Dienstag, 12. Juni 2012
Ist der Gottesglaube wissenschaftsfeindlich?
Das möchte mir eine atheistische Enzyklopädie erklären:
Die christliche Theologie selbst hat in den letzten 2000 Jahren nicht eine einzige eigene objektive Naturerkenntnis zu Stande gebracht, die in unserer säkularen Welt heute naturwissenschaftliche Gültigkeit hat. Keine. Sie hat eigenständig nichts erforscht, nichts erkannt, nichts definiert Sie besitzt kein einziges naturwissenschaftliches Patent. Sie hat nicht einmal Kategorien erarbeitet, wie die Natur naturgemäß zu erfassen sei. Sie steht damit nicht nur auf unterstem Niveau säkularer Erkenntnistheorie. Sie steht mit ihrer Naturlehre auf der untersten Stufe der objektiven Naturerkenntnis.
Allerdings hat der Autor etwas vergessen. Newton gilt nicht ohne Grund als einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten. In seinen Werken hat er das "wissenschaftliche Denken" zum ersten mal in der Menschheitsgeschichte konsequent angewandt und zum guten Teil auch erfunden. Wie die Wikipedia schreibt:
Aufgrund seiner Leistungen, vor allem auf den Gebieten der Physik und Mathematik, gilt Sir Isaac Newton als einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten. Die Principia Mathematica werden als eines der wichtigsten wissenschaftlichen Werke eingestuft.
Woher hatte Newton seine Ideen? Etwas weiter unten lesen wir:
Als tiefreligiöser Mensch entwickelte er seine Auffassung aus seinen unitarischen1 Gottesvorstellungen heraus.
Mit anderen Worten: Einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten entwickelte seine (wissenschaftlich revolutionären) Theorien aufgrund seiner theologischen Ansichten. Wikipedia ist nun nicht als Hort des christlichen Fundamentalismus bekannt, weswegen ich diese Aussagen auch für nicht vom Eigeninteresse geleitet annehmen kann. Damit ist klar, dass die oben gemachte Aussage der "atheistischen Enzyklopädie" grundsätzlich falsch sein muss.

Welche unitarischen Gottesvorstellungen liegen an den Wurzeln der Wissenschaft (nicht unbedingt bei Newton persönlich, sondern allgemein gesprochen)?
  • Gott denkt rational
  • Das Universum ist das Werk Gottes
  • Der Mensch ist das Bild Gottes und daher (bis zu einem gewissen Grade) in der Lage, ihn zu verstehen.
  • Daher ist das Universum mit unserem rationalen Verstand und Beobachtung verständlich
Der letzte Satz ist eine Schlussfolgerung aus den drei vorher genannten Prämissen, der für denjenigen, der ein unitarisches Gottesbild hat, sich fast zwangsläufig ergibt. Der letzte Satz ist aber auch die Grundlage jeglicher Naturwissenschaft; nur wenn die Natur durch rationalen Verstand und Beobachtung erfasst werden kann, hat es überhaupt Sinn, Naturwissenschaft zu betreiben. Seltsamerweise ist es aber nicht so einfach, den gleichen Satz im atheistischen Weltbild herzuleiten.

Das atheistische Weltbild ist blau!
Quell: Wikipedia (Klick auf Bild)
Im atheistischen Weltbild gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das Universum durch Beobachtung und rationales Denken erfasst werden kann: Weder gibt es einen Grund anzunehmen, dass das Universum unbedingt gesetzmäßig funktionieren muss (da es in diesem Weltbild ja zufällig entstand), noch gibt es einen Grund anzunehmen, dass der menschliche Verstand in der Lage sein sollte, das Universum so zu erfassen, wie es ist (da der menschliche Verstand nicht auf "wahres" Erkennen sondern auf Überleben selektiert wurde), noch dass der menschliche Verstand zu rationalem Denken in der Lage sein sollte (weil die Natur nicht offensichtlich auf rationales Denken hin selektiert).

