Montag, 14. Mai 2012
4.Mose 3,22-39: zu dumm zum rechnen?
Das vierte Buch Mose heißt auf lateinisch "Numeri", weil es mehrere Zählungen der Israeliten enthält. Eine Zählung im Kapitel 3 betrifft die Leviten, ein Stamm, der besondere Dienste für das Tempelheiligtum verrichten sollte.Nun stellt eine Seite unter dem Titel Hier irrt die Bibel folgendes fest (Hervorhebungen im Original):
Rechenfehler in 4. Mose 3 [Hervorhebung durch Seitenbetreiber]

"Ihre Zahl war 7500, alles, was männlich war, einen Monat alt und darüber."

(4. Mose 3,22)

"alles, was männlich war, einen Monat alt und darüber, an Zahl 8600, die den Dienst am Heiligtum versehen."

(4. Mose 3,28)

"die an Zahl waren 6200, alles, was männlich war, einen Monat alt und darüber."

(4. Mose 3,34)

"Alle Leviten zusammen, die Mose mit Aaron zählte nach ihren Geschlechtern nach dem Wort des HERRN, alles, was männlich war, einen Monat alt und darüber, waren 22000."

(4. Mose 3,39)

Selbstverständlich lautet die korrekte Addition: 7500 + 8600 + 6200 = 22300 !
Hier liegt also ein weiterer Additionsfehler vor.
Auf Internetforen, wie z.B. hier1, wird das dann als Beispiel für Fehler in der Bibel angegeben. Und dahinter steht immer (wenn auch nicht immer ausgesprochen) die Idee: Wenn der Verfasser zu dumm zum addieren ist, dann kann es nicht der Schöpfer von Himmel und Erde sein.

Eine weitere bibelkritische Seite versucht hier etwas großzügiger zu sein, wenn sie schreibt:
Ich will ja nun wirklich nicht in den Krümeln suchen. Darum lasse ich bewusst 4. Mose 3,22-39 weg. Dort hat jemand einfach ein paar Zahlen zusammengezählt und hat sie am Schluss gerundet. Sowas ist für mich ok.
Das Problem dabei: Alle diese Seiten konzentrieren sich nur auf den einen Punkt, der ihnen interessant vorkommt ("Die Bibel enthält hier einen Fehler") und beschäftigt sich überhaupt nicht mit dem Kontext, dem Inhalt und dem Sinn des Textes.

Das betrifft auch die Seite, die hier großzügiger ist. Wenn man den Kontext liest, dann stellt man nämlich fest, dass "Runden" bei der Gesamtzahl keine Option ist, denn wenn man den Kontext weiterliest, findet man in den Versen 43-46 folgende Aussage:
Und alle männlichen Erstgeborenen nach der Zahl der Namen im Alter von einem Monat und darüber von ihren Eingeschriebenen beliefen sich auf zweiundzwanzig­tausendzweihundert­dreiundsiebzig.

... Und als Loskaufspreis der zweihundertdreiundsiebzig von den Erstgeborenen der Söhne Israels, die über die Levịten hinaus überzählig sind
Demnach wurde die genaue Differenz ggü. der Zahl 22.273 angegeben, und demnach kann die Zahl 22.000 nicht gerundet sein; es ist die einzige Zahl im gesamten Abschnitt, bei der man mit Sicherheit sagen kann, dass sie nicht als gerundet gemeint gewesen sein kann.

Haue ich mir hier jetzt nicht selbst die Füße weg? Eine bibelkritische Seite macht ein Angebot, wie man einen "Fehler" in der Bibel verstehen kann, und ich als Bibelgläubiger mache meine einzige Chance zunichte, den Text noch für mich zu "retten", bloß damit ich wieder etwas besser wissen kann? Nein! Und um zu zeigen warum, will ich erst einmal folgende Frage stellen, die sich anscheinend keiner der zitierten Bibelkritiker gestellt hat: Ist die einzige mögliche Schlussfolgerung aus diesem Sachverhalt, dass der Verfasser des Textes zu dumm zum rechnen war?

Um das zu beurteilen, müssen wir uns den Kontext und den Inhalt des Kontextes etwas genauer anschauen, etwas, was alle diese Seiten nicht machen. Und wenn wir genauer hinschauen, dann stellen wir fest, dass die besprochene Passage Teil eines Abschnittes ist, in dem auch die Anzahl der nichtlevitischen Stämme gezählt und aufaddiert wurde. Nach 4.Mose 1,20-46 betragen die Zahlen:

Ruben 46.500
Simeon 59.300
Gad 45.650
Juda 74.600
Issachar 54.400
Sebulon 57.400
Ephraim 40.500
Manasse 32.200
Benjamin 35.400
Dan 62.700
Ascher 41.500
Naphtali 53.400
Summe 603.550

Und in 4.Mose 2,3-31 werden die Stämme zu Gruppen von je drei Stämmen zusammengefasst und die Gesamtzahl jeder Gruppe angegeben:

Juda 74.600
Ephraim 40.500
Issachar 54.400
Manasse 32.200
Sebulon 57.400
Benjamin 35.400
Summe 186.400
Summe 108.100





Ruben 46.500
Dan 62.700
Simeon 59.300
Ascher 41.500
Gad 45.650
Naphtali 53.400
Summe 151.450
Summe 157.600

Diese Tabellen zeigen uns, dass der Verfasser des Abschnittes offensichtlich in der Lage war, zu addieren2. Er hat bei den wesentlich größeren Zahlen hier anscheinend kein Problem, auf das gleiche Ergebnis zu kommen, wie mein Taschenrechner. Daher werde ich natürlich skeptisch, dass er auf der nächsten Seite plötzlich zu dumm gewesen dafür sein sollte.

