Mittwoch, 28. November 2012
Kolosser 1,15-17: Alles [andere], was du wissen willst
[update: Postskript mit Zitat von Origenes]

Wie wir wissen, wird die NWÜ gerne kritisiert, weil sie in Kolosser 1,16 (und 17) das Wörtchen "andere" hinter "alle" einfügt. Zeugen Jehovas wird hier unterstellt, dass sie in finsterer Absicht den Bibeltext ändern. Ein repräsentativer Kommentar lautet z.B.:
Was sollen die ganzen Einschübe mit dem Wort [anderen]. Dieses Wort kommt im Text nicht vor, darum wird es ja in eckige Klammern gesetzt.

Wenn Paulus hätte "anderen" schreiben wollen, hätte er es sicher getan!
Dieser Vorwurf wird im Internet an jeder Ecke wiederholt. Auch "ernst zu nehmende" Theologen wie L. Gassmann schreiben dies ("Die Zeugen Jehovas: Geschichte, Lehre, Beurteilung", S.95,142f):
In Kolosser 1,16 steht "andere" nicht im griechischen Text!
Eines der auffallendsten Beispiele findet sich in Kolosser 1, wo sich die Wachtturm-Gesellschaft bemüht, Jesus als ein Geschöpf neben »anderen« Geschöpfen zu interpretieren, und das nicht im Griechischen stehende Wort »andere« hinzufügt:
...
Das Wort »andere«, das im letzten Satz angeklungen ist, wurde von den Herausgebern der NWU in Kol 1,16 f. vier Mal in den Text eingefügt, obwohl es sich im griechischen Neuen Testament in diesen Versen nicht findet. Damit soll der Gedanke unterstrichen werden, daß Jesus das erste unter vielen »anderen« Geschöpfen sei. Wie ich aber schon im Teil über die »Bibel« nachgewiesen1 habe, sind solche Eintragungen in den Text illegitim und beweisen nichts.
Aber auch Menschen, die eigentlich wirklich Ahnung haben sollten, schreiben ähnliches, so z.B. Bruce Metzger (The Bible Translator, 1964, S. 152):
In the interest of providing support for their Unitarianism, the translators have not hesitated to insert four times the word 'other' (totally without warrant from the Greek) before the word 'things' in Col 1:16f., thus making Paul say that Jesus is one among 'other' created things.

[Meine Übersetzung] Um ihren Unitarianismus zu unterstützen, haben die Übersetzer [der NWÜ] nicht gezögert, in Kol 1,16 vier mal das Wort 'andere' (vollkommen ohne Berechtigung durch das griechische) vor dem Wort 'Dinge' einzufügen; dadurch lassen sie Paulus sagen, dass Jesus eines unter 'anderen' geschaffenen Dingen ist.
Die Übersetzer der NWÜ fügen in Kolosser 1,16 das Wort "andere" ein2
Diese Kritik erweckt den Eindruck, dass der Text Kolosser 1,16.17 den Zeugen Jehovas nicht gepasst hätte, so wie er eindeutig da steht, und sie deswegen Worte einfügten, die den Sinn an ihre Meinung "anpassen".

Deswegen zuerst einmal die Frage: Was steht denn wirklich da? Wenn wir uns den griechischen Text anschauen, dann finden wir im Vers 16 folgendes:
ὅτι ἐν αὐτῷ ἐκτίσθη τὰ πάντα ἐν τοῖς οὐρανοῖς καὶ ἐπὶ τῆς γῆς, τὰ ὁρατὰ καὶ τὰ ἀόρατα, εἴτε θρόνοι εἴτε κυριότητες εἴτε ἀρχαὶ εἴτε ἐξουσίαι· τὰ πάντα δι᾽ αὐτοῦ καὶ εἰς αὐτὸν ἔκτισται·
Der Ausdruck τὰ πάντα ist die Nominativ-Plural-Neutrum-Form des Wortes πάς, dass je nach Zusammenhang mit "alle, jeder, alles, jeglicher, allerlei" oder ähnlich wiedergegeben wird. Wenn ich mein Wörterbuch hineinschaue, dann sehe ich aber nirgendwo, dass "alle anderen" als Definition für dieses Wort angegeben wird. Haben die Kritiker also Recht, die behaupten, dass hier die NWÜ entgegen den Grundtexten an die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas angepasst wurde? Oder gibt es eine realistische Grundlage für diese Übersetzung?

Dazu ist es interessant, wie das Wort von anderen Bibelübersetzern wiedergegeben wurde. Nach meinem Wörterbuch kommt das Wort πάς im Text des NT 1244 mal vor. Natürlich habe ich mir nicht alle diese Stellen angesehen, sondern eine subjektive Auswahl von 19 Stellen getroffen, wo nach meiner Meinung die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ein Übersetzer "andere" oder etwas sinngemäßes einfügt3. Die Ergebnisse findest du in der folgenden Tabelle4:


LU

HfA

SLT

NGÜ

GN

NL

NEÜ

ME

ZB

BB

JNT

BigS

HSK

Matthäus 6,33


X



X

X


X

X





Matthäus 26,33


X










X



Matthäus 26,35


X


X

X

X

X

X

X

X

X


X

Markus 4,13

X

X


FN

X

X

X

X

(X)

(X)

X

(X)



Markus 4,31

(X)

(X)

(X)

(X)

(X)

(X)

(X)

(X)

X

(X)

(X)

(X)


(X)

Markus 4,32


X


X

X

X

(X)

X

X

X


(X)

X


Markus 14,29


X



X


X





X



Markus 14,31


X


X

X

X

X

X

X


X


X

Lukas 11,42


X







X


X



Lukas 13,2

X

(X)

X

X

X

X



X

X

X

X


X

Lukas 13,4

X

X

X

X

X

X



X

X

X

X


X

Lukas 21,29


X


X

X

X

X

X

X

X

X


X

Johannes 2,10




X



X


X



X



Johannes 3,31







X


X





1.Korinther 6,18


X

X

X

X

X

X

X


X

X


X

1.Korinther 12,26


X


X

X

X

X

X



X

X

X


Philipper 2,9




X







X



Philipper 2,21


X


X

X


X

X

X

X

X

X


Kolosser 1,17


X


X



X







Abkürzungen:

LU: Lutherübersetzung 1984
Hfa: Hoffung für Alle
SLT: Schlachter 2000
NGÜ: Neue Genfer Übersetzung
GN: Gute Nachricht
EÜ: Einheitsübersetzung
NL: Neues Leben
NEÜ: Neue evangelistische Übersetzung
ME: Menge
ZB: Zürcher Bibel
BB: Basisbibel
JNT: Jüdisches Neues Testament (Text nicht im Internet veröffentlicht)
BigS: Bibel in gerechter Sprache (Text nicht im Internet veröffentlicht)
HSK: Hamp, Stenzel, Kürzinger (Text nicht im Internet veröffentlicht)

X: Einfügung eines Wortes wie "andere", "sonst", "übrige" oder sinngemäß
(X): Die Übersetzung wurde auf eine Weise umformuliert, die jeweils das Wort "andere" impliziert
FN: Einfügung eines Wortes wie "andere", "sonst", "übrige" oder sinngemäß in der Alternativlesart der Fußnote


Was sagt uns diese Tabelle? Zuerst einmal sagt sie uns, dass viele Bibelübersetzer kein Problem damit haben, hin und wieder πάς mit "alle anderen" oder sinngemäß wiederzugeben. Natürlich tun sie es nicht an allen 1244 Stellen sondern nur in rund 1% der Vorkommen. Daraus können wir schon einmal den Schluss ziehen, dass es Umstände geben kann, wo es gerechtfertigt ist, das Wort "andere" in einer Bibelübersetzung einzufügen, wo es im griechischen nicht vorkommt.

Mengenlehre

Ich will mir nun einige der angeführten Texte anschauen, um zu sehen, warum, dort so gerne "andere" in die Übersetzung eingefügt wird. Als erstes nehme ich Markus 4,31.32 (aus der EB):
Wie ein Senfkorn, das, wenn es auf die Erde gesät wird, kleiner ist als alle Arten von Samen, die auf der Erde sind; und wenn es gesät ist, geht es auf und wird größer als alle Kräuter
Die zentralen Aussagen dieser Verse kann man sehr schön in die Sprache der Mengenlehre übertragen; dabei verzichte ich im ersten Anlauf auf die Benutzung des Wortes "andere":

In Kolosser 1,16 kommt das Wort "andere" nicht im griechischen Text vor!
Es sei K die Menge aller Samenkornarten
G die Menge aller Gartengewächse
sK das Senfkorn
sG die Senfpflanze
h: x → h(x) die Größe einer Pflanze bzw. eines Samenkorns.