Das einzige, was den Atheisten vom Gegenteil überzeugen kann, ist sein eigenes Denken, von dem er annimmt, dass es rational ist; aber genau diese Annahme muss er mit einem Instrument machen (seinem Verstand), von dem er nicht weiß, ob es überhaupt in der Lage ist, genau diese Annahme zu treffen. Er darf dieser Annahme daher nicht trauen, solange er keine unabhängigen(!) Beweise dafür hat, und die kann er aufgrund seines atheistischen Weltbildes nicht finden, da es außer dem menschlichen Verstand nichts gibt, dass ihm die Annahme bestätigen kann.

Daher ist man als Atheist erst einmal darauf angewiesen, sich einzubilden, dass das eigene Weltbild rational ist, nicht ganz unähnlich einer gewissen blauen Pille aus einem bekannten Film2. Ich bemerke daher die Ironie, dass Atheisten so oft und gerne das wissenschaftliche Denken für sich reklamieren und in einem anderen Artikel der gleichen Webseite das atheistische Weltbild als künftige Grundlage der menschlichen Gesellschaft ansehen3- ein Weltbild, das nicht in der Lage ist, überhaupt den ersten Schritt von den eigenen Voraussetzungen aus dahin zu tun, dass man dem eigenen Denken vertrauen kann4 5.
1 Das hat zwar gerade nichts mit dem Thema zu tun, aber das ist die Gottesvorstellung, die die Zeugen Jehovas heute (mit nur geringen Änderungen) vertreten.

2 Nicht der mit Arnold Schwarzenegger!

3 Hier:
Der Zukunftsmensch steht deshalb gerade auch geistig-existentiell vor einem eigenen Quantensprung, vor einer Rationalen Geburt. Der Mensch wird sein säkulares [d.h. atheistisches] Denken in der wissenschaftlich-technischen Forschung und Welt konsequent umsetzen müssen in ein konsequent-säkulares Denken im geistig- existentiellen Leben. Er wird das säkulare Denken der technischen Forschung und Welt einbinden müssen in einen konstruktiven geistig-sozialen Wandel. Der Mensch muss allen Ballast der Hinterwelt abwerfen, das heißt, er muss sich von allem lösen, was ihn geistig-traditionell in seiner Öffnung nach vorne hindert und versperrt. Er wird alle veralteten, transzendenten Glaubensmodelle aufgeben müssen. Er wird sich lösen müssen von dem, was ihn geistig-traditionell an die Hinterwelt fesselt. Die denkenden Menschen haben durchsaus aus ihren weltlich-geistigen Fähigkeiten heraus alle Chancen, die unsere moderne Zivilisation zu retten, ja, die Zukunft der Menschen für alle Menschen positiv zu gestalten.
4 Unabhängig vom vorher gesagten fand ich folgende Worte der genannten Enzyklopädie interessant:
Es muss ein globalisiertes Rechts- und Humansystem durchgesetzt werden, das allen Kulturen und Völker gleiches Existenzrecht garantiert, in dem zugleich jedem einzelnen Menschen ein Lebensrecht mit Grundversorgung und individuellem Freiraum gesichert wird. Das zwingt zur Umsetzung demokratischer Prinzipien von Verfassungsrecht, sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde. Die schärfsten Gegner waren und sind aufgrund ihrer absolutistischen Gottesvorstellungen die institutionalisierten Großreligionen. Deswegen: Ceterum censeo, potestatem religionis esse delendam [üb.: Im übrigen meine ich, dass die Macht der Religion vernichtet werden muss]: Wenn die religiösen Macht- und Glaubenssystem mit ihrem absolutistischen-monarchistischen Gottesanspruch von dem Prinzip der säkularen Demokratie nicht überwunden werden, wird es auch in Zukunft eine autonom freiheitliche Menschheit nicht geben.
Mal sehen, wann das die Mehrheitsmeinung werden wird.

5 Eine tiefergehende Erörterung des Themas von einem Wissenschaftstheoretiker.

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