Freitag, 10. Juni 2011
Körperschaftsverfahren: Ablehnungsgrund Ausschluss? (Teil 1)
Ich habe mich entschlossen, diesen Artikel zu teilen, da es ansonsten ewig dauern würde, bis er fertig wird und er so lang würde, dass ihn ohnehin niemand lesen wollte. Daher will ich mich im ersten Teil mit den Grundlagen beschäftigen für die Frage, ob das Verhalten von Zeugen Jehovas gegenüber ausgeschlossenen Familienmitgliedern auf dem Boden des Grundgesetzes steht oder nicht. Im nächsten Beitrag werde ich dann konkret das Vorgehen in Bremen (und teilweise in Baden-Württemberg) analysieren.

Inhalt

  1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
  2. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
  3. Was lehren Zeugen Jehovas?
In drei Bundesländern wurde der Antrag der Zeugen Jehovas auf Zweitverleihung des Körperschaftsstatus abgelehnt. Ein wesentliches Argument dafür bestand darin, dass Zeugen Jehovas angeblich die Grundrechte ehemaliger Mitglieder und Austrittswilliger Mitglieder nicht achten würden. Bevor wir zum Thema kommen, die obligatorische Warnung, dass ich kein Rechtsanwalt bin, glaubt mir also nichts, sondern prüft die genannten Quellen selber. Ich selber verlasse mich lediglich auf meine Fähigkeit zu lesen und logisch zu denken, bin daher für Korrekturen in Sachfragen sehr zugänglich und werde den Artikel entsprechend anpassen, sobald ich Fehler erkenne.

In Baden-Württemberg wurde der Vorwurf in Bezug auf die Behandlung ehemaliger Mitglieder wie folgt formuliert (andere Gründe, wie z.B. die Ablehnung von Bluttransfusionen, müssen auf einen späteren Artikel warten):
Es kann vertretbar angenommen werden, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas keine Gewähr der Rechtstreue bietet:

- Sie beeinträchtigt und gefährdet wegen des von ihr geforderten Verbots des Kontakts mit ausgetretenen oder ausgeschlossenen Mitgliedern der Zeugen Jehovas das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens und der Ehe (Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz).

- Damit hält sie zugleich mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln austrittswillige Mitglieder in der Religionsgemeinschaft fest und beeinträchtigt und gefährdet das Grundrecht auf (negative) Religionsfreiheit (Artikel 4 Grundgesetz).
In Bremen lautet der Vorwurf wie folgt:
Es kann vertretbar angenommen werden, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas keine Gewähr der Rechtstreue bietet:

—Sie beeinträchtigt und gefährdet wegen des von ihr geforderten Verbots des Kontakts mit ausgetretenen oder ausgeschlossenen Mitgliedern der Zeugen Jehovas das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens und der Ehe (Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz).

—Damit hält sie zugleich mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln austrittswillige Mitglieder in der Religionsgemeinschaft fest und beeinträchtigt und gefährdet das Grundrecht auf (negative) Religionsfreiheit (Artikel 4 Grundgesetz).1
Meine Frage an dieser Stelle2 lautet: Auf welcher rechtlichen und faktischen Grundlage steht diese Einschätzung? Sind diese Gründe nachvollziehbar oder gibt es (wesentliche) Lücken in der Argumentation? Ich will mit der rechtlichen Grundlage anfangen.

Wie sich im Anerkennungsverfahren im Land Berlin zeigte, sind die ausdrücklich im Gesetzestext genannten Kriterien zur Anerkennung unzureichend. Das Bundesverfassungsgericht hat daher anhand des Grundgesetzes sowie der dokumentierten Absichten der Verfasser von Grundgesetz und Weimarer Verfassung einige zusätzliche Kriterien benannt, die dann von Bundesverwaltungsgericht für das Verfahren in Berlin konkretisiert wurden. Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat dann diese konkreten Kriterien übernommen, damit Zeugen Jehovas geprüft und befunden, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.

Dabei sind diese Urteile Grundsatzentscheidungen, die damit natürlich nicht unmittelbar für andere Bundesländer bindend sind; das heißt aber andererseits nicht, dass man sie jetzt nicht mehr beachten muss. Es ist zu erwarten, dass die obersten Gerichte beim nächsten mal nicht wesentlich anders entscheiden werden als in den vorliegenden Urteilen. Zum einen, weil die Gerichte ihre eigene Urteilsbegründung ja nicht ohne weiteres für ungültig erklären wollen und zum anderen um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Denn Gerichte, die wie eine Lottofee entscheiden, wären ja kaum hilfreich. Aus dem gleichen Grund werden sich auch die unteren Verwaltungsgerichte höchstwahrscheinlich auf diese Urteile berufen, damit ihr Urteil nicht gleich wieder kassiert wird. Aus einem ähnlichen Grund berufen sich auch die Behörden bzw. Parlamente in den Bundesländern auf diese Urteile. Sie benutzen (angeblich) die Kriterien, die diese beiden Gerichte vorgaben.