Dann gilt:

(4,31) ∀x ∈ K: h(sK) < h(x)
(4,32) ∀x ∈ G: h(sG) > h(x)

Aus den Regeln der Mengenlehre folgt dann aber unmittelbar:

(4,31)' ∀x ∈ K: h(sK) < h(x) ⇒ sKK
(4,32)' ∀x ∈ G: h(sG) > h(x) ⇒ sGG

Wenn wir das in die Alltagssprache zurückübersetzen, dann heißt dass, das das Senfkorn kein Samenkorn ist und die Senfpflanze kein Gartengewächs. Das ist offensichtlicher Blödsinn und das hat anscheinend auch die Mehrheit der Bibelübersetzer so erkannt. Deswegen haben sie das Wort "andere" in den Text eingefügt oder den Text anderweitig umformuliert, um den Text nicht unsinnig werden zu lassen. Den so angepassten Text kann man wie folgt wiedergeben:

(4,31)* ∀x ∈ K \ {sK}: h(sK) < h(x)
(4,32)* ∀x ∈ G \ {sG: h(sG) > h(x)

Der Bräutigam:
Mensch oder Alien?
Und schon verschwinden die unsinnigen Aussagen (4,31)' und (4,32)'. Denn wenn wir im Deutschen ausdrücklich sagen, dass wir von allen Samen außer dem Senfkorn sprechen, dann kann man nicht mehr zurück schließen, dass das Senfkorn kein Same ist. Glück gehabt!

Ein anderes Beispiel ist Johannes 2,10. Hier sagt der Festleiter zum Bräutigam: Jeder Mensch bringt zuerst den guten Wein auf den Tisch; aber du nicht. Nach den strengen Regeln der Logik folgt aus dieser Aussage, dass der Bräutigam kein Mensch sein kann, denn jeder Mensch handelt anders als er, wenn es um das ausschenken von Wein bei Feiern geht. Trotzdem folgert bis heute kein Bibelausleger, dass der Bräutigam aus Kana ein Alien sein muss. Warum nicht? Ignorieren sie etwa hier die Regeln der Logik? Offensichtlich nicht. Aber sie gehen (vernünftigerweise) davon aus, dass hier gemeint ist: Jeder normale Mensch handelt so, aber du bist eine Ausnahme.

Noch offensichtlicher wird das Problem in Philipper 2,9, wo Jesus den Namen verliehen bekommt, der "über jedem Namen ist". Wenn man dies nach den o.g. Regeln der Logik und Mengenlehre durchdenkt, dann kommt man zu dem Widerspruch, dass Jesu Name ja einerseits ein Name sein muss, denn das steht ja ausdrücklich im Text, er aber andererseits kein Name sein kann, da er ja größer ist als jeder Name5. Wenn wir hier stur den Gesetzen der Logik und der Mengenlehre folgen, dann bekommen wir an allen genannten Stellen ein mehr oder weniger großes Problem.

Bevor ich jetzt die gleichen dummen Fragen zu jedem der Texte aus der obigen Tabelle stelle, komme ich lieber zum Kernproblem: Darf man denn so ohne weiteres "andere" in den Bibeltext einfügen, oder ändert man dadurch den Sinn? Und wenn ja, warum darf man das? Gilt in der Bibel die normale Logik nicht? Ich kann dich beruhigen. Das Problem besteht nicht im Bereich der Logik sondern im Bereich der griechischen Grammatik, die sich hier von der deutschen unterscheidet.

Grammatik

Bevor ich jetzt anfange, hier meine eigenen grammatischen Theorien zu entwickeln, zitiere ich lieber ein Standardwerk (Blaß, Debrunner, Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch). Dort heißt es im §480:
Im engeren Sinne versteht man unter Ellipse den Fall, daß ein Begriff oder Gedanke in hergebrachter Weise sprachlich gekürzt ist. So kann ausgelassen werden, was nach der Satzstruktur selbstverständlich ist, wie die Kopula, das Subjekt, wenn es sehr allgemein ist, oder das Substantiv, wenn es durch das Attribut genügend angedeutet wird. Solche Ellipsen sind usuell und finden sich zT entsprechend in anderen Sprachen

1. Speziell griechisch ist die Auslassung des Begriffs "andere", "überhaupt"....

Als Ellipse bezeichnet man die Auslassung für das Verständnis nicht erforderlicher Worte aus dem Satz.
Bildquelle: Wikipedia
Sehr schön! Was heißt das aber für unseren Fall? Einfach gesagt: Wenn im griechischen Text selbstverständlich ist, dass es nicht wirklich um alle genannten geht, sondern nur um die "anderen", dann muss das entsprechende Wort "andere" nicht im griechischen Text ausgeschrieben werden. Es ist eine Spezialität der griechischen Sprache, dass dieser Gedanke nicht ausgesprochen werden muss, um mit gemeint zu sein. Und da es sich um eine Spezialität der griechischen Sprache handelt, kann man diese Eigenart nicht ohne weiteres in einer anderen Sprache wiedergeben. GEnau das ist auch das Problem, wenn wir ins deutsche übersetzen.

Wenn daher verschiedene Kritiker der NWÜ darauf hinweisen, dass das Wort "andere" nicht in dem griechischen Grundtext von Kolosser 1,16 vorkommt, dann stimmt das zwar an sich, legt aber trotzdem eine falsche Fährte. Es folgt nicht unbedingt, dass das Wort dann nicht im Deutschen erscheinen darf, wie sie suggerieren. Erst wenn feststeht, dass "andere" nicht implizit im griechischen Text gemeint ist (ohne ausgeschrieben zu sein), kann man mit Sicherheit ausschließen, dass es im Deutschen verwendet werden kann. Um also ein Argument zu haben, dass die bekannten Eigenschaften der griechischen Grammatik berücksichtigt, müssten sie zeigen, dass nach dem Kontext "andere" nicht mit gemeint sein darf. Eine ganze Reihe von Kritikern (z.B. der ganz oben im Artikel zitierte) vergessen genau diesen Schritt.

Sogar schon beim Übersetzen muss diese Eigenschaft der griechischen Grammatik berücksichtigt werden. Was muss also ein Übersetzer deshalb tun? Er muss (theoretisch) bei jedem griechischen Satz prüfen, ob "andere" mit gemeint ist oder sein könnte; falls er zu dem Ergebnis kommt, dass es so ist, muss er dann den entsprechenden Gedanken im Deutschen einfügen, da es in unserer Sprache wesentlich seltener üblich ist, dies ungesagt mitzudenken. Natürlich wird ein normaler Übersetzer das nicht systematisch bei jeder Aussage tun, sondern sich auf die Stellen beschränken, wo ihm selber der Text ohne "andere" etwas seltsam vorkommt. Dies betrifft auch nicht nur das Wort "alle". Auch anderswo kann uns etwas "anderes" im griechischen Text überraschen, wie einige Beispiele aus der o.g. Grammatik zeigen:

Lasst euch nicht irreführen: Ich räume nichts in der Küche auf!
Matthäus 16,14: Hier ist von "Jeremia oder den Propheten" die Rede. Natürlich ist Jeremia auch ein Prophet.
1.Korinther 10,31: essen, trinken und irgend etwas tun: essen und trinken sind auch Tätigkeiten.
Matthäus 20,24 und Markus 10,41: Jakobus, Johannes und die zehn Jünger. Natürlich waren auch Jakobus und Johannes Jünger.
Apostelgeschichte 2,14: Petrus und die elf Apostel. Auch Petrus war ein Apostel.

In allen diesen Fällen erfordert es die deutsche Sprache, dass man hier das Wort "andere" einfügt, oder auf andere Weise kenntlich macht, dass die entsprechenden Personen bzw. Dinge zur genannten Gruppe mit dazu gehören, ansonsten klingt der Text im Deutschen nämlich seltsam. Und viele der oben angeführten Bibelübersetzungen tun dies auch hier6.

Genau diese Frage will ich nun einmal zu Kolosser 1,16f stellen: Ist hier "andere" offensichtlich mitgemeint? Anstatt zu Anfang Überlegungen dazu anzustellen, was Paulus lehren wollte, gehe ich einfach entsprechend der oben zitierten Grammatik vor und frage mich, ob die Worte die Einfügung von "andere" erfordern, um nicht ähnlich wie die oben besprochenen Beispiele zu einem Selbstwiderspruch zu führen. Schauen wir uns die Sätze im einzelnen an:

"Durch ihn ist alles erschaffen": Wurde Jesus durch sich selbst erschaffen? Offensichtlich nicht! Daher ist hier das "andere" entsprechend der o.g. Grammatik mitgedacht. Durch Jesus wurde alles erschaffen mit der offensichtlichen Ausnahme seiner selbst. Das gleiche gilt für die Idee, dass alles "für ihn geschaffen" wurde und "durch ihn gemacht wurde". Keine dieser Aussagen kann Jesus mitmeinen.

