt, dass zur Zeit der Abfassung des NT stauros "Kreuz" bedeutet, oder dass es irgend etwas gibt, was diese Bedeutung auch nur nahelegt.

Und solange dieses Argument nicht funktioniert, bleiben wir mit der korrekten Aussage Gassmanns (und der Zeugen Jehovas) zurück, dass die ursprüngliche Bedeutung von stauros ein "aufrechter Pfahl" ist. Und damit gibt es kein Problem mit der Lehre der Zeugen Jehovas, die genau mit den überprüfbaren Fakten übereinstimmt.

Anstatt die Frage zu stellen, ob die Verwendung von "Pfahl" in der NWÜ gerechtfertigt ist, müsste man anhand der vorgestellten Beweise eher die Frage stellen, wie man denn die Einfügung von "Kreuz" in die anderen Übersetzungen rechtfertigen kann.

Allerdings ist es ja theoretisch möglich, dass Gassmann eine an sich korrekte Aussage versehentlich mit einem dusseligen Argument hinterlegte. Deswegen kann man von einem falschen Argument nicht automatisch darauf schließen, dass die zu beweisende Aussage falsch ist. Da sehr viele seriöse Wörterbücher und Lexika ähnliche Aussagen enthalten, wie sie hier von Gassmann vertreten werden, will ich mich im nächsten Teil dieser Serie direkt damit beschäftigen, was genau diese Fachwerke überhaupt aussagen, und welche Probleme es mit diesen Aussagen gibt.

[Fortsetzung folgt]


1Dabei muss ich aber einem Problem begegnen: Man könnte das entscheidende Wort, dessen Bedeutung zu klären ist, einfach mit "Kreuz" übersetzen, und dann aus dem Vorkommen des Wortes "Kreuz" schließen, welche Form die Hinrichtung hatte. Damit hätte ich mich dann selber hinters Licht geführt; ich hätte einfach das, was ich eigentlich prüfen wollte, bereits vorab durch meine Übersetzung entschieden.

Um das nicht zu tun, ersetze ich in der deutschen oder englischen Übersetzung jeweils die Übersetzung des griechischen Wortes mit stauros. Damit stelle ich sicher, dass unser Wissen über die Form des stauros wirklich aus dem Text selber stammt und nicht aus einer möglicherweisen falschen Übersetzung.

Fangen wir an mit Seneca, De Vita Beata 19,3 (der siebte seiner Dialoge):
Was Wunder, da sie von heldenmüthigen, ungeheuern, alle Stürme des Menschenlebens überdauernden Thaten sprechen? da sie sich von dem stauros loszumachen streben, in welches Jeder von Euch selbst seine Nägel einschlägt? Zum Tode geschleppt, hängt doch Jeder von ihnen nur an einem Pfahle[!]. Diejenigen aber, die selbst Strafe über sich verhängen, sind an eben so vielen stauroi ausgespannt, als Leidenschaften an ihnen zerren; und ihre bösen Zungen sind beim Lästern Anderer sehr witzig. Ich möchte glauben, sie würden das bleiben lassen, wenn nicht Manche noch vom stauros herab die Zuschauer anspuckten.
Weiter geht es mit dem Brief an Lucilium 101,12
Maim me if you will, but allow me, misshapen and deformed as I may be, just a little more time in the world! You may nail me up and set my seat upon the piercing stauros21!" Is it worth while to weigh down upon one's own wound, and hang impaled upon a stauros, that one may but postpone something which is the balm of troubles, the end of punishment?
Als nächstes schauen wir, was Tacitus schrieb in Historiae IV, 3:
They were consoled by seeing the slave of Verginius Capito, whom I have mentioned as the betrayer of Tarracina, staurosed in the very rings of knighthood, the gift of Vitellius, which they had seen him wear.
Und jetzt noch die jüdischen Altertümer 11, 261 ff. [=XI,6,11ff] des Flavius Josephus:
Esther's eunuchs hastened Haman away to come to supper; but one of the eunuchs, named Sabuchadas, saw the stauros that was fixed in Haman's house, and inquired of one of his servants for what purpose they had prepared it. So he knew that it was for the queen's uncle, because Haman was about to petition the king that he might be punished; but at present he held his peace. Now when the king, with Haman, were at the banquet, he desired the queen to tell him what gifts she desired to obtain, and assured her that she should have whatsoever she had a mind to. She then lamented the danger her people were in; and said that "she and her nation were given up to be destroyed, and that she, on that account, made this her petition; that she would not have troubled him if he had only given order that they should be sold into bitter servitude, for such a misfortune would not have been intolerable; but she desired that they might be delivered from such destruction." And when the king inquired of her whom was the author of this misery to them, she then openly accused Haman, and convicted him, that he had been the wicked instrument of this, and had formed this plot against them. When the king was hereupon in disorder, and was gone hastily out of the banquet into the gardens, Haman began to intercede with Esther, and to beseech her to forgive him, as to what he had offended, for he perceived that he was in a very bad case. And as he had fallen upon the queen's bed, and was making supplication to her, the king came in, and being still more provoked at what he saw, "O thou wretch," said he, "thou vilest of mankind, dost thou aim to force in wife?" And when Haman was astonished at this, and not able to speak one word more, Sabuchadas the eunuch came in and accused Haman, and said," He found a stauros at his house, prepared for Mordecai; for that the servant told him so much upon his inquiry, when he was sent to him to call him to supper." He said further, that the stauros was fifty cubits high: which, when the king heard, he determined that Haman should be punished after no other manner than that which had been devised by him against Mordecai; so he gave order immediately that he should be hung upon those gallows, and be put to death after that manner.

...Now when the royal decree was come to all the country that was subject to the king, it fell out that the Jews at Shushan slew five hundred of their enemies; and when the king had told Esther the number of those that were slain in that city, but did not well know what had been done in the provinces, he asked her whether she would have any thing further done against them, for that it should be done accordingly: upon which she desired that the Jews might be permitted to treat their remaining enemies in the same manner the next day; as also that they might hang the ten sons of Haman upon the stauros.
2Natürlich verwendete Seneca hier in einem lateinischen Werk lateinische Worte und nicht das griechische Wort stauros. Wichtig: Seneca verwendete zwei verschiedene Worte: crux und patibulum, wir sehen noch, warum wenn überhaupt das wichtig ist.

3Hierfür ist es natürlich erforderlich, die Belegstelle bereits ab S. 572 zu lesen. Wer Gassmanns Beitrag komplett durchliest, stellt anhand des Zitats im nächsten Absatz fest, dass er genau dies getan hat.

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