Wenn man also dies im Hinterkopf behält, dann kann man vereinfacht sagen, dass die Urteile des BVerfG und des BVerwG zur Prüfung der Vorgehensweise in Bremen und den zwei anderen Ländern herangezogen werden können. Auch wenn die Frage für diese Bundesländer gerichtlich neu geprüft wird, werden sich die Kriterien wohl kaum grundsätzlich ändern; es ist höchstens zu erwarten, dass sie hier und da noch etwas "verfeinert" werden. Allerdings ist das nur eine 99%ige Sicherheit; es könnte theoretisch passieren, dass z.B. das Bundesverfassungsgericht zur Meinung kommt, dass die im Jahre 2000 genannten Kriterien nicht gut sind und in einem neuen Prozess dann neue vorgeben.

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG nennt u.a. drei Kriterien der Rechtstreue:
  • Die Religionsgemeinschaft muss das geltende Recht achten; hierbei sind einzelne Gesetzesverstöße unerheblich, soweit grundsätzlich die Rechtsordnung akzeptiert wird und der Rechtsweg eingehalten wird. Hier scheint es keine Probleme mit Zeugen Jehovas zu geben.3
  • Die Religionsgemeinschaft muss die Gewähr bieten, dass sie übertragenes hoheitliches Recht unmittelbar im Einklang mit dem Grundgesetz benutzen. Auch hier scheint niemand Probleme zu haben.
  • Und drittens muss die Religionsgemeinschaft die Gewähr bieten, dass sie die Grundrechte dritter nicht verletzt. Hier kommt es zu den Vorwürfen; daher will ich diesen Punkt etwas genauer beleuchten.
Im genauen Wortlaut schreibt das Bundesverfassungsgericht zu diesem dritten Punkt (insoweit für uns interessant; ohne Quellenangaben, Hervorhebungen von mir):
Eine Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben will, muss insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.
[...]

Eine systematische Beeinträchtigung oder Gefährdung dieser vom Grundgesetz auf Dauer gestellten Grundsätze darf der Staat nicht hinnehmen, auch nicht von Seiten einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaft.

Die korporierten Religionsgemeinschaften sind - soweit sie außerhalb des ihnen übertragenen Bereichs hoheitlicher Befugnisse handeln - an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bindet sie aber an die Achtung der fundamentalen Rechte der Person, die Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. Das Grundgesetz unterstellt die Menschenwürde und andere Grundrechte dem Schutz der Verfassung. So verpflichtet es den Staat, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Kinder können staatlichen Schutz ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG beanspruchen; dabei bildet das Kindeswohl den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fordert vom Staat, den Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen.

Korporierte Religionsgemeinschaften haben einen öffentlich-rechtlichen Status und sind mit bestimmten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Ihnen liegen deshalb die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften. Diese Pflichten verbieten die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre.
Das BVerfG stellt hiermit erst einmal ziemlich abstrakte Kriterien auf, die man unmittelbar so nicht anwenden kann. Trotzdem ist es wichtig, diese Prinzipien zu verstehen, um später das Urteil des BVerwG zu verstehen und das Vorgehen der Bundesländer dann einschätzen zu können.

Der erste für uns wichtige Satz hier lautet: "Die korporierten Religionsgemeinschaften sind an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden." Mit anderen Worten: die Glaubenslehre und -praxis einer Religionsgemeinschaft muss nicht mit den Grundrechten des Grundgesetzes in Übereinstimmung sein. Das wird (soweit es die großen Kirchen betrifft) auch seit Anfang des Grundgesetzes an so gelebt.

Um ein ziemlich abgedroschenes Beispiel zu wiederholen, besagt das Grundgesetz im Artikel 3, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Trotzdem kann keine Frau die katholische Kirche verklagen, weil diese ihr den Zugang zum Priestertum verwehrt. Dieses Grundrecht gilt innerhalb der Kirche nicht (genausowenig, wie es unmittelbar für andere nichtstaatliche Institutionen gilt). Und was für die katholische Kirche gilt, gilt dann auch genau so für alle anderen Religionsgemeinschaften. Deswegen kann der Staat nicht überprüfen, ob die Glaubenspraxis einer Religion die Grundrechte dritter einhält, ansonsten würde die katholische Kirche (und viele andere) diesen Status morgen verlieren.

Trotzdem kommt das BVerfG zum Ergebnis, dass das Verhalten der Religionsgemeinschaft die Gewähr dafür bieten müsse, dass sie die Grundrechte dritter achtet. Das hört sich erst einmal paradox an, ist es aber nicht. Der Staat selber muss die Grundrechte unmittelbar beachten, wie das Gericht weiter ausführt. Deswegen ist es dem Staat verboten, den Körperschaftsstatus an eine Gemeinschaft zu verleihen, die diese Grundrechte nicht ausreichend achtet. Heißt das nun, dass der Staat der katholischen Kirche den Körperschaftsstatus nicht hätte verleihen dürfen?

Nee, das wäre ja alles viel zu einfach. Vermutlich haben die Verfassungsrichter auch genau dieses Problem gesehen, und haben daher ein etwas komplizierteres Kriterium genannt: Der Staat darf den Körperschaftsstatus nicht an eine Religion verleihen, "gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter [insbesondere hier die Grundrechte Dritter] berechtigt oder gar verpflichtet wäre".

