Freitag, 13. Juli 2012
Matthäus 5,3: Selig die Armen im Geiste???
Von Zeit zu Zeit bekomme ich anonyme oder halb-anonyme E-Mails. In einer derartigen Mail wurde mir vor einiger Zeit die Frage gestellt, was ich zu der "umstrittenen Übersetzung" von Matthäus 5,3 sagen könne. Was sollte ich sagen, mir war noch nicht einmal bewusst, dass es da einen Streit gibt. Aber wie das so ist, die Frage nistete sich in meinen Gehirnwindungen ein und ließ mir keine Ruhe mehr. Also schaute ich etwas genauer hin.

Wenn man Matthäus 5,3 in der Lutherübersetzung nachliest, dann wird man auf die seltsame Formulierung "die da geistlich arm sind" stoßen, die in der Elberfelder Bibel lautet: "die Armen im Geiste". Was soll das bitte heißen? Die populäre Meinung (hier ein Vertreter derselben) sieht darin eine "gern gebrauchte Redewendung, wenn man (über) jemanden mitteilen möchte, dass er gerade mächtig dummes Zeug von sich gegeben hat". Ein anderer meint hier zu verstehen: Ich habe das immer so verstanden:
"Selig sind, die kritiklos glauben, was ihnen erzählt wird, denn ihnen gehört das Himmelreich".
Wer den Satz so oder so ähnlich versteht, der steht also in der Gefahr, Jesus und seine Lehre abzulehnen, weil Jesus dann als jemand angesehen wird, der die Leute dumm halten wollte. Und das kann ein aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts nicht mit sich tun lassen. Kein Wunder, dass Atheisten gläubige Menschen gerne belächeln und als geistig tieferstehend ansehen.

Da ich an die NWÜ gewöhnt bin, kannte ich den Satz in der Formulierung: "die sich ihrer geistigen Bedürfnisse bewusst sind", die zumindest eine Sinn ergibt, auch wenn man weiter darüber nachdenken muss, was "geistige Bedürfnisse" sind. Wie kommt man aber von der einen Formulierung zur anderen? Im Altgriechischen lautet der Satz:

Μακάριοι οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι,
Glücklich die Armen dem Geiste,

Und ich sehe auf den ersten Blick, dass eine wörtliche Übersetzung wenig Sinn ergibt. Es ist daher naheliegend, dass wir es mit einer Eigentümlichkeit der griechischen Sprache zu tun haben, die man nicht direkt im Deutschen abbilden kann.

Den Schlüssel zum Verständnis liegt in der Bedeutung des Wortes πτωχός und in der speziellen Benutzung des Dativs für "dem Geist". Mit etwas suchen fand ich folgendes im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 3, S. 467ff:
πτωχός .... Im griech. bezeichnet πτωχός ... den völlig Besitzlosen, der sich das Lebensnotwendige durch Bitten beschaffen muss, also den "Bettelarmen".
...
Mt interpretiert die Armen der ersten Seligpreisung als "Arme im Geiste": 5,3 ... Gemeint sind diejenigen, die sich ganz auf Gottes Erbarmen angewiesen wissen.
Dem kann man zwei Dinge entnehmen: ein πτωχός bezeichnet nicht einfach jemanden, der wenig Besitz hat, sondern jemanden, der "bettelt", also sich seines Zustandes bewusst ist und entsprechend handelt. Daher wird in dem Wörterbuch "der Arme im Geiste" auch als jemand bezeichnet, der sich ganz auf Gottes Erbarmen angewiesen weiß. Er hat nicht nur wenig Geist, sondern er weiß, dass er wenig hat und "bettelt" daher.

Und was ist mit dem "im Geiste"? Im griechischen steht ein einfacher Dativ: "dem Geist". Nun kann der Dativ im altgriechischen aber auf viele verschiedene Weisen benutzt werden. Es kann u.a. benutzt werden, um ein Instrument zu bezeichnen, einen Begleiter oder einen Begleitumstand, die Ursache, den Ort, die Zeit, denjenigen, zu dessen Vor- oder Nachteil etwas geschieht, natürlich auch das indirekte Objekt... und man findet auch einen "Dativ der Beziehung", so z.B. in Blaß/Debrunner, Rehkopf: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. In diesem Abschnitt wird Matthäus 5,3 als ein Beispiel für einen derartigen Dativ angegeben.

Ein Dativ der Beziehung ist etwas, was wir im Deutschen eher nicht benutzen; daher würde man einen entsprechenden Dativ gerne mit "in Beziehung auf..." oder ähnlich umschreiben.

Damit könnten wir den o.g. Ausdruck folgendermaßen eindeutschen: "Glücklich, diejenigen, die in Bezug auf den Geist wie Bettler sind, bzw. die um ihn betteln". Und diesen Gedanken kann man kürzer natürlich auch mit "die sich ihrer geistigen Bedürfnisse bewusst sind" wiedergeben.

Im Gegensatz zu dieser Überlegung scheint es so, dass die Elberfelder Bibel hier den Dativ als Ortsbezeichnung angesehen hat und daher das Wörtchen "in" einfügt, um diese Interpretation im deutschen wiederzugeben. Dabei kommt es aber genau zu dem Missverständnis, dass ich eingangs schilderte: Der "Geist" wird mit dem Verstand der entsprechenden Person gleichgesetzt und genau dieser Verstand wird dann als Ort angesehen, an dem (intellektuelle) Armut herrscht.

Die Lutherbibel geht einen Schritt weiter und übersetzt anstatt "dem Geist" "geistlich". Im Endeffekt ist das ein Schritt in die richtige Richtung, da dies eine legitime Methode ist, um einen Dativ der Beziehung wiederzugeben. Da aber hier der Gedanke des "Bettelns" fehlt, der im griechischen Wort für "arm" anklingt, führt auch diese Wiedergabe irre und lässt einen genau in der Umgebung landen, wo die Elberfelder Bibel schon steht.

Aus diesem Grund ist es im Deutschen unmöglich, diesen Vers wortwörtlich wiederzugeben, da eine derartige Wiedergabe den Leser hier ohne ausführlichen Kommentar in die Irre führen würde. Viele Übersetzungen gehen daher den Weg ähnlich der NWÜ und übersetzen:
GN: die nur noch von Gott etwas erwarten
Hfa: die erkennen, wie arm sie vor Gott sind
NGÜ (Fußnote): die erkennen, dass sie vor Gott nichts vorzuweisen haben (und die daher alles von ihm erwarten).
NL: die erkennen, dass sie ihn [d.h. Gott] brauchen
Gemeinsam ist diesen Übersetzungen, dass sie den Gedanken, der unausgesprochen in der Grammatik des griechischen Satzes steckt, im deutschen sichtbar machen: Die Leute, von denen Jesus hier spricht, wissen um ihren Zustand, und sind sich dessen bewusst und handeln entsprechend.

Der Satz hat also weder etwas damit zu tun, dass man dumm sein muss, um Jesu Lehren anzunehmen, noch damit, dass Jesus die Leute für dumm verkaufen wollte. In Wirklichkeit ging es darum, dass man sich seinen spirituellen Zustand bewusst macht. Und davon könnten viele Bürger des 21. Jahrhunderts noch eine Menge brauchen. Wenn also das nächste mal jemand dich herablassend als "arm im Geiste" bezeichnet, dann kannst du zurück lächeln im Wissen, dass er keine Ahnung hat.

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