"Er ist vor allem": Ist Jesus vor sich selbst? Das kann nicht gemeint sein, und daher fügt hier nicht nur die NWÜ, sondern ebenso die drei anderen o.g. Übersetzungen (HfA, NGÜ, NL) "andere" in den Text ein.

Man muss nicht über die theologischen oder christologischen Ansichten des Paulus spekulieren, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Denn die in der Grammatik angesprochenen Frage muss gestellt werden, lange bevor man derartige inhaltliche Analysen durchführen kann. Erst einmal muss man klären, was jeder Satz für sich selbst aussagt. Und das ist hier sehr einfach möglich. Genau wie in den oben besprochenen Beispielen sehen wir, dass "alle" hier nicht Jesus einschließen kann, da ansonsten die Aussage des Satzes unsinnig wird.

Eine Frage zwischendurch

Nun muss ich an dieser Stelle noch eine [andere] Frage zwischendurch stellen: Wer muss hier überhaupt etwas beweisen? Und wessen Behauptung sollte als wahr unterstellt werden, wenn man nicht das Gegenteil zeigen kann? Jeder an derartigen Konflikten Beteiligte hätte natürlich gerne die Position, wo er erst einmal Recht hat und der andere sich die Mühe mit dem Beweisen machen muss - die Standardposition. Denn das vereinfacht die Arbeit: Solange du nicht (mit viel Mühe und Aufwand) genau zeigen kannst, dass ich unrecht habe, dann muss meine Idee die richtige sein. Andererseits führt das zu der paradoxen Situation, dass ein Argument zwei unterschiedliche Ergebnisse haben kann, je nachdem, welchen Standpunkt man zu Beginn der Diskussion hat. Das sollte eigentlich vermieden werden, da Argumente ja objektiv sein sollen, d.h. unabhängig von der Person, die sie bringt.

Ich habe offensichtlich immer recht...
Wenn man nun versucht, eine ganz bestimmte Fragestellung ergebnisoffen(!) zu durchdenken, dann ist es nicht sinnvoll, dass man sich bereits vorab darauf festlegt, dass eine ganz bestimmte Sichtweise als korrekt angenommen wird. Solange man daher über die Frage nachdenkt, welche der von Trinitariern und Zeugen Jehovas vorgeschlagenen Übersetzungsvarianten von Kolosser 1,16 besser ist oder welches Verständnis der Position und Natur Jesu Christi das richtigere ist, dann sollte man es vermeiden, eine der beiden Positionen vorab bereits als "richtig" zu kennzeichnen; ansonsten könnte man sich die ganze Debatte sparen und sagen: "Ich habe recht und du nicht, ätsch!" Aber das ist dann eher nicht mehr das hier angestrebte Nie-Wo.

Was man aber machen kann, ist sich auf sprachliche Standardpositionen festzulegen, die von der Grammatik und der Wortbenutzung der (altgriechischen) Sprache vorgegeben sind. Und wenn man das tut, dann stellt man überraschend fest: Unabhängig davon, ob man annimmt, dass Jesus Teil der Schöpfung ist oder nicht, schließt die sprachliche Struktur Jesus auf jeden Fall davon aus, zu dem "allen" zu gehören, was durch ihn erschaffen wurde. Das ist Ergebnis dessen, was ich oben mit der griechischen Grammatik zeigte. Wenn man daher die Frage entscheiden will, ob Jesus in Kolosser 1 als Teil der Schöpfung behandelt wird oder nicht, dann reicht es nicht, diesen einen Satz zu betrachten, sondern man muss schauen, welche Aussagen in der näheren Umgebung noch so über Jesus gemacht werden.

Kontext

Allerdings müssen wir noch einen weiteren wichtigen Punkt berücksichtigen, bevor wir zu einem endgültigen Ergebnis kommen. Im Deutschen wäre es nämlich etwas anderes, wenn bereits der Kontext oder die Logik Jesus hier aus der Gruppe ausschließen würde, die mit "alles" bezeichnet ist. Denn dann (und nur dann) wäre es für den deutschen Leser nicht mehr erforderlich, hier Jesus durch das Wort "andere" ausdrücklich aus der Gruppe auszunehmen. Z.B. kann ich sagen: "ich muss hier alles aufräumen", ohne dass ich mich selber ausdrücklich aus dem "alles" ausnehmen muss. Warum? Ganz einfach deshalb, weil jeder automatisch weiß, dass ich von Dingen rede, die aufgeräumt werden können; wenn ich in der Küche stehe, dann ist normalerweise von Geschirr und anderen Kochutensilien die Rede, nicht von Menschen. Und da dies jeder weiß, muss ich nicht sagen: "ich räume hier alles auf mit Ausnahme meiner Wenigkeit, die ich weiterhin unaufgeräumt auf dem Küchentisch herumgammeln lasse7". Und falls ich sagen will, dass ich die Küche aufräume mit Ausnahme der Spüle, dann muss ich (mit dem Finger auf die Spüle deutend) sagen: "Ich räume alles andere auf (aber nicht das hier)".

Jesus ist unerschaffen, ewig und Gott!
Genau diese Lücke nutzen die trinitarischen Kritiker der NWÜ und der Zeugen Jehovas. Für sie scheint klar zu sein, dass Jesus nicht erschaffen wurde und daher ewig ist, und er deshalb nicht zu dem "allem" dazu gehört, dass in Vers 16 genannt wird. Sie haben damit auch keinerlei Schwierigkeit, da die Dreieinigkeit ja genau diesen Gedanken erfordert. Jesus ist für sie als eine Person des dreieinigen Gottes ja kein Teil der Schöpfung und darf nach ihrer Ansicht daher nicht zu dem "allem" gehören, was geschaffen wurde. Einige Kommentare legen genau diese Annahme für ihre Interpretation der Stelle zu Grunde. So heißt es in dem Kommentar zum Jüdischen Neuen Testament, Band 2, S.428:
Jeschuas Eigenschaft als Erstgeborener geht nicht nur der Schöpfung der materiellen Welt voraus sondern ist entscheidendes und ewiges Element des inneren Wesens Gottes. Zeitlos und ewig steht das Wort Gottes, das in Jeschua dem Messias Fleisch wurde (Joch 1,1.14), zum Vater in der Beziehung des erstgeborenen Sohnes; das ist ein obligatorischer Teil des Selbstaussage Gottes.
Und der Kommentar der Wuppertaler Studienbible zum Brief an die Kolosser besagt auf S. 180:
Jesus ist aber nicht ein Geschöpf unter anderen, wenn auch das höchste und bevorzugteste. Jesus, das Bild Gottes, gehört auf die Seite des Schöpfers, wesensmäßig geschieden von allem, was nur Schöpfung ist. Jesus ist an der Schöpfung beteiligt, Jesus selbst ist Schöpfer!
Wie wir an diesen Beispielen sehr schön sehen, folgern die Kommentare Jesu Göttlichkeit nicht aus dem besprochenen Text, sondern setzen sie voraus und interpretieren dann den vorliegenden Text so, dass er zu ihrer Annahme passt.

Allerdings ist es für Trinitarier nicht hilfreich so zu argumentieren und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie dann einen Zirkelschluss produzieren. Denn wenn man voraussetzt, dass Jesus Gott ist, dann diese Idee als Grundlage nimmt, um Kolosser 1,15-17 so zu übersetzen oder zu interpretieren, dass Jesus dort als Gott dargestellt wird, und dann hinterher diesen Text benutzt, um zu beweisen, dass Jesus Gott ist, dann beweist man genau das, was man zu Anfang als Voraussetzung angenommen hat. Dies ist als Beweismethode nicht hilfreich, da man jede Aussage (und ihr genaues Gegenteil!) auf diese Art beweisen kann, unabhängig davon, ob sie nun richtig ist oder nicht.

...und wenn ich etwas ergebnisoffen durchdenke...
Und wenn man die Annahme, das Jesus Gott ist, benutzt um zu zeigen, dass eine Übersetzung falsch ist, die ihn nicht als Gott darstellt, dann ist das ähnlich problematisch: "Ich nehme an, dass Jesus Gott ist, also darf ich keine Bibelstelle so übersetze, dass Jesus als Teil der Schöpfung dargestellt wird". Das sagt uns aber rein gar nichts über die Annahme, dass Jesus Gott ist. Ist diese Annahme richtig oder falsch? Genau diese Frage muss man entscheiden, bevor man eine Übersetzung als richtig oder falsch bezeichnen kann. Und bevor man diese Frage entscheiden kann, muss man erst einmal verstehen, was der Text aussagt. Genau das will ich jetzt tun.

Erstgeboren oder ersterschaffen?