Die Frage, die das Gericht damit stellt, lautet in der Praxis nicht: achtet die Religionsgemeinschaft die Grundrechte anderer, sondern: muss der Staat gegen diese Religionsgemeinschaft einschreiten, um sie daran zu hindern, die Grundrechte anderer zu missachten bzw. sie dazu zu zwingen, die Grundrechte anderer zu beachten. Dieser Unterschied ist wesentlich, wie wir noch sehen werden. Denn wenn ein Bundesland etwas ganz anderes prüft, als hier geschrieben, dann prüft es möglicherweise etwas, was es nicht prüfen darf, da es dann die weltanschauliche Neutralität des Staates verletzt. Und dieser Punkt erlegt dem Land die Pflicht auf zu benennen, wie es denn genau gegen die Religionsgemeinschaft einschreiten müsste. Es wäre ja auch seltsam, wenn ein Land sagen würde: "Wir müssten eigentlich gegen die Religionsgemeinschaft einschreiten, aber wo, wie und weshalb, das können wir nicht so genau sagen."

Und das Gericht schreibt noch, dass eine "systematische Beeinträchtigung oder Gefährdung" nicht hingenommen werden darf. Damit wird auch hier die Einschränkung gemacht, dass es nicht um Einzelfälle gehen kann, sondern um ein Vorgehen, dass regelmäßig vorkommt. Auch dieser Unterscheid ist wichtig. Damit muss ein Bundesland, dass einen derartigen Antrag ablehnt, nicht nur einzelne Fälle von Beeinträchtigung von Grundrechten finden, sondern muss auch zeigen, dass diese Fälle "systematisch" sind, also nicht nur Ausnahmen darstellen.

Gegen Ende des Urteils schreibt das Gericht noch:
Insbesondere ist im fachgerichtlichen Verfahren offen geblieben, ob die Beschwerdeführerin - wie das Land Berlin behauptet - [...] austrittswillige Mitglieder zwangsweise oder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln in der Gemeinschaft festhält und damit dem staatlichen Schutz anvertraute Grundrechte beeinträchtigt.
Was sind "Grundgesetz missbilligte Mittel"? Hier wird keine genaue Definition angegeben und diese stattdessen dem Bundesverwaltungsgericht überlassen.

Ein weiteres wesentliches Kriterium nennt das BVerfG hier (wieder ohne Quellenangaben):
Ob einer antragstellenden Religionsgemeinschaft der Körperschaftsstatus zu versagen ist, richtet sich nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem Verhalten. Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität verwehrt es dem Staat, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Mangels Einsicht und geeigneter Kriterien darf der neutrale Staat im Bereich genuin religiöser Fragen nichts regeln und bestimmen. Das hindert ihn freilich nicht daran, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist. Ob dabei Glaube und Lehre der Gemeinschaft, soweit sie sich nach außen manifestieren, Rückschlüsse auf ihr zu erwartendes Verhalten zulassen, ist eine Frage des Einzelfalls.
Hier werden drei wesentliche Punkte genannt. Als erstes darf der Staat die Glaubenslehre als solche nicht beurteilen. Er darf stattdessen nur das tatsächliche Verhalten beurteilen (natürlich muss er dazu das tatsächliche Verhalten erst einmal feststellen). Und schließlich muss der Staat in jedem Einzelfall prüfen, inwieweit die Glaubenslehre überhaupt Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten zulässt (natürlich muss man hierzu die Glaubenslehre erst einmal verstanden haben).



In einem Kommentar zu diesem Urteil schreibt der Staatskirchenrechtler H. Weber:
Dabei darf nicht übersehen werden, dass der Staat den ihm obliegenden Schutz der Grundrechte in der dritten Dimension (also im Verhältnis gleichgeordneter Rechtssubjekte, etwa zwischen Privaten untereinander, aber auch zwischen Privaten und – privatrechtlichen und korporierten – Religionsgemeinschaften) in aller Regel durch die staatliche Gesetzgebung gewährleistet. In dem hier angesprochenen Bereich privater Gleichordnung hat es der Einzelne deshalb in aller Regel kaum einmal nötig, sich direkt auf die Grundrechtsgarantien zu berufen, um die Sicherung der ihm grundrechtlich gewährleisteten Positionen gegenüber gleichgeordneten Rechtssubjekten des Privatrechtsverkehrs zu erreichen – das deswegen, weil die Sicherung dieser Grundrechtspositionen und ihre Abgrenzung gegenüber gegenläufigen Grundrechtspositionen Dritter durch ein vielfältiges und genau aufeinander abgestimmtes System gesetzlicher Regelungen geleistet wird. Fälle von Grundrechtsverletzungen oder -gefährdungen durch Religionsgemeinschaften, die nicht gleichzeitig Verstöße gegen staatliches Recht bedeuten, sind daher nur schwer vorstellbar. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die antragstellende Religionsgemeinschaft die Gewähr dafür bieten muss, dass sie dem „staatlichen Schutz anvertrauter Grundrechte Dritter“ nicht gefährdet, unterscheidet sich dann aber kaum mehr von dem seit jeher allgemein anerkannten Gebot der „Rechtstreue“.
Einfach ausgedrückt: es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine Religionsgemeinschaft die Grundrechte Dritter missachtet ohne dass sie gleichzeitig andere Gesetze bricht. Daher werde ich skeptisch sein, wenn eine Missachtung von Grundrechten behauptet wird, ohne dass ein Gesetzesverstoß vorliegt. So etwas kann zwar hypothetisch passieren, müsste dann aber genau gezeigt werden.

