Freitag, 22. Februar 2013
Das Kreuz mit den Zeugen Jehovas (3): Johannes 20,25, Nägel, Bilder und Plural
hgp, 09:51h
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L. Gassmann hat einen "Beweis" dafür, dass Zeugen Jehovas betrügen, wenn es um das Kreuz1 geht. Auf Seite 191 seines Buches "Zeugen Jehovas: Geschichte, Lehre, Beurteilung" führt er uns folgendes angebliche Argument gegen das Kreuz vor:
Warum ist das aber relevant? Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass in einem Buch über das Kreuz die große Mehrzahl der Abbildungen Kreuze darstellen. Da man sich das selber denken kann, wieso muss es dann noch erwähnt werden? Wer kommt auf die Idee zu sagen: Wenn ich eine Abbildung einer crux simplex sehe, dann muss ich daraus schlussfolgern, dass die entsprechende Person keine "normalen Kreuze" abbilden konnte, es sei denn, dass mir das ausdrücklich gesagt wird? Nur eine sehr unvernünftige Art von Person, meine ich4. Wenn aber in einem Buch über das Kreuz ein einfacher Pfahl als mögliche Kreuzform präsentiert wird, dann ist das natürlich erwähnenswert, da es im Widerspruch zu dem steht, was die Mehrheit der Menschen sich so vorstellt.
Gassmann tut aber im nächsten Satz so, als ob die NWÜ hier mit diesem Bild zeigen wollte, wie Lipsius sich die Kreuzigung Jesu vorstellt. Natürlich spricht er das nicht so aus, aber wenn wir uns seine Sätze anschauen:
Was genau kann man denn mit dem Bild beweisen? Man kann beweisen, dass die "Kreuzform" des einfachen Pfahls bereits seit mindestens einem halben Jahrtausend der theologischen Fachwelt bekannt ist. Und damit ist klar, dass jeder, der behauptet, dass das Wort crux oder stauros "Kreuz" bedeuten muss, ein halbes Jahrtausend hinter dem Fachwissen herhinkt. Genau das ist aber ein Problem für Gassmann, da er eine Seite vorher schreibt:
So weit so korrekt. Hat die NWÜ aber Lipsius auf eine Weise zitiert, die seinen eigenen Aussagen widerspricht? Nein. Der einzige, der hier entgegen der eigentlichen Aussage zitiert, ist Gassmann. Denn die NWÜ versucht im Gegensatz zu Gassmanns Aussage nirgendwo, mit Lipsius' Buch zu beweisen, wie Jesus gestorben ist. Gassmann ist der einzige, der dies behauptet.
Daher will ich hier ein paar Bemerkungen zum Konzept des "gegnerischen Zeugen" (hostile witness) einflechten, den wir aus dem US-amerikanischen Recht kennen. Man kann für seinen Fall vor Gericht Zeugen aufrufen, die einen entweder unterstützen oder die versuchen, den eigenen Fall kaputt zu machen; solche werden dann als "gegnerische Zeugen" bezeichnet. Analog kann ich in theologischen Streitfragen entweder diejenigen zitieren, die ohnehin meiner Meinung sind oder solche, die meiner Meinung entgegenstehen5. Es sollte offensichtlich sein, dass es wesentlich überzeugender für meinen Fall ist, wenn ich die Details meiner Position mit dem Zeugnis derjenigen belegen kann, die meiner Meinung entgegenstehen. Denn dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Details nicht meiner Phantasie entspringen sondern real sind. Wenn ich hingegen nur die zitiere, die ohnehin meiner Meinung sind, dann bestünde die Gefahr, dass wir alle gemeinsam eine Illusion errichten.