Hier hat nach der Meinung aller Beteiligten der Vers 15 entscheidende Bedeutung. Dieser lautet in der Elberfelder Bibel:
Er [=Jesus] ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung.
Es gibt natürlich keine Einigkeit darüber, was dies bedeuten soll. Insbesondere ist erst einmal strittig, was mit "erstgeboren" gemeint ist.
Erstgeboren, nicht -geschaffen
L. Gassmann schreibt hierzu:
In V. 15 nun steht im Griechischen »protótokos«. »Protótokos« bedeutet »Erstgeborener«, aber nicht »Ersterschaffener«. Wäre Jesus ein Geschöpf, dann müßte »Ersterschaffener« (»protóktistos«) dastehen.
Ein protestantischer Bibelkreis schreibt hierzu etwas ähnliches:
Es steht nirgends in der Schrift, daß Gottes Sohn der »Ersterschaffene« (griechisch »protoktistos«) ist. Es heißt stets, daß er der »Erstgeborene«, das heißt, der »Erste« gemäß Rang und Namen ist, wie es Paulus in Kolosser 1, 15 (griechisch »prototokos«) sagt.
Nach diesem Argument ist es allein die Verwendung des Wortes πρωτότοκος ("erstgeboren"), die zeigt, dass Jesus nicht erschaffen sein kann, da ja (so das Argument) Paulus ansonsten das Wort πρωτόκτιστος ("ersterschaffen") hätte verwenden müssen. Eine trinitarische Seite geht sogar noch einen Schritt weiter und erklärt:
The Jehovah's Witnesses interpret the word "firstborn" here to mean "first created" because it is consistent with their theological presupposition that Jesus is a created thing.

Zeugen Jehovas interpretieren das Wort "Erstgeborener" als "erst erschaffen", weil dies mit ihrer theologischen Vorannahme übereinstimmt, dass Jesus ein geschaffenes Ding ist.
Paulus hätte "ersterschaffen" sagen können. Hat er aber nicht!
Stimmt das denn? Es ist zumindest korrekt, dass die beiden genannten Worte die genannte Bedeutung haben. Aber hätte Paulus wirklich das Wörtchen πρωτόκτιστος verwenden können? Wenn man versucht, dieses Wort in einem Wörterbuch der altgriechischen Sprache zu finden, dann ist das nicht so einfach wie gedacht. Weder Gemolls Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch noch Bauers Wörterbuch zum neutestamentlichen Griechisch noch das exegetische Wörterbuch zum Neuen Testament noch das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament8 enthalten ein entsprechendes Stichwort. Daraus kann man schließen, dass dieses Wort in dem NT überhaupt nicht vorkommt und weder in der frühchristlichen oder der antiken Literatur überhaupt in nennenswerter Anzahl. Das Wort ist also schon einmal extrem selten. Ich gab aber nicht auf zu suchen und wurde dann doch noch im Greek-English Lexicon von Liddell und Scott fündig. Als älteste Verwendung von πρωτόκτιστος (und als einzig überhaupt genannte!) wird hier Clemens von Alexandria angegeben, der um das Jahr 200 schrieb9, also rund 140 Jahre nach dem Tod des Paulus.

...dann bestätigt das die Dreieinigkeit!
Das legt den Schluss nahe, dass πρωτόκτιστος ein Wort ist, dass erst um das Jehr 200 zum ersten mal verwendet wurde. Da Clemens von Alexandria die Person ist, der der erste systematische Versuch zugeschrieben wird, christliches Gedankengut mit griechischer Philosophie zu verschmelzen, können wir auch vermuten, dass es sich um einen philosophischen Fachausdruck handelt, der dem durchschnittlichen Leser der Briefe des Paulus nicht geläufig war und man kann anzweifeln, ob Paulus ihn überhaupt gekannt hätte, wenn er denn schon erfunden worden war.

Wir können das alles natürlich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit beweisen, denn es wäre ja möglich, dass das Wort bereits allgemein üblich war, aber nur rein zufällig im Verlauf von zwei Jahrhunderten in keiner der erhaltenen Schriften überliefert ist. Aber ehrlich gesagt ist das eher sehr unwahrscheinlich. Und hier wird wieder die Frage wichtig, wer was beweisen muss. Und hier ist die Lage eindeutig. Man muss nicht einen Nachweis führen, dass es ein Wort noch nicht gab, für dass es in der entsprechenden Zeitperiode überhaupt keinen Beleg gibt. Sondern wer behauptet, dass es das Wort gab, obwohl es keinen Beleg gibt, der ist nachweispflichtig, wie er darauf kommt. Solange es keinen Beleg gibt, ist natürlich erst einmal die Annahme sinnvoll: Da ich keinen Beleg habe, nehme ich erst einmal an, dass es das Wort nicht gab. Erst wenn andere Fakten gegen diese Vermutung sprechen, muss ich sie überdenken.

Wahrscheinlich gab es das Wort also zur Zeit des Paulus noch nicht und es wurde erst später [erst-]erfunden. Daher kann man nicht behaupten, dass er dieses Wort hätte benutzen können10. Und niemand führt (meines Wissens) irgendwelche Fakten an, die an der offensichtlichen Annahme zweifeln lassen. Deswegen ist das gesamte Argument ohne Grundlage.

Die These, die nie kritisiert wird

Auch der oben zitierte Vorwurf, dass Zeugen Jehovas einfach behaupten, dass "erstgeboren" "erschaffen" bedeutet, ist falsch. Denn sie behaupten dies nicht, sondern sagen, dass erst der komplette Ausdruck "Erstgeborener der Schöpfung" Jesus als Teil der Schöpfung kennzeichnet. Deswegen reicht es nicht aus, ein einziges Wort aus diesem Ausdruck herauszupicken, um diesen Punkt zu widerlegen. Man muss vielmehr die Bedeutung des gesamten Ausdrucks betrachten. Die Frage lautet also: Was meinte Paulus mit dem Ausdruck "Erstgeborener der Schöpfung"?

Und hier sieht die Sache ganz anders aus als bei dem Wort "erstgeborener" allein. Der Ausdruck "erstgeborener von {irgendetwas/ irgendjemandem}" taucht nämlich in dem griechischen Text des NT und des Septuaginta dutzende von Male auf (außerhalb der biblischen Literatur ist as Wort übrigens sehr selten). Und wenn wir uns alle Vorkommen (jetzt erst einmal mit Ausnahme von Kolosser 1,15, da dies die strittige Stelle ist) anschauen, dann können wir feststellen, dass wir diesen Ausdruck in zwei Bedeutungskategorien einsortieren können. Zum ersten kann {irgendetwas/ irgendjemand} sich auf den Vorfahren beziehen, meist ist es der Vater, manchmal die Mutter und manchmal ein weiter entfernter Vorfahre. Und zum zweiten kann sich {irgendetwas/ irgendjemand} auf die Gruppe beziehen, zu der der Erstgeborene dazugehört und innerhalb welcher er die Rechte des Erstgeborenen besitzt. Wir finden im gesamten Text der Bibel keinen einzigen Fall, in dem der Erstgeborene weder ein Nachkomme der genannten Person ist noch zu der Gruppe gehört, in der er als "erstgeboren" bezeichnet wird11.

Wen interesiert, was "erstgeborener aller Schöpfung" aussagt?
Wenn wir diese Erkenntnis auf unsere Bibelstelle übertragen, dann sehen wir sehr einfach, dass "die ganze Schöpfung" offensichtlich nicht Vorfahre von Jesus sein kann. Die erste Bedeutung scheidet also sofort aus. Anders verhält es sich mit der zweiten Bedeutung: "die ganze Schöpfung" ist natürlich eine Gruppe von Lebewesen. Und wenn Jesus der "Erstgeborene aller Schöpfung" ist, dann muss er zu der Schöpfung dazugehören, und innerhalb dieser Gruppe eine bevorrechtigte Stellung haben.

Und aus diesem Grund müssen Zeugen Jehovas nicht, wie oben behauptet, annehmen, dass das Wort "erstgeboren" "ersterschaffen" bedeutet. Denn nicht dieses Wort alleine, sondern der gesamte Ausdruck "erstgeborener aller Schöpfung" bezeichnet Jesus als Geschöpf. Und dieses Verständnis beruht allein darauf, dass man "annimmt", dass hier die gleiche Wortverwendung vorliegt wie ansonsten in der Bibel auch.

Seltsamerweise wird dieser einfache Punkt nie von Kritikern der NWÜ oder der Zeugen Jehovas behandelt. Entweder wird (wie oben) die nie gemachte Behauptung kritisiert, dass "erstgeboren" "geschaffen" bedeutet, oder es wird einfach ignoriert, wie der Ausdruck "erstgeborener von {irgendetwas/ irgendjemandem}" ansonsten in der Bibel benutzt wird; stattdessen werden Spekulationen präsentiert, wie man den Ausdruck denn so verstehen müsse, die aber nicht auf gesicherten Erkenntnissen beruhen sondern meist auf Wunschvorstellungen und Irrtümern, wie wir sehen werden.