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Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Im Jahre 2001 haben die Richter hier dann die besprochenen Prinzipien in konkrete Vorgaben für den Fall der Zeugen Jehovas umgesetzt. In dem Teil, der für unser Thema interessant ist, schreiben sie (ohne Quellenangaben, Hervorhebungen von mir, meine Ergänzungen in blau):
b) Vom Oberverwaltungsgericht ist ferner zu klären, ob die Religionsgemeinschaft aktiv darauf hinarbeitet, dass ausgetretene oder ausgeschlossene Familienmitglieder von ihren in der Religionsgemeinschaft verbleibenden Familienangehörigen in einer Weise ausgegerenzt werden, die den durch Art. 6 Abs 1 GG geschützten Bestand von Familie und Ehe gefährdet. Das beklagte Land hat im Berufungsverfahren vorgetragen, dass Eltern angewiesen werden den Kontakt zu ihren Kindern aufzugeben, die aus der Religionsgemeinschaft ausgeschieden sind. Sinngemäß ist ferner darauf hingewiesen worden, dass mit Ehegatten, die aus der Religionsgemeinschaft ausgetreten sind oder ausgeschlossen wurden, "keine geistige Gemeinschaft" mehr gepflegt werden dürfe und der Umgang auf das "absolut Notwendige" zu beschränken sei. Die Klägerin bestreitet eine solche Ausgrenzung von Kindern und Ehegatten.

Ein aktives Hinarbeiten auf eine Trennung von Ehepartnern oder Familien wäre ein ausreichender Grund für die Versagung des Körperschaftsstatus. Nach Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Verfassungsbestimmung enthält ein Grundrecht der Familienangehörigen und verpflichtet den Staat dazu, Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren. Das von dem beklagten Land behauptete Verhalten der Religionsgemeinschaft würde das Grundrecht der Kinder und des Ehegatten aus Art. 6 Abs. 1 GG, zu dessen Schutzbereich das familiäre Zusammenleben gehört, beeinträchtigen oder zumindest gefährden.

c) Wenn der Austritt aus der Religionsgemeinschaft typischerweise diese Konsequenzen hätte [d.h., wenn die die Religionsgemeinschaft typischerweise aktiv auf eine Trennung hinarbeitet], würde sich dies regelmäßig auch als nachhaltige Sperre gegen den einen Austritt auswirken. Denn der Austrittswillige wird wird von einem Ausscheiden aus der Religionsgemeinschaft regelmäßig absehen, um den Kontakt mit seinen engsten Familienangehörigen aufrechtzuerhalten. Ein solches Verhalten würde - sei es als schwerwiegende Nebenfolge des oben dargestellten Verhaltens der Klägerin oder als gezielte Maßnahme - auch das Grundrecht des Austrittswilligen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gefährden, dass das Recht umfasst, mit Wirkung für den Bereich des staatlichen Rechts aus der Religionsgemeinschaft auszutreten. Als gezielte Maßnahme wäre ein solches Festhalten [d.h., wenn die die Religionsgemeinschaft typischerweise aktiv auf eine Trennung hinarbeitet] austrittswilliger Mitglieder in der Gemeinschaft mit Mitteln, die das Grundgesetz (Art. 6 Abs. 1 GG) missbilligt, ein Grund, der Verleihung der Körperschaftsrechte entgegenstehen kann.
Als erstes beantwortet das BVerwG im letzten Absatz die Frage, was "Mittel, die das Grundgesetz missbilligt" in diesem Fall sind: ein "aktives Hinwirken auf Trennung" von Ehepartnern oder Familienangehörigen. Familienangehörige im hier verwendeten Sinne sind Eltern und Kinder. Im Sinne der Grundrechte sind andere Personen (z.B. Großeltern, Cousins, Tanten) keine Familie.

Der wichtige Ausdruck hier lautet also: "aktiv darauf hinarbeiten". Was ist damit gemeint? Das sagt das Gericht mal wieder nicht im einzelnen, möglicherweise weil man dafür ja erst einmal die Fakten im vorliegenden Fall geprüft haben muss, was zum Zeitpunkt dieses Urteils noch nicht der Fall war. Was für mich mehr als seltsam ist: die Ablehnungen gehen zwar auf das Urteil im Zusammenhang der besprochenen Fragen ein, benutzen sogar (auf Seite 20 des Berichtes des Bremer Rechtsausschusses) den genauen Ausdruck "aktives Hinwirken" und verwenden den Ausdruck "vom Grundgesetz missbilligte Mittel", gehen aber auf die Frage, was "aktives Hinwirken" denn ist und ob das geschilderte Verhalten dazu gehört, nicht ein. Aber ohne eine Antwort hierauf kann eine sinnvolle Prüfung nicht erfolgen.