Natürlich wird ein derartiger "gegnerischer Zeuge" außerhalb des zitierten Details meistens nicht mehr meiner Meinung sein. Das ist auch in Ordnung so, denn ich führe ihn ja nicht an, weil ich sage, dass seine Argumentation von Anfang bis Ende perfekt ist (ganz im Gegenteil!), sondern weil ich sage, dass er in diesem einen zitierten Detail meine Argumentation stützt, obwohl es für sein Argument eigentlich schädlich ist. Und genau darin liegt der Reiz solche "Zeugen" anzuführen: Sie geben etwas zu, was ihnen selber schadet, und deswegen kann man davon ausgehen, dass sie bereits vorab jede Möglichkeit genutzt hatten, um das besprochene Detail nicht zugeben zu müssen. Wenn sie das aber trotz einer derartigen Anstrengung nicht geschafft haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es bei ernsthafter Überlegung keinen Weg um den Fakt herum gibt. Wenn ich hiungegen jemanden zitiere, der das besprochene Detail verzweifelt benötigt, um sein Argument überhaupt vorbringen zu können, dann besteht die Gefahr, dass er alles übersieht, was dagegen spricht, um sein Argument nicht zu gefährden6.
Wie ich weitermache, nachdem ich einen "gegerischen Zeugen" angeführt habe, hängt davon ab, wie intelligent und gebildet ich meine Leser einschätze: Falls ich meine, dass sie wissen müssten, was ein "gegnerischer Zeige" ist, und sie wissen müssten, dass die zitierte Person nicht meiner Meinung ist, dann muss ich das nicht jedes Mal in meinem Text beschreiben. Wenn ich hingegen für diejenigen schreibe, die keine Ahnung haben, dann sollte ich darauf aufmerksam machen7.
Wer sich die Anhänge der Neuen-Welt-Übersetzung durchliest, dem fällt auf, dass dort erhebliche Fachkenntnisse vom Leser erwartet werden. Daher kann in dieser Umgebung auch darauf verzichtet werden, alle Details zu Lipsius zu nennen, die der kundige Leser selber wissen oder herausbekommen kann. Wenn Gassmann das trotz seiner akademischen Ausbildung nicht weiß, wie war er dann in seiner Studienzeit in der Lage, Quellen selbstständig auszuwerten? Und wenn er es weiß, wieso tut er dann so, als ob hier etwas unehrliches passiert? Eine Antwort auf diese Fragen muss man natürlich nur finden, wenn man Gassmann für unser Thema als Experten zitieren will.
Unabhängig davon, dass Gassmann hier gegen ein von ihm selbst geschaffenes Trugbild argumentiert, ist trotzdem die Frage interessant: Ist es möglich, dass Jesus mit mehreren Nägeln durch die Hände an einen einfachen Pfahl genagelt wurde? Interessant ist hier folgendes Bild, dass ich im Buch Das Kreuz und die Kreuzigung: Eine antiquarische Untersuchung, von H. Fulda, 1878, fand. Die nebenstehende Abbildung aus dem Buch zeigt eindeutig, dass es theoretisch möglich ist, jemanden mit zwei Nägeln durch die Hände an einen Pfahl zu nageln. Und damit wir die Meinung des Autors (eines evangelischen Pfarrers) nicht außen vor lassen: Seine Bildunterschrift im Buch lautete: Wahrscheinlichste Kreuzigung des Erlösers8. Und damit ist wiederum folgende Schlussfolgerung Gassmanns einfach falsch:
Wo wir gerade dabei sind, kann ich hier natürlich nebenbei darüber meckern, dass Gassmann (auf Seite 13 seines Buches) versprochen hat, dass Bibelzitate in seinem Buch aus der Lutherbibel stammen. Wir vergleichen einmal kurz Gassmanns Wiedergabe mit der Lutherbibel um festzustellen, dass er auch hier ohne Hinweis von der offiziellen Lutherübersetzung abweicht:
Außerdem sind seine Vorwürfe (bzw. Anspielungen), dass der Anhang der NWÜ unehrlich argumentiert, aus der Luft gegriffen. Die "Unehrlichkeit" ergibt sich allein daraus, dass er das vorgelegte Argument nicht verstanden hat oder aber absichtlich falsch wiedergibt und nebenbei so tut, als ob man bei jedem Zitat eine weltanschauliche Expertise über die zitierte Person anfertigen müsste, obwohl dies hier offensichtlich unnötig ist.
Alles in allem ist das besprochene Argument an jeder entscheidenden Stelle falsch.