Einfügungen auf der anderen Seite

Wenn wir uns den Ausdruck "Erstgeborener aller Schöpfung" in den verschiedenen Übersetzungen anschauen, machen wir eine (nicht wirklich) überraschende Entdeckung. Es gibt mindestens drei Übersetzungsvarianten. In verschiedenen Übersetzungen lautet der Satz wie folgt, wobei ich mir erlaube, alles, was nicht direkt im griechischen Urtext steht, mit roter Farbe zu kennzeichnen:
Variante 1: (weitgehend) wörtlich

NWÜ: Er ist ... der Erstgeborene aller Schöpfung;

EB: Er ist ... der Erstgeborene aller Schöpfung.

EÜ: Er ist ... der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.

ME: er ist ja ... der Erstgeborene aller (= der ganzen) Schöpfung;

HSK: der Erstgeborene aller Schöpfung

BigS: der Erstgeborene in aller Schöpfung

Variante 2: Jesus wird in Bezug auf die Zeit aus der Schöpfung herausgenommen

LU: Er ist ... der Erstgeborene vor aller Schöpfung.

HfA: er war als Erster vor Beginn der Schöpfung da.

NL: Er war bereits da, noch bevor Gott irgendetwas erschuf, und ist der Erste aller Schöpfung.

ZB: Er ist ... der Erstgeborene vor aller Schöpfung.

BB: Er ist ... der zuerst Geborene – noch vor der ganzen Schöpfung.

Variante 3: Jesus wird in Bezug auf seine Position aus der Schöpfung herausgenommen

SLT: Dieser ist ... der Erstgeborene, der über aller Schöpfung ist.
Fußnote: w. der Erstgeborene aller Schöpfung; d.h. Christus hat den Vorrang gegenüber der ganzen Schöpfung.

NGÜ: Der Sohn ist ... der Erstgeborene, der über der gesamten Schöpfung steht
Fußnote: Od der vor allem Geschaffenen da war.

GN: Er ist ... der erstgeborene Sohn des Vaters, aller Schöpfung voraus und ihr weit überlegen.

NEÜ: Er, Christus, ... steht über allem Geschaffenen.

JNT: Der Höchste über der ganzen Schöpfung
Hier sehen wir etwas erstaunliches: Die große Mehrzahl der Bibelübersetzungen fügt hier Worte in den Bibeltext ein und zwar mit Ausnahme der Schlachterbibel ohne den geringsten Hinweis für den Leser, was hier überhaupt geschieht. Im Gegensatz zur NWÜ im Vers 16 werden hier weder Klammern noch irgend etwas anderes verwendet, dass besagt: diese Worte sind vom Übersetzer (aus irgendeinem möglicherweise guten Grund) eingefügt worden.

Es ist problemlos möglich, "über" oder "vor" in den Text einzufügen!
Wer nur eine einzelne Bibel wie z.B. die Lutherbibel in die Hand nimmt, kann diese Einfügung überhaupt nicht mitbekommen; erst wer eine größere Zahl von Übersetzungen vergleicht (wenn man nicht rein zufällig nur Bibeln erwischt, die alle die gleiche Einfügung machen), kann überhaupt den Verdacht bekommen, dass hier etwas eingefügt wurde. Die Gewissheit, dass es so ist, kann man allerdings anhand der Übersetzungen selber nicht bekommen.

Nun haben wir aber oben gesehen, dass unter bestimmten Voraussetzungen beim Übersetzen Einfügungen nötig sind, um den Sinn dessen, was gemeint ist, im Deutschen korrekt wiederzugeben. Ich will also sehen, ob irgendjemand eine vernünftige Erklärung hat, warum man hier entweder "vor" oder "über" (bzw. eine Umschreibung dieser Begriffe) kann oder muss. Denn ohne eine zusätzliche sinnvolle Begründung gibt es keinen (vernünftigen) Grund, hier diese Einfügungen vorzunehmen, da bereits der Text ohne Einfügung einen Sinn ergibt.

Trinitarische Hindernisumgehung

Wie umgehen Trinitarier dieses Problem? Sie suchen Wege und Begründungen, um Jesus hier aus der Menge der geschaffenen Dinge zu entfernen. Ich will sehen, wie und ob das funktioniert. Gibt es einen gangbaren Weg, der Jesus in Kolosser 1,15 aus der Schöpfung hinausnimmt?

Es gibt hierbei verschiedene Ansätze. Ich will mir zunächst anschauen, was der Kommentar der MacArthur-Studienbibel an Argumenten anbietet. Wir lesen dort:
  1. Christus kann nicht zugleich der »Erstgeborene« und »Ein-geborene« sein (vgl. Joh 1,14.18; 3,16.18; 1Joh 4,9);
  2. wenn der »Erstgeborene« zu einer Gruppe gehört, steht diese Gruppe im Plural (vgl. V. 18; Röm 8,29), doch die Bezugsgruppe hier ist die »Schöpfung« – und die steht im Singular;
  3. wenn Paulus lehrte, Christus sei ein erschaffenes Wesen, stimmte er damit der Irrlehre zu, die er mit dem Brief widerlegen wollte;
  4. kann Christus unmöglich geschaffen und zugleich der Schöpfer von allem sein (V. 16).
Woher weiß die MacArthur-Studienbibel, dass Jesus nicht der Erstgeborene und gleichzeitig der Einzig-Geboren sein kann? Gute Frage, denn es wird nicht erklärt. In der Bibel ist es nicht erforderlich, dass der Einzig-Geborene das einzige Kind seines Vaters ist. Z.B. wird Isaak als einzig-geborener Sohn Abrahams bezeichnet (in Hebräer 11,17 nämlich, wo das gleiche Wort im griechischen Text verwendet wird, wie in Johannes 1,14.18 etc.), obwohl allgemein bekannt ist, dass Abraham, sein Vater, noch mindestens sieben weitere Söhne hatte (1.Mose 16,15; 25,1.2). Daher kann man den Ausdruck "einzig-geboren" nicht verwenden, um zu sagen, dass die entsprechende Person keine Geschwister hat. Nebenbei sagt die Bibel, dass Jesus einerseits Gottes einzig-geborener Sohn ist, andererseits aber der Erstgeborene der Schöpfung. Beide Ausdrücke beziehen sich daher auf vollkommen verschiedene Dinge (Gott bzw. Schöpfung) und können ohnehin nicht direkt verglichen werden.

Die Gruppe muss im Plural stehen!
Die Aussage: "wenn der »Erstgeborene« zu einer Gruppe gehört, steht diese Gruppe im Plural" ist schlicht und einfach falsch, wie uns der Septuaginta-Text von Psalm 134,8 zeigt (Psalm 135,7 in den meisten deutschen Bibeln, 135,8 in der NWÜ und den meisten englischen Bibeln). Dort ist von den Erstgeborenen Ägyptens die Rede, sowohl der Menschen als auch beim Vieh. Natürlich bezeichnet "Ägypten" hier nicht den Vorvater der ägyptischen Menschen und Viehherden, sondern die Gruppe, zu der die Erstgeborenen gehören unabhängig davon, ob sie Menschen sind. Jede andere Idee wäre absurd. Und "Ägypten" ist nun einmal eine Singular-Form und widerlegt damit die Behauptung dieses Kommentars.

Woher wissen wir, gegen welche genaue Lehre Paulus argumentierte? Er selbst erwähnt keine detaillierten Lehrpunkte dieser Irrlehre. An anderer Stelle gibt der zitierte Kommentar aber selber zu: "Diese Irrlehre kann mit keinem konkreten historischen System identifiziert werden." Wer also auch immer versucht, den genauen Gehalt dieser Irrlehre zu rekonstruieren, ist im wesentlichen auf Spekulationen angewiesen. Wenn man nun aber die Korrektheit der Dreieinigkeit bei dieser Rekonstruktion voraussetzt, dann kann man auch hier wieder leicht einen Zirkelschluss produzieren. Es ist nicht möglich, die genaue Bedeutung der Worte in Kolosser 1,15 einzig aus der angenommenen Irrlehre zu rekonstruieren, da bereits die genaue Bedeutung der Worte des Kolosserbriefs nötig wäre, um die Irrlehre auch nur ansatzweise rekonstruieren zu können.