Das Kriterium des "aktiven Hinwirkens" ist aus folgenden Gründen erforderlich: Zum ersten darf der weltanschaulich neutrale Staat nicht die Glaubenslehre als solche bewerten. Ob Zeugen Jehovas ein totales Kontaktverbot zu ausgeschlossenen Familienmitgliedern predigen oder die Hexenverbrennung4, dies kann den Staat erst einmal nicht interessieren, wie das BVerfG ausführte.

Und natürlich lässt der Staat Ehescheidungen zu. Zeugen Jehovas dürfen sich damit prinzipiell von andersgläubigen Ehepartnern scheiden lassen, ohne dass dies den Staat etwas angeht. Die Motivation der Einzelperson für eine Ehescheidung interessiert den Staat prinzipiell auch nicht.

Auch gibt es keine Verpflichtung zu einem bestimmten Maß des Umgangs mit verschiedenen Familienangehörigen (Ausnahme: minderjährige Kinder: das kommt gleich). Niemand in Deutschland kann vom Staat zum Umgang mit Familienangehörigen verpflichtet werden. Kontaktabbrüche kommen natürlich täglich vor, ohne dass der Staat dagegen einschreitet; die Gründe dafür sind so vielfältig wie für den Staat uninteressant. Für die einen ist es die Berufswahl des Kindes, für andere das Verhalten bei einer Erbschaftsangelegenheit und für noch andere religiöse Überzeugungen. Religiöse Überzeugungen als Grund für Kontaktabbruch gibt es auch bei den Großkirchen, wie z.B. hier: jemand wurde Zeuge Jehovas und Familienmitglieder, die der evangelischen Kirche angehören, brechen den Kontakt ab. Mir persönlich sind ähnliche Fälle bekannt, wo Menschen, die aus der evangelischen oder katholischen Kirche austraten um Zeugen Jehovas zu werden, von der Familie nicht mehr als Familienmitglied betrachtet werden. Niemand kommt deswegen auf die Idee, diesen Kirchen den Körperschaftsstatus abzuerkennen: es ist Privatsache der einzelnen Mitglieder, in wie weit sie aufgrund ihrer eigenen religiösen Überzeugung (nicht aufgrund eines äußeren Zwanges) Umgang mit ihrer Familie haben wollen.

Es gibt da auch keine Ausnahmeregelung für Zeugen Jehovas, nach der diese gezwungen sind, mit Familienmitgliedern Umgang zu haben, weil diese keine Zeugen Jehovas mehr sind oder dass sie keine religiöse Motivation haben dürfen, den Kontakt zu irgendeinem Familienmitglied einzuschränken. Prinzipiell ist das jedem einzelnen überlassen und die dahinter stehende Motivation geht den Staat nichts an. Das Grundrecht auf Schutz der Familie ist nämlich nicht gleichzeitig Pflicht des einzelnen Familienangehörigen auf Umgang. Ansonsten wäre das gesamte Scheidungsrecht ja verfassungswidrig, was eine einigermaßen absurde Idee ist: man darf sich nicht scheiden lassen, da dies ja erheblich den Umgang innerhalb der Familie einschränkt. Es gibt keine grundgesetzliche Verpflichtung zum Umgang mit Familienangehörigen, wenn jemand dies nicht wünscht.

Etwas anderes würde natürlich den Fall betreffen, wenn Eltern den Umgang mit ihren minderjährigen Kindern einstellen würden, da hier die Pflicht zu Unterhalt und Erziehung besteht. Das oben gesagte gilt daher natürlich nicht für solch einen Fall, aber das, weil hier noch andere weitergehende Rechte und Verpflichtungen im Spiel sind.

Das einzige, was den Staat interessieren kann, ist das "Zusammenspiel" zwischen Religion und dem Verhalten des Einzelnen. Nach den o.g. Urteilen ist die Glaubenslehre als solche kein Problem. Einzig die Frage, ob die Religionsgemeinschaft "aktiv darauf hinwirkt", dass der einzelne den Umgang einschränkt, ist relevant. Wo liegt hier die Grenze?

Der Ausdruck "aktiv" legt nahe, dass es nicht einfach nur um die Verkündung einer Glaubenslehre geht, sondern um einen darüber hinaus gehenden "aktiven" Zwang. Einen Hinweis hierzu gibt das BVerwG mit einem Hinweis zur Zustimmung zu Bluttransfusionen, wobei die Details andere sind, aber die grundsätzliche Einschätzung, was eine Religionsgemeinschaft darf, ohne den Körperschaftsstatus zu verlieren, hier sinngemaäß angewendet werden kann:
Wenn sich dagegen herausstellt, dass die von dem Beklagten angeführten Maßnahmen darauf zielen, Eltern in der Ablehnung der Bluttransfusion "zu überwachen" und dadurch zu verhindern, dass diese im Interesse ihres Kindes der Bluttransfusion zustimmen, würde sich aus einem solchen Verhalten unter der Voraussetzung, dass es sich lediglich als Bestärkung der als richtig angesehenen religiösen Haltung darstellt, kein zusätzlicher Gesichtspunkt gegen die Zuerkennung des Körperschaftssstatus ergeben.
Sinngemäß wären Erinnerungen an die "als richtig angesehene religiöse Haltung" zum Umgang mit ehemaligen Zeugen Jehovas kein Ablehnungsgrund für den Körperschaftsstatus. Anders ausgedrückt: wenn jemand eine Kontakteinschränkung aus religiösen Gründen als richtig ansieht, dann darf die Religionsgemeinschaft ihn in seiner religiösen Überzeugung bestärken. Erst wenn jemand von seiner Religionsgemeinschaft mit Zwang vom Umgang abgehalten wird, obwohl er ihn eigentlich pflegen möchte, liegt ein Ablehnungsgrund des Körperschaftsstatus vor.