1In diesem Artikel ist ausdrücklich nur von dem Hinrichtungsinstrument Jesu die Rede, nicht von dem Kreuz als "Symbol des Christentums". Wie bereits erwähnt, übersetzen viele das griechische Wort stauros (ebenso lateinisch crux) mit Kreuz. In diesem Artikel ist aber die genaue Übersetzung des Wortes Thema, und wir können nicht einfach eine Bedeutung voraussetzen, wenn wir die Frage klären wollen, ansonsten würden wir einen Denkfehler begehen. Das führt zwar manchmal zu etwas unhandlichen Ausdrucksweisen, ist aber die einzige Möglichkeit, einen derartigen Fehler zu vermeiden.
2Es handelte sich um ein Buch, dessen drei Hauptabschnitte vom Autor ebenfalls als "Bücher" bezeichnet wurden. Aber das hat nun wirklich nichts mit dem Thema zu tun. Es handelt sich hierbei um ein Vorgehen, dass häufiger verwendet wird: So besteht z.B. "Der Herr der Ringe" aus sechs "Büchern", die aber in Wirklichkeit (je nach Format) drei Bücher oder ein Buch sind.
3Ich könnte natürlich hier ein paar dieser Abbildungen einfügen, aber dann würde ich sie sehen. "Na und?" sagst du? Dann würde ich mich darüber aufregen, dass Lipsius offensichtlich keine Ahnung hatte, wie man zwei Balken miteinander verbinden kann, so dass sie nicht auseinander fallen oder sich gegenseitig verdrehen oder dem Grundsatz widersprechen, dass zwei Körper nicht an einem Ort sein können. Was er in seinem Buch abgebildet hat, kann so offensichtlich nicht funktionieren. Alternativ könnte es natürlich auch sein, dass er Holzelektroden erfunden hat und sein Buch als Werbung hierfür gedacht war.
4Wie wir im Laufe dieses Artikels noch sehen werden, kann man Gassmann diesen Gedankengang ohnehin nicht so unterstellen, ohne zum Ergebnis zu kommen, dass er ein Heuchler ist. Denn er erwähnt nicht, dass der von ihm zitierte und kritisierte Anhang der NWÜ nie die Behauptungen aufstellt, die er kritisiert. Daher wäre es unethisch, wenn er gleichzeitig der Meinung wäre, man müsse die Meinung derer, die man zitiert, klarstellen.
5Ich will damit nicht sagen, dass alle Zitate im Anhang der NWÜ von derartigen "gegnerischen Zeugen stammen". Ich habe auch keine Lust, jetzt alle Zitate dort zu prüfen, um möglicherweise einen Zitierten zu finden, der zusammen mit der NWÜ vom theologischen Mainstream abweicht. Wenn es dich interessiert, dann prüfe es und schick mir eine E-Mail mit deinen Ergebnissen.
6Diese Darstellung ist natürlich satirisch übertrieben: Ernsthafte Wissenschaftler kämen nie auf die Idee derartig subjektiv vorzugehen und unliebsame Fakten zu unterdrücken;o)
7Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, dass eine neue Broschüre der Wachtturm-Gesellschaft, die sich an Atheisten wendet, häufig dementsprechende Fußnoten enthält...
8Ich meine nicht, Fulda würde hier die korrekte Methode der Hinrichtung Jesu beschreiben. Ich will lediglich zeigen, dass man bei der Hinrichtung am Pfahl ebenfalls mit mehreren Nägeln durch die Hände angenagelt werden kann.