Es ist zwar wie behauptet sachlich korrekt, dass Jesus nicht geschaffen und gleichzeitig der Schöpfer sein kann. Allerdings sagt das die Bibel auch gar nicht; insbesondere in Kolosser 1,15ff wird Jesus nicht als Schöpfer bezeichnet, sondern als der, in dem- durch den- und für den alles geschaffen wurde. Abgesehen davon, dass sich das [andere], wie oben geschildert, hinter diesen Worten verstecken kann, benutzt die Bibel an keiner Stelle, wo von Jesus und der Schöpfung die Rede ist, Ausdrücke, die Jesus als den Urheber der Schöpfung kennzeichnen. Es werden grundsätzlich immer Ausdrücke verwendet, die Jesus als das "Instrument" darstellen, mit dessen Hilfe die Schöpfung gemacht wurde. Am deutlichsten ist dies in 1.Korinther 8,6, wo Gott als der bezeichnet wird, "aus dem" alles ist, während Jesus als derjenige bezeichnet wird, "durch den" alles existiert. Hier wird ausdrücklich unterschieden zwischen Urheber und Instrument. Und an keiner anderen Stelle wird für Jesus ein Ausdruck verwendet, der ihm eindeutig die Urheberschaft der Schöpfung zuschreibt, stattdessen werden immer Ausdrücke verwendet, die Jesus als Instrument bei der Schöpfung bezeichnen können. Im Lichte von 1.Korinther müssen wir daher diese Texte so verstehen, dass Jesus nicht der Schöpfer ist, sondern das Instrument, dessen sich Gott bei der Schöpfung bedient. Und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Diskussion: Ist es gerechtfertigt, [andere] in Kolosser 1,16 einzufügen oder nicht. MacArthur hat hier eine Annahme getroffen, die wie oben besprochen der griechischen Grammatik widerspricht.

Zusammenfassend ist keines der Argumente aus der MacArthur-Studienbibel überzeugend. Entweder sie sind schlicht und einfach falsch, oder aber sie setzen das voraus, was sie beweisen wollen: die Dreieinigkeit. Beides ist nicht hilfreich, wenn man versucht, etwas logisch nachzuweisen.

Gassmanns Argument

Während MacArthur vor allem versucht, mit dem Inhalt des Textes zu argumentieren, bezieht sich Gassmanns Argument vor allem auf grammatische Formen. Wir lesen (auf S. 142 seines o.a. Buches):
Entscheidend12 ist die Frage, um welche Genitivform es sich bei »pases ktiseos« handelt. Heißt »protótokos pases ktiseos«: »Erstgeborener aller Schöpfung« (als deren Teil: genitivus partitivus - oder in Beziehung zu ihr: genitivus relationis) oder »Erstgeborener vor aller Schöpfung« (im zeitlichen Vergleich zu ihr: genitivus comparativus)? Die Antwort kann nur der Textzusammenhang geben, insbesondere die Bedeutung von »eikon tou theou« (»Ebenbild Gottes«). Dieser Begriff besagt, daß Christus Gott in der Welt repräsentiert. »Als Bild Gottes bleibt Christus nicht hinter dem Abgebildeten zurück... sondern steht ganz auf Seiten [sic] Gottes... Wer von Christus spricht, spricht von Gott. Eikon ist Christus als der Präexistente, der vor der Schöpfung bei Gott Existierende« (Gnilka 1980, S. 61 f.).

In Kolosser 1,15 kommt ein genitivus comparativus vor
Von daher ergibt sich, daß der genitivus comparativus die zutreffende Form ist. Der Neutestamender Paul Ewald weist darauf hin, »daß der Genit[iv] im vorliegenden Falle überhaupt nicht eigentlich partitiv gemeint sein kann, weil pasa ktisis nicht die ganze Kreatur ist, sondern entweder jede Kreatur oder alles, was Kreatur ist, alle Kreatur«. Die Vorstellung, »wonach Christus - gleichviel ob im Hinblick auf sein Sein vor oder in der Welt - als Geschöpf gedacht werden soll«, wäre »ohne jede Analogie in der apostolischen Literatur«. Sie darf als »allseitig aufgegeben« betrachtet werden (Ewald 1910, S. 317 f.).
Reicht es jetzt endlich, du Besserwisser?
Dieses Argument ist gewisser Weise faszinierend. Es kaum zu glauben, dass man im Raum von zwei Absätzen so viele Denk- und Sachfehler versammeln kann. Vorab aber zur Klärung der Fachausdrücke: In den meisten indogermanischen Sprachen wie griechisch und deutsch hat der Genitiv eine größere Menge verschiedener Verwendungsmöglichkeiten, über die sich Muttersprachler kaum einmal Gedanken machen. Wir benutzen die verschiedenen Bedeutungsnuancen des Genitivs automatisch. Ein partitiver Genitiv ist ein Genitiv, der die Gesamtheit bezeichnet, aus der das bezeichnete Objekt stammt. "Der Oberste der Piraten" z.B. ist in der Gesamtheit der (betrachteten) Piraten (die im partitiven Genitiv stehen) der oberste. Wenn ein Genitiv partitiv ist, dann ist das Bezugswort (im Beispiel: "der Oberste") immer Bestandteil der betrachteten Gesamtheit. Wenn man also den "Erstgeborenen aller Schöpfung" partitiv versteht, dann gehört der Erstgeborene zur Schöpfung dazu.

Grammatischer Fußnagel
Einen komparativen Genitiv (Vergleichsgenitiv) gibt es im Deutschen nicht, wohl aber im griechischen. Deswegen kann ich auch keine deutschen Beispiele bringen. Üblicherweise übersetzen wir solch einen Genitiv mit einer Wendung mit "als". Im griechischen kommt ein solcher Genitiv üblicherweise nach einem Adjektiv vor, dass im Komparativ steht (der Vergleichsform: z.B. schöner, grüner, besser) oder nach Verben bzw. anderen Ausdrücken, die einen Vergleich ausdrücken. Wenn man unseren Ausdruck als Vergleichsgenitiv auffassen will, dann müsste man übersetzen: "der Erstgeborene als die Schöpfung". Wenn sich hierbei auch deine grammatischen Fußnägel umkrempeln, dann ist dir sicherlich klar, dass es noch ein paar Schwierigkeiten gibt, bevor man sich diesem Verständnis anschließen kann.

Aber zuerst gibt es hier ein Missverständnis in Bezug auf das "Abbild Gottes". Entgegen dem zitierten (für mich weiterhin unverständlichen) Argument kann sich dieser Ausdruck sehr wohl auf geschaffene Wesen beziehen, und genau das wird in der Bibel auch getan. So wird in 1.Mose 1,26.27 genau dieser Ausdruck benutzt, um Adam und Eva als "Abbild Gottes" zu bezeichnen. In 1.Korinther 11,7 werden mit diesem Ausdruck christliche Ehemänner bezeichnet. Wer wirklich anhand dieses Ausdrucks zeigen wollte, dass "Abbild Gottes" zeigt, dass Jesus kein Geschöpf ist, müsste zumindest einmal zeigen, dass der Ausdruck in Kolosser etwas anderes bedeuten muss(!) als in den zwei anderen Stellen, wo er in der Bibel auftaucht. Das wird aber nicht einmal versucht. Übrigens sehe ich das nicht alleine so. Der Kommentar zum Jüdischen Neuen Testament, Band 2, S.427 sagt:
Jeschua [=Jesus] ist wie Adam das sichtbare Bild des unsichbaren Gottes (Genesis 1,26-27, "Lasst uns Menschen nach unserem Bilde machen").
Steht dein Abbild auf deiner Seite oder dir gegenüber?
Des weiteren setzt der zitierte Gnilka voraus, was Gassmann eigentlich beweisen will, nämlich, dass Jesus Gott ist. Wenn wir uns die Argumente im einzelnen anschauen, wird das deutlich: Man muss nicht selber Gott sein, um ihn in der Welt zu repräsentieren. Das konnte Adam (vor dem Sündenfall) als einfaches Geschöpf auch. Und genauso wenig wie dein Spiegelbild auf deiner Seite steht, muss Jesus als Abbild Gottes in dem Sinne "auf der Seite Gottes stehen", dass er Teil des dreieinigen Gottes ist. Und um im allgemeinen Sinn auf Gottes Seite zu stehen, kann man auch ein Geschöpf sein; jeder echte Christ steht in diesem Sinn auf Gottes Seite. Wir wissen auch alle, dass Trinitarier Gott meinen, wenn sie Christus sagen13, dass ist aber kein Argument um zu beweisen, dass es so ist, sondern eine einfache Behauptung. Auch dass Jesus bereits vor Beginn der Schöpfung existierte, ist nicht in Kolosser ausgesagt, sondern als trinitarische Vermutung bereits vorab angenommen worden. Damit ist der erste Absatz nicht schlüssig.

Das nächste größere Problem besteht mit dem Ausdruck πᾶσα κτίσις. der von Gassmann (bzw. dem von ihm zitierten Ewald) nur auf einzelne Geschöpfe bezogen wird. Hierbei vergisst er, dass sich der Ausdruck nicht nur auf Geschöpfe, sondern nach Wörterbuch (Bauer, 6. Auflage) auch auf den "Akt des Schaffens", auf "das Geschaffene als Ergebnis jenes Aktes" oder auf "d[ie] Summe alles Geschaffenen". Und wie wir gleich sehen werden, bringt dies das ganze Argument zu Fall.