Deswegen schauen wir noch einmal genau hin, wozu die Zahl "22.000" überhaupt ermittelt wurde; und dabei stoße ich auf folgenden wesentlichen Punkt, der keinen Kritiker anscheinend interessiert; in den Versen 40-43 lese ich:
Und du sollst die Levịten für mich — ich bin Jehova — an Stelle aller Erstgeborenen unter den Söhnen Israels nehmen und die Haustiere der Levịten an Stelle aller Erstgeburt unter den Haustieren der Söhne Israels.“ Und Moses schrieb dann alle Erstgeborenen unter den Söhnen Israels ein, so wie es Jehova ihm geboten hatte. Und alle männlichen Erstgeborenen nach der Zahl der Namen im Alter von einem Monat und darüber von ihren Eingeschriebenen beliefen sich auf zweiundzwanzig­tausendzweihundert­dreiundsiebzig.
Die Leviten sollen also als Stellvertreter für die erstgeborenen Israeliten3 dienen. Nun gibt es dabei einen Punkt, den man erst bemerkt, wenn man versucht den Vorgang zu verstehen. Natürlich waren die Leviten auch Israeliten. Und unter den Leviten gab es auch Erstgeborene, genau so wie in den anderen Stämmen auch. Die erstgeborenen Leviten konnten natürlich keine anderen Erstgeborenen ersetzen, da sie erst einmal "sich selbst" ersetzen mussten. Daher musste man sie für den beschriebenen Zweck erst einmal aus der Anzahl der Leviten herausrechnen. Nur die Leviten, die selber keine Erstgeborenen waren, konnten überhaupt andere Erstgeborene ersetzen.

Und genau hier ergibt sich aus dem Kontext, dass es eine Differenz zwischen der Gesamtzahl der Leviten und den genannten 22.000 Leviten, die die erstgeborenen Israeliten ersetzen sollen, geben muss: Es geht hier nicht einfach um eine Möglichkeit, die ich mir ausdenke, um einen "Fehler" zu erklären, sondern darum, dass der Kontext zwingend eine Differenz zwischen den beiden Zahlen erfordert. Wenn es keine Differenz geben würde, dann wäre etwas falsch an den Angaben, es sei denn, wir wollen annehmen, dass es unter den Leviten selber keine Erstgeborenen gab, aber das ist nicht glaubwürdig.

Aber das stellt man erst fest, wenn man sich mit dem Inhalt des Textes auseinandersetzt. Leider sind viele Bibelkritiker nicht dazu bereit. Das ist häufiges Problem bei der verbreiteten Bibelkritik: es wird nur oberflächlich nach "Fehlern" Ausschau gehalten, die sich erst bei genauerem Hinschauen als korrekte und genaue Angaben entpuppen. Auch hier stellt man den "Fehler" sofort fest, indem man ein paar Zahlen in den Taschenrechner eintippt. Erst wenn man den Hintergrund und den Zweck der Zahlen analysiert, dann fängt man an, hier eine Differenz zu erwarten. Der Verfasser dieses Abschnittes der Bibel setzte anscheinend voraus, dass der Leser mitdenkt und hat daher einige Details nicht aufgeschrieben, in der Erwartung, dass der Leser diese Details selber rekonstruieren kann, wenn er denn will.

Und hier zeigt dann jeder Leser automatisch, mit welchen Erwartungen und Absichten er beim Lesen der Bibel vorgeht, so wie es in Hebräer 4,12 steht:
das Wort Gottes ist ... imstande, Gedanken und Absichten [des] Herzens zu beurteilen.

1 Ein wenig zum Grinsen dabei: Die Person, die diesen "Fehler" dort aufführt, schreibt ihn (mit copy und paste) von der oben zitierten Seite ab, ohne das irgendwie zu kennzeichnen, und hat dann darunter die Signatur: "Die gefährlichste Meinung ist die Meinung der Leute, die gar keine eigene Meinung haben". Zählt "copy und paste" als eigene Meinung?

2 Allem Anschein nach waren hier die Zahlen für die einzelnen Stämme auf 50 bzw. 100 gerundet. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass zwölf Zahlen zufällig alle ein vielfaches von 50 ergeben würden.

3 Wenn man die Zahlen nimmt, die in 4.Mose, Kapitel 1-3 angegebene werden, dann kommt auf durchschnittlich ca. 27 israelitische Männer ein Erstgeborener. Selbst unter Berücksichtigung von Polygamie kann es sich realistischerweise nicht um den ersten Sohn jedes israelitischen Mannes handeln. Es wäre möglich, dass der älteste Sohn eines Sippenchefs gemeint ist, wenn zu einer Sippe jeweils etwa zwei dutzend Männer mit ihren Familien gerechnet werden. Für unseren Zweck ist es aber egal, wie genau ein "Erstgeborener" definiert wurde, wichtig ist nur, dass sie existierten.

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