L. Gassmann hat einen "Beweis" dafür, dass Zeugen Jehovas betrügen, wenn es um das Kreuz1 geht. Auf Seite 191 seines Buches "Zeugen Jehovas: Geschichte, Lehre, Beurteilung" führt er uns folgendes angebliche Argument gegen das Kreuz vor:
Gassmann macht hier mehrere relevante (und ein paar irrelevante) Vorwürfe:Im Anhang der Neuen-Welt-Übersetzung findet sich die Abbildung (Zeichnung) einer »crux simplex« (aufrecht stehender Balken), um augenfällig die Hinrichtungsart bei den Römern zu »illustrieren«. Hierzu wird folgendes ausgeführt: »Ein einfacher Stamm zum Anpfählen eines Verbrechers wurde im Lateinischen crux simplex genannt. Ein solches Marterinstrument wird von Justus Lipsius (1547 -1606) in seinem Buch De cruce libri tres, Antwerpen 1629, auf S. 19 dargestellt. Die nebenstehende Fotografie [sic!] der crux simplex ist eine tatsächliche Reproduktion aus seinem Buch« (NWU, S. 1.642). - Was die Wachtturm-Gesellschaft verschweigt, ist die Tatsache, daß Lipsius in seinem »Buch« (eigentlich sind es drei Bücher!2) fünfzehn weitere Illustrationen abdruckte, von denen die meisten die Hinrichtung an Kreuzen (in Gestalt der crux commissa und immissa) darstellen. Dieses Bild beweist also im Hinblick auf die Hinrichtungsart Jesu gar nichts. Wenn die Wachtturm-Gesellschaft Lipsius als Kronzeugen für die »Pfählung« heranziehen will, sollte sie so ehrlich sein, zuzugeben, daß Lipsius selber (z. B. auf S. 661 seines Buches) ausdrücklich die Kreuzigung (und nicht die Pfählung) als Hinrichtungsart Jesu beschreibt.
Crux simplex aus dem Buch von J. Lipsius
- Es werde verschwiegen, dass Lipsius fünfzehn Abbildungen von Marterinstrumenten in Kreuzform in sein Buch aufnahm.
- Die Abbildung der crux simplex sei kein hinreichender Beweis für die genaue Hinrichtungsmethode Jesu.
- Es sei unehrlich nicht zu erwähnen, dass Lipsius selber meint, Jesus wurde an einem Kreuz hingerichtet.
Verschwiegene Abbildungen
Als erstes beschwert sich Gassmann darüber, dass Lipsius eine Reihe von abgebildeten Kreuzen3 in seinem Buch hat, die im Anhang der NWÜ nicht erwähnt werden. Um erst einmal das offensichtliche zuzugeben: Lipsius' Buch enthält tatsächlich eine Reihe von weiteren Illustrationen. Ich habe sie nicht nachgezählt, es könnten wirklich 15 sein.Warum ist das aber relevant? Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass in einem Buch über das Kreuz die große Mehrzahl der Abbildungen Kreuze darstellen. Da man sich das selber denken kann, wieso muss es dann noch erwähnt werden? Wer kommt auf die Idee zu sagen: Wenn ich eine Abbildung einer crux simplex sehe, dann muss ich daraus schlussfolgern, dass die entsprechende Person keine "normalen Kreuze" abbilden konnte, es sei denn, dass mir das ausdrücklich gesagt wird? Nur eine sehr unvernünftige Art von Person, meine ich4. Wenn aber in einem Buch über das Kreuz ein einfacher Pfahl als mögliche Kreuzform präsentiert wird, dann ist das natürlich erwähnenswert, da es im Widerspruch zu dem steht, was die Mehrheit der Menschen sich so vorstellt.
Gassmann tut aber im nächsten Satz so, als ob die NWÜ hier mit diesem Bild zeigen wollte, wie Lipsius sich die Kreuzigung Jesu vorstellt. Natürlich spricht er das nicht so aus, aber wenn wir uns seine Sätze anschauen:
Was die Wachtturm-Gesellschaft verschweigt, ist die Tatsache, daß Lipsius in seinem »Buch« ... fünfzehn weitere Illustrationen abdruckte, von denen die meisten die Hinrichtung an Kreuzen ... darstellen. Dieses Bild beweist also im Hinblick auf die Hinrichtungsart Jesu gar nichts.Das Wörtchen "also" hat nur dann einen Sinn, wenn irgend jemand mit dem Bild etwas "im Hinblick auf die Hinrichtungsart Jesu" beweisen wollte. Und damit unterstellt er der NWÜ etwas, was dort gar nicht steht. Wie Gassmann selbst zitiert, wollte die NWÜ zeigen, wie eine crux simplex (also ein einfacher Pfahl) dargestellt wird. Weitergehende Schlussfolgerungen aus dem Bild wurden weder in der NWÜ noch sonstwo in der Literatur der Zeugen Jehovas gezogen. Damit widerspricht Gassmann einer Behauptung, die niemand gemacht hat. Was die NWÜ eigentlich an Beweisen zur Hinrichtungsart Jesu anführt, lässt er hingegen unerwähnt.