Es ist sowieso nicht so ganz klar, warum dieses Verständnis dieses Ausdrucks als "jede Kreatur" anstatt als "ganze Schöpfung" dazu führen muss, dass der Genitiv hier nicht partitiv verstanden werden kann und deswegen Jesus zeitlich vor der Schöpfung kommen muss und daher kein Teil der Schöpfung sein kann. Glücklicherweise kommt ihm hier Heinrich August Wilhelm Meyer zur Hilfe, der bereits im Jahre 1859 in seinem Kritisch exegetisches Handbuch über die Briefe an die Philipper, Kolosser und an Philemon (S. 182-184) dieses Argument bringt. Bereinigt um diverse Quellenangaben, Zitate, Abkürzungen und typographische Details lautet das Argument dort:
Der Genitiv πάσης κτίσεως ist nicht Genitivus partitivus, weil πᾶσα κτίσις nicht "die ganze Schöpfung" heißt, mithin nicht die Kategorie oder Gesamtheit aussagen kann, zu welcher Christus als ihr erstgeborenes Individuum gehöre (es heißt: "jedwedes Geschöpf"), sondern es ist der Genitivus comarationis: "der Erstgeborene im Vergleich mit jedem Geschöpfe", d.h. eher geboren als jedes Geschöpf
Es muss Geschöpf heißen, nicht Schöpfung!
Hier haben wir zumindest einmal ein Argument. Aber auch hier wird wieder der grundsätzliche Fehler gemacht, dass κτίσις als "Geschöpf" angenommen wird. Dann und nur dann kann man nämlich sagen, dass "jedes Geschöpf" keine Kategorie oder Gruppe sein kann, in der Jesus der Erstgeborene ist. Das Problem hierbei: Luther hat hier zwar "Kreatur" übersetzt (und damit allem Anschein nach die einzelnen Geschöpfe gemeint), dass ist aber nicht erforderlich, weswegen es die große Mehrzahl der Übersetzer auch nicht tut (siehe Aufzählung oben). Wenn man nach dem oben zitierten Wörterbuch hier "das Geschaffene als Ergebnis eines Aktes" versteht, dann passt das Argument nicht mehr. Denn "das Geschaffene als Ergebnis eines Aktes" ist natürlich eine Gruppe und damit bezieht sich "jedes Ergebnis eines Schöpfungsaktes" auf mehrere derartige Gruppen.

Und dann kann man Jesus als Erstgeborenen innerhalb der verschiedenen Gruppen verstehen, die aufgrund einzelner Schöpfungsakte Gottes entstanden. Der Bibeltext sagt genau das im Vers 16-18 aus: Jesus ist der Erstgeborene der himmlischen Schöpfung ("das, was im Himmel geschaffen wurde"), der irdischen Schöpfung ("das, was auf der Erde geschaffen wurde") und der neuen Schöpfung ("Er ist der Erstgeborene aus den Toten", vgl. 2.Korinther 5,17; Galater 6,15). Und dann ist mit πᾶσα κτίσις jede dieser drei Gruppen gemeint, innerhalb derer Jesus ohne logisches oder grammatisches Problem den Vorrang haben kann. Damit scheitert auch dieses Argument, bevor es richtig gestartet ist. Dies sieht die Wuppertaler Studienbibel im Kommentar zu Kolosser, S. 180 ähnlich (obwohl sie diesen Punkt gleich danach ohne Grundlage wieder ableugnet, um nicht das trinitarische Lager verlassen zu müssen):
Er ist "Erstgeborener aller Schöpfung". Paulus denkt hier nicht wie später das Nizänische Glaubensbekenntnis an den Unterschied des von Gott "Geborenen" zu allem von Gott nur "Geschaffenen". Er sieht auf das Vorrecht und die Stellung des "Erstgeborenen" unter allen anderen Kindern und vergleicht damit das Verhältnis Jesu zu allem, was geschaffen ist. ... Die Erstgeburt verleiht wohl große Vorrechte, hebt aber nicht völlig aus der Schar der Geschwister heraus.
Aber selbst wenn wir mal für einen Augenblick annehmen würden, dass man anzweifeln könnte, dass wir es hier mit einem partitiven Genitiv zu tun haben, könnte es sich denn um einen Vergleichsgenitiv handeln? Nein und zwar aus einem einfachen Grund nicht. Denn dieser Genitiv erscheint (mit einer Ausnahme, die aber eine sinnvolle linguistische Begründung hat) entweder nach Verben oder sonstigen Ausdrücken des Vergleichs oder nach der Steigerungsform eines Adjektivs (wo wir "größer als..." sagen würden). "Erstgeborener" ist ganz einfach weder das eine noch das andere. Deswegen kann man hier nicht einfach so tun, als würde man hier einfach ein bekanntes Phänomen der griechischen Sprache vor sich haben und einfach "Erstgeborener im Vergleich zu jeder Schöpfung" übersetzen.

Wenn man einen echten Vergleichsgenitiv vor sich hätte, müsste es heißen: "erstgeborener als jede Schöpfung" und jeder sieht, dass dies nicht funktionieren kann, allein schon weil man von "erstgeboren" keine Vergleichsform ("erstgeborener") bilden kann. Deshalb müssen Trinitarier an dieser Stelle eine Annahme treffen, die sie nicht aussprechen, nämlich, dass in Kolosser 1,15 das einmalige Vorkommen des Wortes "erstgeboren" mit einem Vergleichsgenitiv vorliegt. Statt das zu sagen, nehmen sie einfach wieder die Annahme, dass die Dreieinigkeit korrekt ist, und schlussfolgern daraus, dass der Ausdruck hier ein Vergleichsgenitiv sein muss, da der Text ansonsten der Trinitätslehre widersprechen würde. Auch damit haben wir wieder einen wunderschönen Zirkelschluss vor uns. Denn woher wissen wir, dass hier ein einmaliges grammatisches Phänomen vorliegt? Richtig, weil wir annehmen, dass die Dreieinigkeit korrekt ist, also exakt das, was der Trinitarier mit diesem Text beweisen will.

Im Gegensatz dazu folgt aus einer alltäglichen Verwendung des Ausdrucks "Erstgeborener aller Schöpfung" automatisch, dass Jesus Teil der Schöpfung sein muss, da der Ausdruck die Gruppe beschreibt, zu der Jesus gehört, und liefert damit die Begründung dafür, dass im Vers 16 das Wort "andere" eingefügt werden muss, um den Sinn von Vers 15 nicht zu verzerren.

Und zum Schluss ist die Aussage Ewalds, die Gassmann zitiert, irreführend: "Die Vorstellung, »wonach Christus - gleichviel ob im Hinblick auf sein Sein vor oder in der Welt - als Geschöpf gedacht werden soll«, wäre »ohne jede Analogie in der apostolischen Literatur«" Denn Kolosser 1,15 ist genau die Stelle, wo es eine eindeutige Aussage gibt, die Jesus als Geschöpf beschreibt. Selbst wenn es keine andere Stelle geben würde, reicht diese eine Stelle aus zu zeigen. dass Jesus als "Geschöpf gedacht" wurde. Gassmann leugnet hier ohne sachliche oder argumentative Grundlage das ab, was der Text eindeutig aussagt.

Fazit

Am Ende eines solchen eher nicht ganz kurzen Artikels will noch einmal die hauptsächlichen Punkte noch einmal zusammenfassen:

Im griechischen Text von Kolosser 1,16 kommt "andere" nicht vor
  • "Das Abbild des unsichtbaren Gottes" kann ein geschaffenes Wesen sein
  • Wenn man den Ausdruck "Erstgeborener aller Schöpfung" so auffasst wie in allen anderen Stellen der Bibel, dann bedeutet er, dass Jesus (der hervorragende) Teil der genannten Schöpfung ist.
  • Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass man den Ausdruck "Erstgeborener aller Schöpfung hier anders verstehen müsste als an anderen Stellen der Bibel
  • Man muss unter "Schöpfung" nicht das einzelne geschaffene Wesen verstehen.
  • Niemand behauptet, dass das Wort "Erstgeborener" alleine zu dem Schluss führt, dass Jesus Teil der Schöpfung ist.
  • Für die Einfügung von "über" bzw. "vor" in den Ausdruck "Erstgeborener aller Schöpfung" gibt es keinen vernünftigen sachlichen Grund
  • Trinitarier nehmen regelmäßig in Kolosser 1,15 das an, was sie mit dem Text eigentlich beweisen wollen, nämlich die Dreieinigkeit.
  • Ein Vergleichsgenitiv ergibt in Kolosser 1,15 keinen Sinn und ist nicht notwendig
  • Die griechische Grammatik erlaubt das Einfügen des Wortes andere in Kolosser 1,16, da Jesus im Vers zuvor als Teil der Schöpfung bezeichnet wird
  • Leute, die lange darauf herumreiten, dass in Kolosser 1,16 das Wort "andere" nicht im griechischen Text vorkommt haben entweder keine Ahnung, oder wollen ihre Leserschaft täuschen
  • Es ist zweifelhaft, dass Fischotter die ganze Küche aufräumen
Jetzt hör endlich auf!
Und damit will ich das trinitarische Verständnis von Kolosser 1,15ff mit dem der Zeugen Jehovas vergleichen:

Zeugen Jehovas müssen in Kolosser 1,15 "annehmen", dass der Ausdruck "Erstgeborener aller Schöpfung" genauso verwendet wird wie überall sonst. Und sie müssen "annehmen", dass die Grammatikregel aus §480 der Grammatik von Blass, Debrunner und Rehkopf auch in Kolosser 1,16 gilt. Dann folgt ihr Verständnis des Textes ganz automatisch.