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Was lehren Zeugen Jehovas?

Nachdem ich nun gezeigt habe, dass den Staat die Glaubenslehre als solche nicht zu interessieren hat, will ich sie trotzdem einmal untersuchen. Zum einen wurden in Bremen und Baden-Württemberg diverse Behauptungen über diese Lehre aufgestellt, die so nicht zutreffen. Zum Anderen ist es ja möglich, dass die Glaubenslehre hier und dort mit den Worten des BVerfG Rückschlüsse auf das zu erwartende Verhalten zulässt. Fangen wir mit der grundsätzlichen Glaubenslehre an. Hierzu lesen wir im Königreichsdienst Februar 2008:
Gottes Wort gebietet Christen, keinen Umgang oder keine Gemeinschaft mit jemandem zu haben, der aus der Versammlung ausgeschlossen wurde5.[...]

Das heißt, dass loyale Christen keine religiöse Gemeinschaft mit jemandem haben, der aus der Versammlung ausgeschlossen wurde. Doch das ist nicht alles.[...]

Daher sollten wir auch keinen gesellschaftlichen Umgang mit einem Ausgeschlossenen haben.[...]

Wie verhält es sich mit Gesprächen mit einem Ausgeschlossenen?[...] Ein einfacher Gruß kann der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein. Möchten wir bei einem Ausgeschlossenen diesen ersten Schritt tun?
Zum ersten handelt es sich hierbei natürlich um die Verkündigung der Glaubenslehre. Als solche kann der Staat sie nicht beurteilen.

Diese Sätze betreffen außerdem das Verhalten gegenüber ehemaligen Zeugen Jehovas, die keine Verwandten sind und können daher kein Problem in Bezug auf die Grundrechte aus Art. 6 GG darstellen, da diese hier nicht angesprochen werden. Ebenso sind Sanktionen gegen einzelne Mitglieder, die sich hieran nicht halten, kein Problem dieser Grundrechte, da das Verhältnis zu ausgeschlossenen Verwandten hier nicht besprochen wird.

Zum Verhältnis gegenüber ausgeschlossenen Verwandten, die im gleichen Haushalt leben, heißt es ausdrücklich im gleichen Artikel:
Wenn ein Ausgeschlossener in einer christlichen Familie lebt, hätte er immer noch am normalen, alltäglichen häuslichen Geschehen und an familiären Aktivitäten teil." Daher bleibt es den Familienmitgliedern überlassen, zu entscheiden, in welchem Umfang der Ausgeschlossene mit ihnen essen oder sich an sonstigen Familienaktivitäten beteiligen kann.

[...] Ist einem minderjährigen Kind die Gemeinschaft entzogen worden, das bei seinen Eltern wohnt, sind diese nach wie vor für dessen Erziehung verantwortlich. [...] Genauso, wie sie weiterhin ihr Kind in Bezug auf Nahrung, Kleidung und Obdach versorgen, sollten sie es auch im Einklang mit Gottes Wort unterweisen [...]
Dies ist offensichtlich in voller Übereinstimmung mit dem Grundgesetz. Die familiären Rechte und Pflichten bestehen voll weiter, es gibt demnach auch keine "Pflicht zur Ehescheidung" oder "Trennungsgebote". Zu diesem Punkt heißt es außerdem:
Die früheren geistigen Bande sind völlig aufgelöst worden. Das trifft selbst auf seine Angehörigen zu, auch auf die im engsten Familienkreis. . . . Das bringt zwangsläufig Veränderungen in den geistigen Beziehungen mit sich, die bis dahin in der Familie bestanden haben mögen. Wenn zum Beispiel dem Mann die Gemeinschaft entzogen worden ist, wird es seiner Frau und den Kindern nicht recht sein, dass er ein Familienstudium durchführt oder die Familie beim Bibellesen oder im Gebet leitet. Möchte er bei Mahlzeiten ein Gebet sprechen, so hat er in seiner Wohnung das Recht dazu. Doch seine Angehörigen können im Stillen selbst zu Gott beten (Spr. 28:9; Ps. 119:145, 146). Was ist, wenn ein Familienangehöriger, dem die Gemeinschaft entzogen worden ist, dem Bibellesen oder einem Bibelstudium im Familienkreis beiwohnen möchte? Die anderen können ihn zuhören lassen, wenn er nicht versucht, sie zu belehren oder seine religiösen Anschauungen vorzubringen.
Auf den Punkt gebracht heißt das, dass die gemeinsame Religionsausübung mit ausgeschlossenen Verwandten verboten ist (und auch mit Sanktionen belegt wird). Hierin wird kein Grundrecht der Ausgeschlossenen berührt, da sie sich ja vorher bereits entschieden hatten, die Religion der Zeugen Jehovas nicht mehr auszuüben. Wenn er diese Religion wieder ausüben will, kann er einen Antrag auf Wiederaufnahme stellen. Und es gibt kein Grundrecht auf gemeinsame Religionsausübung mit Personen einer anderen Religion.