Was genau kann man denn mit dem Bild beweisen? Man kann beweisen, dass die "Kreuzform" des einfachen Pfahls bereits seit mindestens einem halben Jahrtausend der theologischen Fachwelt bekannt ist. Und damit ist klar, dass jeder, der behauptet, dass das Wort crux oder stauros "Kreuz" bedeuten muss, ein halbes Jahrtausend hinter dem Fachwissen herhinkt. Genau das ist aber ein Problem für Gassmann, da er eine Seite vorher schreibt:
Der für »Kreuz« verwendete lateinische Begriff: »crux« wurde von den Verfassern des Neuen Testaments mit dem griechischen Begriff »stauros« (gelegentlich auch »xylon«) wiedergegeben.Hier behauptet er genau das, was durch Lipsius' Abbildung widerlegt wird. crux muss nicht "Kreuz" (im Gegensatz zu Pfahl) bedeuten, sondern kann auch, wie seit Jahrhunderten bekannt, einen einfachen Pfahl bezeichnen. Wenn er sich aber ernsthaft mit dieser Tatsache auseinandersetzen würde, dann würde er seiner hier zitierte Behauptung selber widersprechen und sein Argument würde in entscheidenden Stellen auseinanderfallen.
Gegenerische Zeugen
Hätte die NWÜ erwähnen müssen, wie Lipsius sich den Tod Jesu vorstellte, wie Gassmann dies als "ehrliches" Verhalten forderte? Wer sich in diesem Thema nicht auskennt, dem wird das vielleicht einleuchtend erscheinen: Wenn ein Gelehrter zu einer Frage angeführt wird, dann darf man nicht den Eindruck erwecken, dass er etwas aussagt, was er in Wirklichkeit gar nicht meint. Und wenn Lipsius meint, dass Jesus am Kreuz gestorben ist, dann darf man ihn nicht auf eine Weise zitieren, die das Gegenteil suggeriert.So weit so korrekt. Hat die NWÜ aber Lipsius auf eine Weise zitiert, die seinen eigenen Aussagen widerspricht? Nein. Der einzige, der hier entgegen der eigentlichen Aussage zitiert, ist Gassmann. Denn die NWÜ versucht im Gegensatz zu Gassmanns Aussage nirgendwo, mit Lipsius' Buch zu beweisen, wie Jesus gestorben ist. Gassmann ist der einzige, der dies behauptet.
Daher will ich hier ein paar Bemerkungen zum Konzept des "gegnerischen Zeugen" (hostile witness) einflechten, den wir aus dem US-amerikanischen Recht kennen. Man kann für seinen Fall vor Gericht Zeugen aufrufen, die einen entweder unterstützen oder die versuchen, den eigenen Fall kaputt zu machen; solche werden dann als "gegnerische Zeugen" bezeichnet. Analog kann ich in theologischen Streitfragen entweder diejenigen zitieren, die ohnehin meiner Meinung sind oder solche, die meiner Meinung entgegenstehen5. Es sollte offensichtlich sein, dass es wesentlich überzeugender für meinen Fall ist, wenn ich die Details meiner Position mit dem Zeugnis derjenigen belegen kann, die meiner Meinung entgegenstehen. Denn dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diese Details nicht meiner Phantasie entspringen sondern real sind. Wenn ich hingegen nur die zitiere, die ohnehin meiner Meinung sind, dann bestünde die Gefahr, dass wir alle gemeinsam eine Illusion errichten.