.....
Trinitarier müssen annehmen, dass in Kolosser 1,15 eine einmalige Verwendung des Ausdrucks "Erstgeborener aller Schöpfung" vorliegt, für den es sonst nirgendwo eine Stütze gibt. Sie müssen weiterhin annehmen, dass die sonst überall übliche Bedeutung dieses Ausdrucks hier nicht möglich ist. In Kolosser 1,16 müssen sie die o.g. Grammatikregel ignorieren. Um all dies tun zu können, müssen sie bereits im Verlauf der Diskussion die Dreieinigkeit als gegeben vorsetzen, um zu zeigen, dass der betrachtete Bibeltext die Dreieinigkeit lehrt.

Ich bin mir sicher, dass du verstehst, warum ich das trinitarische Verständnis von Kolosser 1,15ff nicht akzeptieren kann. Mir sind meine Fußnägel zu wertvoll, um sie hier einer Gefahr auszusetzen.

PS: Hier gibt es einen schönen Satz von Origenes aus dem dritten Jahrhundert (Contra Celsus V,37):
Wenn aber der Sohn Gottes, "der Erstgeborene aller Schöpfung" , erst vor kurzer Zeit, wie wir glauben, Mensch geworden ist, so ist er doch deshalb durchaus nicht "neu". Denn die heiligen Schriften kennen ihn als das älteste aller geschaffenen Wesen und wissen, dass zu ihm Gott, als er den Menschen schaffen wollte, die Worte gesprochen hat: "Lasset uns einen Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis"



1 Der "Nachweis" besteht aus dem ersten hier zitierten Absatz!

2 Kein Original-Photo! Die Szene wurde aufgrund der Beschreibung von L. Gassmann nachgestellt.

3 Es gibt nebenher auch noch Stellen im AT, wo ein ähnliches Phänomen auftritt, so z.B. in 1.Chronika 16,25; 2.Chronika2,5; 2.Mose 18,11; Psalm 95,3;99,9;135,5, wo von Jehova gesagt wird, dass er "größer ist als alle Götter". Dem Leser ist natürlich klar, dass hier niemand behauptet, dass Jehova kein Gott sei. Und einige Übersetzer fügen daher auch hier wieder [andere] in den Text ein, meist ohne dies kenntlich zu machen.

Weitere Beispiele:
1.Mose 37,3: Joseph und alle Söhne Jakobs
2.Mose 12,30: Pharaoh und alle Ägypter
1.Samuel 17, 19: Saul und alle Männer Israels
1.Könige 10,23; 2.Chronika 9,22: Salomo und alle Könige der Erde
Jeremia 25,26: die Königreiche des Nordens und alle Königreiche
Jeremia 40,11: Moab, Ammon, Edom und alle Länder
Hesekiel 31:5 die Zeder und alle Bäume

Da der Bezug zu Kolosser 1 hier aber nicht hinreichend eindeutig ist, werde ich diese Verse nicht als Beweismittel heranziehen.

4 Die einzige Bibelübersetzung, die wirklich an keiner dieser Stellen eine Einfügung macht, ist die Elberfelder Bibel. Die Folge ist, dass es in dieser Übersetzung Bäume gibt, die keine Bäume sind, einen Bräutigam, der kein Mensch ist, und Senfkörner, die keine Samen sind. Aber die Leser der Elberfelder Bibel sind (meist) intelligent genug zu erkennen, dass dies an der wörtlichen Übersetzung aus dem griechischen liegt.

5 Es hilft dabei auch nicht anzunehmen, dass mit "Namen" hier der Rang oder die Position gemeint ist. Denn ganz egal, was man annimmt, man muss es sozusagen auf "beiden Seiten der Gleichung" tun, so dass der Effekt der gleiche ist wie oben beschrieben.

6 Es gibt hierfür ein besonders schönes Beispiel von Paulus selber, dass man in 1.Korinther 15,27 finden kann:
Wenn er aber sagt, daß ‘alle Dinge unterworfen worden sind’, ist offenkundig der ausgenommen, der ihm alle Dinge unterworfen hat
Hier müssen wir im Deutschen deshalb nicht "andere" in den Text einfügen, da Paulus sich hier ausnahmsweise die Mühe gemacht hat, das Problem selber zu erwähnen: "Alle" bedeutet im griechischen "alle, mit Ausnahme derjenigen, die offensichtlich nicht mit gemeint sind".

7 Zusatzaufgabe: können Fischotter eine Küche aufräumen?

8 Vielen Dank an bibelstudent für das heraussuchen.


9Die beiden Stellen lauten:

Stromateis 3.VI.2:
Und was bedeutet das, was der Herr zu denen sagte, die ihn über den Scheidebrief fragten, nämlich ob es erlaubt sei, sein Weib zu entlassen, da Moses es erlaubt habe? "Das hat Moses" sagt er, "mit Rücksicht auf eure Verstocktheit geschrieben. Ihr aber, habt ihr nicht gelesen, daß Gott zu dem Erstgeschaffenen sagte: Ihr sollt beide ein Fleisch sein? Wer daher sein Weib entläßt, es sei denn wegen Unzucht, der veranlaßt sie zum Ehebruch."
Stromateis 3.XVII.4:
Und wenn die Schlange die Ausübung der Begattung von den unvernünftigen Tieren genommen und den Adam überredet hat, in die geschlechtliche Vereinigung mit Eva einzuwilligen, während die Erstgeschaffenen diese nicht von Natur geübt hätten, wie einige behaupten, so wird die Schöpfung wieder gelästert, da sie dann die Menschen schwächer als die Natur der unvernünftigen Tiere geschaffen hätte und die Erstgeschaffenen Gottes erst dem Beispiel dieser nachgefolgt wären.
10 Wie wir sehen, kann es doch behaupten; aber es ging mir natürlich darum, dass man es nicht berechtigterweise behaupten kann.

11 Man bechte, dass es für dieses Argument vollkommen unerheblich ist, ob "erstgeboren" sich auf eine zeitliche Abfolge oder auf eine Rangfolge bezieht. Obwohl die verschiedenen trinitarischen Argumente viel Raum dafür verwenden, entweder einen der beiden Punkte oder auch beide zu begründen, ist es für uns hier egal. Wichtig ist nicht die Frage, ob "erstgeboren" eine Rangfolge oder eine Abfolge beschreibt, wichtig ist vielmehr, ob der Erstgeborene Teil der Gruppe ist, in der er erstgeboren ist oder ob er möglicherweise nicht dazu gehören muss. An welcher Stelle er gegebenenfalls in die Gruppe einsortiert wird, ist dagegen zweitrangig. Wenn man später dann die Details und Nuancen des Textes verstehen will, dann werden diese Fragen wichtig. Aber hier werden wir so weit gar nicht kommen, da wir noch an der Frage hängen, worum es hier grundsätzlich geht.

Einige versuchen hier auch mit Kolosser 1,18 einen Widerspruch zu diesem Argument zu erzeugen, da hier einige Übersetzungen (z.B. EÜ) den Ausdruck als "der Erstgeborene der Toten" übersetzen. Denn Jesus gehört ja nach biblischer Lehre eindeutig nicht zu den Toten, sondern "er lebt für immer und ewig". Das Problem ist aber leicht gelöst, wenn man den Text wörtlich übersetzt, denn dann heißt es (z.B. in der EB): "der Erstgeborene aus den Toten", und bezieht somit sich auf die Auferstandenen. Jesus gehört eindeutig zu dieser Gruppe.

Es schadet auch nicht, dass das Wort hin und wieder als Metapher verwendet wird. So wird in Hiob 18,13 eine tödliche Seuche als "Erstgeburt des Todes" bezeichnet. Hier ist der Tod natürlich nur metaphorisch der Vater dieser Seuche.

12 Hiermit zeigt Gassmann, dass er selber sein weiter oben genanntes Argument ("erstgeboren" oder "erstgeschaffen") für nicht überzeugend hält. Wenn es nämlich überzeugend wäre, dann könnte und bräuchte nichts mehr entschieden werden.

13 Außer wenn es zu peinlich wird, natürlich; so in Markus 13,32, wo der Text schlecht zu einem allwissenden Gott passt.

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