Zum Kontakt mit ausgeschlossenen Verwandten, die nicht eine gemeinsame Wohnung bewohnen wird in dem Buch "Bewahrt euch in Gottes Liebe" auf S. 207ff:
In seltenen Fällen könnten es gewisse Familienangelegenheiten zwar erfordern, dass man mit dem Ausgeschlossenen begrenzt Kontakt hat, doch sollte dieser auf ein Minimum beschränkt werden.
Dieser Fall wäre der einzige, in dem überhaupt die Grundrechte Dritter aus Art. 6 GG durch die Glaubenslehre beeinträchtigt werden könnten, nämlich (ausschließlich!) dann, wenn die Religionsgemeinschaft "aktiv darauf hinwirkt", dass dies durchgesetzt wird. Tut sie das?

In dem aktuellen Handbuch für Älteste "Hütet die Herde Gottes" wird auf Seite 116 der Fall besprochen, dass ein Zeuge Jehovas sich nicht an diese Glaubenslehre hält. Die Ältesten sollten demnach diesem Glaubensbruder die religiösen Grundsätze erklären. Hierbei handelt es sich um die Verkündigung der Glaubenslehre; damit kann hierdurch keine Grundrechtsverletzung vorliegen.

Falls der Zeuge Jehovas sich trotzdem weiterhin nicht an diese Lehre hält, dann wird festgestellt, dass er nicht mehr vorbildlich in der Glaubensausübung ist (das ist keine Sanktion, sondern die Feststellung einer Tatsache); solch eine Person eignet sich dann nicht mehr für bestimmte religiöse Privilegien. Dies ist an sich auch keine Sanktion, da die Religionsgemeinschaft offensichtlich religiöse Privilegien an diejenigen vergibt, die vorbildlich in der Glaubensausübung sind.

Um hier eine Gefährdung von Grundrechten zu sehen, müsste man im Nichtzuerkennen von religiösen Privilegien ein aktives Hinwirken auf eine Trennung der Familie sehen. Das wäre meines Erachtens eine extreme Auslegung, die sich dann bereits in das religiöse Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft einmischen würde (wer erhält ein religiöses Amt?), und damit die weltanschauliche Neutralität des Staates verletzen würde. Allerdings hat bisher noch niemand ernsthaft diese Frage gestellt6.

Weiterhin enthält dieser Abschnitt die ausdrückliche Feststellung, dass die Religionsgemeinschaft keine Sanktionen gegen Mitglieder verhängt, die Kontakt mit ausgeschlossenen Verwandten haben. Damit steht die Religionsgemeinschaft auch hier in einem Bereich, der mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Die Religionsgemeinschaft wirkt nämlich ausdrücklich(!) nicht aktiv darauf hin, dass diese Lehre eingehalten wird.

An dieser Stelle kann ich schon die Einwände hören: Das kann man so nicht sehen, da die Realität bei Zeugen Jehovas gaaaaanz anders aussieht, als hier beschrieben. In Wirklichkeit würden die Zeugen Jehovas ihre ausgeschlossenen Verwandten eben doch meiden. Die hier beschriebenen Grenzen würden nur auf dem Papier bestehen und in Wirklichkeit gibt es "Druck", sich doch so zu verhalten.

Dieser Einwand ändert natürlich nichts daran, dass es sich um die offizielle Glaubenslehre handelt, die auch so in konkrete Anweisungen an die Gemeindeleitungen umgesetzt wird. Trotzdem will ich hier über einige Gründe "spekulieren", warum es Fälle gibt, in denen Zeugen Jehovas diese "Möglichkeiten" nicht ausnutzen.

Häufig wird ein Ausschluss aufgrund von ehelicher Untreue (Ehebruch) ausgesprochen. In diesem Fall kommt es logischerweise auch häufig zu einer Trennung der Ehepartner; Ursache hierfür ist dann aber nicht der Ausschluss, sondern das Verhalten des Ausgeschlossenen. Es handelt sich damit um die Folgen seines Handelns, für die er nicht die Verantwortung auf andere abwälzen kann.