Natürlich wird ein derartiger "gegnerischer Zeuge" außerhalb des zitierten Details meistens nicht mehr meiner Meinung sein. Das ist auch in Ordnung so, denn ich führe ihn ja nicht an, weil ich sage, dass seine Argumentation von Anfang bis Ende perfekt ist (ganz im Gegenteil!), sondern weil ich sage, dass er in diesem einen zitierten Detail meine Argumentation stützt, obwohl es für sein Argument eigentlich schädlich ist. Und genau darin liegt der Reiz solche "Zeugen" anzuführen: Sie geben etwas zu, was ihnen selber schadet, und deswegen kann man davon ausgehen, dass sie bereits vorab jede Möglichkeit genutzt hatten, um das besprochene Detail nicht zugeben zu müssen. Wenn sie das aber trotz einer derartigen Anstrengung nicht geschafft haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es bei ernsthafter Überlegung keinen Weg um den Fakt herum gibt. Wenn ich hiungegen jemanden zitiere, der das besprochene Detail verzweifelt benötigt, um sein Argument überhaupt vorbringen zu können, dann besteht die Gefahr, dass er alles übersieht, was dagegen spricht, um sein Argument nicht zu gefährden6.
Hat dieser Leser Ahnung von Tuten und Blasen? |
Wer sich die Anhänge der Neuen-Welt-Übersetzung durchliest, dem fällt auf, dass dort erhebliche Fachkenntnisse vom Leser erwartet werden. Daher kann in dieser Umgebung auch darauf verzichtet werden, alle Details zu Lipsius zu nennen, die der kundige Leser selber wissen oder herausbekommen kann. Wenn Gassmann das trotz seiner akademischen Ausbildung nicht weiß, wie war er dann in seiner Studienzeit in der Lage, Quellen selbstständig auszuwerten? Und wenn er es weiß, wieso tut er dann so, als ob hier etwas unehrliches passiert? Eine Antwort auf diese Fragen muss man natürlich nur finden, wenn man Gassmann für unser Thema als Experten zitieren will.
Vorstellung und Nägel
Auf der nächsten Seite behauptet Gassmann hierzu etwas, was eindeutig falsch ist:Durch die Abbildung aus dem Buch von Lipsius wird zum Ausdruck gebracht, wie sich die Wachtturm-Gesellschaft diese Annagelung vorstellt: Je ein Nagel wurde durch die Hände und Füße getrieben.Woher hat er diese Information? Die NWÜ "zitiert" das Bild ausdrücklich um zu zeigen, wie eine crux simplex aussieht. Ein anderer Zweck wird nicht angegeben. Gassmanns Behauptung ist daher ohne jede Entsprechung in der Realität. Und das schöne ist: Du musst mir das jetzt nicht einfach deshalb glauben, weil ich das behaupte oder weil ich einfach die entsprechende Stelle im Wachtturm nicht gefunden habe, sondern weil das ausdrücklich so im Wachtturm steht:
Wir sind uns daher bewußt, daß Bilder von Jesu Tod in unseren Publikationen, wie zum Beispiel das Bild auf Seite 24 in dieser Zeitschrift [hgp:ähnlich der Abbildung von Lipsius] , lediglich angemessene künstlerische Darstellungen sind und keine Wiedergaben anatomischer Gegebenheiten. (Der Wachtturm, 15.08.1987, S. 28-29)Deutlicher kann man wohl kaum ausdrücken, dass die Darstellungen im Wachtturm (und der übrigen Literatur aus diesem Haus) nicht dazu gedacht sind darzustellen, wie Jesus genau angenagelt wurde. Möglicherweise wusste Gassmann dies nicht oder er hat es vorgezogen, diesen Fakt zu vergessen, obwohl beides nicht zu seinem Status als "Experte" passt. Wie dem auch sein mag, sein Argument richtet sich hier nicht gegen Zeugen Jehovas und ihre Ansichten, sondern einzig gegen eine von ihm erfundene Behauptung. Das er diese leicht widerlegen kann, überrascht mich nicht. Aber wirklich hilfreich ist es nicht.