Es ist auch bereits vorgekommen7, dass ein ehemaliger Zeuge Jehovas die Freiheit seiner Familie auf religiöse Selbstbestimmung missachtet und selber versucht sie mit Zwang zu seinen neuen Überzeugungen zu bekehren. Auch in diesem Fall hat das Zerfallen der Familie nichts mit der Religionsgemeinschaft zu tun, sondern beruht auf dem Handeln des Ausgeschlossenen.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der einzelne Zeuge Jehovas für sich(!) die Entscheidung trifft, keinen Umgang mehr mit seinem ausgeschlossenen Verwandten zu haben, ohne dass dies auf einem Zwang seitens der Religionsgemeinschaft beruht, sondern auf dem (religiösen) Selbstverständnis des einzelnen. Auch in diesem Fall wäre das kein Grund, dies der Religionsgemeinschaft anzulasten und hier eine Grundrechtsgefährdung zu sehen. Niemand hat eine Umgangsverpflichtung. Wenn der einzelne Zeuge Jehovas keinen Umgang mit einem ausgeschlossenen Verwandten haben will, zwingt ihn der Staat nicht.

Es gibt also eine ganze Reihe von Möglichkeiten (die genannten Beispiele waren nicht erschöpfend), dass Zeugen Jehovas den Umgang mit ausgeschlossenen Verwandten einschränken, ohne dass dies auf einem "aktiven Hinwirken" der Religionsgemeinschaft beruht. Wer daher behauptet, dass entsprechende Vorfälle entgegen der offiziellen Glaubenslehre doch auf dem Handeln der Glaubensgemeinschaft und nicht auf dem Entschluss des einzelnen beruhen, der ist erst einmal in der Nachweispflicht. Wie wir im nächsten Artikel sehen werden, wird genau dieser entscheidende Punkt jedes mal umgangen.

Der oben erwähnten "Druck" ist übrigens ein subjektives Empfinden von Einzelpersonen. Als solches kann er nicht herangezogen werden, um über die Religionsgemeinschaft zu entscheiden. Hierfür sind objektive Kriterien erforderlich. Erst wenn der subjektiv empfundene "Druck" aus einem objektiv feststellbaren Handeln der Religionsgemeinschaft hervorgeht, kann es sich um ein "vom Grundgesetz missbilligtes Mittel" handeln. In der Realität wurde dieser Zusammenhang natürlich nicht erwiesen sondern stillschweigend vorausgesetzt.

Übrigens gilt die Glaubenslehre in dieser Art seit spätestens 1981, es kann sich also auf keinen Fall um eine Reaktion auf den Körperschaftsprozess handeln.8

Was jetzt noch fehlt, ist eine Untersuchuchung der wirklich genannten Ablehnungsgründe anhand der hier aufgezeigten Grundsätze. Dazu mehr in einem folgenden Artikel.

[Fortsetzung folgt]

Hinweise auf Rechtschreibfehler, Grammatikfehler und Logikfehler bitte in einem Kommentar hinterlassen, am besten in folgender Form:

ein flasches Wort -> ein falsches Wort

Das erleichtert die Korrektur ungemein.
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1 Mir kommt dabei nicht von ungefähr der Verdacht, dass in Bremen aus dem Gutachten von Baden-Württemberg abgeschrieben wurde.

2 Eine etwas allgemeinere Analyse des Gutachtens aus Baden-Württemberg betrieb ich hier. Die übrigen Fragen wie z.B. das "Blutverbot" müssen auf einen anderen Beitrag warten.

3 Die Länder Bremen und Baden-Württemberg vermischen an verschiedenen Stellen die unterschiedlichen Kriterien, die im Urteil des BVerfG getrennt stehen: Rechtstreue, hoheitliche Befugnisse und Achtung der Grundrechte dritter. Für diese drei Punkte werden im Urteil vollkommen unterschiedliche Begründungen gebracht, die dann auch unterschiedliche Prüfungskriterien erfordern.

4Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: weder das eine noch das andere wird gelehrt.

5 Das gleiche gilt grundsätzlich immer auch für Personen, die von sich aus aus der Religionsgemeinschaft austreten, ich bin bloß zu faul, dass jedes mal auszuschreiben.

6 Da diese Behauptung nicht jeden zufrieden stellen wird, will ich sie noch etwas erläutern. Im Recht der katholischen Kirche gibt es einen Paragrafen(§277), der Priestern ("Klerikern") verbietet zu heiraten. Daraus folgt: ein Priester, der heiratet, verliert sein "klerikales Amt". Damit wird eine Eheschließung eines katholischen Priesters (also die Ausübung seines Grundrechtes nach Art. 6 GG) mit einer Folge belegt, die dem entspricht, was Zeugen Jehovas praktizieren, nämlich dem Verlust der geistlichen Ämter. Also entweder gilt diese Folge nicht als ein "vom Grundgesetz missbilligtes Mittel" und dann können Zeugen Jehovas es genau so verwenden wie die katholische Kirche, oder aber die katholische Kirche muss deswegen den Körperschaftsstatus abgeben, da sie nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Ich bin daher überzeugt, dass Sanktionen auf diesem Level noch nicht als "vom Grundgesetz missbilligtes Mittel" gelten. Ich verspreche aber, dass ich meine Meinung ändere, sobald die katholische Kirche aus diesem Grund zum "e.V." mutiert ist;o)

7 Das ist ein Ausnahmefall.

8 Möglicherweise auch länger, aber ich hatte kein Lust mehr zum weiteren Suchen.

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