Johannes 20,25
Gassmann fährt dann mit folgendem Argument fort:Nun gibt es aber eine Bibelstelle, die unmißverständlich zum Ausdruck bringt, daß Jesu Hände mit zwei Nägeln angeschlagen wurden: Joh 20,25. Dort sagt Thomas nach der Auferstehung Jesu: »Wenn ich nicht in seinen Händen die Male der Nägel {ton heelon; Plural!) sehe und meinen Finger in die Male der Nägel (Plural!) lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.«Gassmann benutzt dies, um die von ihm selbst aufgestellte, oben zitierte Behauptung zu widerlegen; wir wissen inzwischen, dass Zeugen Jehovas ausdrücklich nicht behaupten, dass Jesus unbedingt mit einem Nagel durch beide Hände an den stauros genagelt wurde.
Darstellung von Fulda |
Die zwingende Konsequenz daraus ist, daß Jesus mit ausgebreiteten Händen an einem wirklichen Kreuz (einer crux commissa oder immissa) gestorben istIn Wirklichkeit ist die "zwingende Konsequenz" daraus lediglich festzustellen, dass Gassmann jede Menge Fehler gemacht hat. Er hat nicht verstanden, was Zeugen Jehovas eigentlich glauben und hat daher ein Argument widerlegt, dass so in der Realität nicht existiert. Weder behaupten Zeugen Jehovas, dass die Abbildung von Lipsius (oder irgendeine andere) genau widergibt, wie Jesus angenagelt wurde, noch behaupten sie, dass sie wüssten, wie viele Nägel dabei verwendet wurden. Und zu guter Letzt irrt er, wenn er meint, dass man nur an einem "wirklichen Kreuz" mit mehr als einem Nagel durch die Hände befestigt werden kann.
Wo wir gerade dabei sind, kann ich hier natürlich nebenbei darüber meckern, dass Gassmann (auf Seite 13 seines Buches) versprochen hat, dass Bibelzitate in seinem Buch aus der Lutherbibel stammen. Wir vergleichen einmal kurz Gassmanns Wiedergabe mit der Lutherbibel um festzustellen, dass er auch hier ohne Hinweis von der offiziellen Lutherübersetzung abweicht:
Gassmanns Lutherbibel:Außerdem ist mir aufgefallen, dass Gassmann auch sehr ungenau ist, wenn es um Singular und Plural geht. Während er bei "Nägel" jedes Mal auf den Plural! hinweist, übersieht er anscheinend, dass das mit "Male" übersetzte Wort im Singular steht und daher von einigen Übersetzungen auch so übersetzt wird:
»Wenn ich nicht in seinen Händen die Male der Nägel sehe und meinen Finger in die Male der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.«
Lutherbibel:
Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.
EB: das Mal der NägelWenn er dies berücksichtigt hätte, dann wäre ihm (und seinen Lesern) möglicherweise aufgefallen, dass man hier nicht so ganz einfach eine Schlussfolgerung daraus ziehen kann, ob Singular oder Plural verwendet wurde. Denn offensichtlich können mehrere Nägel in zwei Händen nicht einen Abdruck hinterlassen, wie man es annehmen muss, wenn man sich allein auf die Verwendung von Singular und Plural im griechischen Text verlässt. Wer das weiß, muss erst einmal darüber nachdenken, warum genau hier Singular und Plural verwendet wurden, bevor er daraus Schlüsse ziehen kann. Es ist natürlich möglich, dass Gassmann dies alles nicht bemerkt hat; sein Verwendung der Lutherübersetzung deutet zumindest darauf hin. Aber seine Schlussfolgerung geht damit auch hier vollkommen am eigentlichen Problem vorbei.
SCHL: das Nägelmal
NWÜ: die Spur der Nägel
ME: das Nägelmal
ZB: das Mal der Nägel
Fazit
Gassmanns hier besprochenes Argument widerlegt Behauptungen, die Zeugen Jehovas nie gemacht haben. Sie behaupten weder zu wissen, wie Jesus genau angenagelt wurde, noch wie viele Nägel dabei verwendet wurden. Seine Schlussfolgerung aus Johannes 20,25 ist unzutreffend, da auch an einem Pfahl jede Hand mit einem gesonderten Nagel befestigt worden sein konnte. Außerdem übersieht er die Verwendung des Singulars an einer für sein Argument sehr wichtigen Stelle.Außerdem sind seine Vorwürfe (bzw. Anspielungen), dass der Anhang der NWÜ unehrlich argumentiert, aus der Luft gegriffen. Die "Unehrlichkeit" ergibt sich allein daraus, dass er das vorgelegte Argument nicht verstanden hat oder aber absichtlich falsch wiedergibt und nebenbei so tut, als ob man bei jedem Zitat eine weltanschauliche Expertise über die zitierte Person anfertigen müsste, obwohl dies hier offensichtlich unnötig ist.
Alles in allem ist das besprochene Argument an jeder entscheidenden Stelle falsch.
1In diesem Artikel ist ausdrücklich nur von dem Hinrichtungsinstrument Jesu die Rede, nicht von dem Kreuz als "Symbol des Christentums". Wie bereits erwähnt, übersetzen viele das griechische Wort stauros (ebenso lateinisch crux) mit Kreuz. In diesem Artikel ist aber die genaue Übersetzung des Wortes Thema, und wir können nicht einfach eine Bedeutung voraussetzen, wenn wir die Frage klären wollen, ansonsten würden wir einen Denkfehler begehen. Das führt zwar manchmal zu etwas unhandlichen Ausdrucksweisen, ist aber die einzige Möglichkeit, einen derartigen Fehler zu vermeiden.
2Es handelte sich um ein Buch, dessen drei Hauptabschnitte vom Autor ebenfalls als "Bücher" bezeichnet wurden. Aber das hat nun wirklich nichts mit dem Thema zu tun. Es handelt sich hierbei um ein Vorgehen, dass häufiger verwendet wird: So besteht z.B. "Der Herr der Ringe" aus sechs "Büchern", die aber in Wirklichkeit (je nach Format) drei Bücher oder ein Buch sind.
3Ich könnte natürlich hier ein paar dieser Abbildungen einfügen, aber dann würde ich sie sehen. "Na und?" sagst du? Dann würde ich mich darüber aufregen, dass Lipsius offensichtlich keine Ahnung hatte, wie man zwei Balken miteinander verbinden kann, so dass sie nicht auseinander fallen oder sich gegenseitig verdrehen oder dem Grundsatz widersprechen, dass zwei Körper nicht an einem Ort sein können. Was er in seinem Buch abgebildet hat, kann so offensichtlich nicht funktionieren. Alternativ könnte es natürlich auch sein, dass er Holzelektroden erfunden hat und sein Buch als Werbung hierfür gedacht war.
4Wie wir im Laufe dieses Artikels noch sehen werden, kann man Gassmann diesen Gedankengang ohnehin nicht so unterstellen, ohne zum Ergebnis zu kommen, dass er ein Heuchler ist. Denn er erwähnt nicht, dass der von ihm zitierte und kritisierte Anhang der NWÜ nie die Behauptungen aufstellt, die er kritisiert. Daher wäre es unethisch, wenn er gleichzeitig der Meinung wäre, man müsse die Meinung derer, die man zitiert, klarstellen.
5Ich will damit nicht sagen, dass alle Zitate im Anhang der NWÜ von derartigen "gegnerischen Zeugen stammen". Ich habe auch keine Lust, jetzt alle Zitate dort zu prüfen, um möglicherweise einen Zitierten zu finden, der zusammen mit der NWÜ vom theologischen Mainstream abweicht. Wenn es dich interessiert, dann prüfe es und schick mir eine E-Mail mit deinen Ergebnissen.
6Diese Darstellung ist natürlich satirisch übertrieben: Ernsthafte Wissenschaftler kämen nie auf die Idee derartig subjektiv vorzugehen und unliebsame Fakten zu unterdrücken;o)
7Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, dass eine neue Broschüre der Wachtturm-Gesellschaft, die sich an Atheisten wendet, häufig dementsprechende Fußnoten enthält...
8Ich meine nicht, Fulda würde hier die korrekte Methode der Hinrichtung Jesu beschreiben. Ich will lediglich zeigen, dass man bei der Hinrichtung am Pfahl ebenfalls mit mehreren Nägeln durch die Hände angenagelt werden kann.
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