Freitag, 8. Juli 2011
Zeuge Jehovas gewinnt gegen Armenien
Eine Woche nachdem der EuGM für Zeugen Jehovas gegen Frankreich entschieden hat eine neue Entscheidung:

Wie man der Pressemitteilung des EuGM entnehmen kann, hat gestern die große Kammer des Gerichts entschieden, dass Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen (in Europa) zur Gewissensfreiheit gehört und daher ein Menschenrecht ist. Leider sind alle Artikel auf Englisch, daher werde ich die Hauptpunkte hier zusammenfassen.

In dem vorliegenden Fall war ein Zeuge Jehovas aus Armenien wegen Dienstflucht verurteilt worden, obwohl er bereit war, einen zivilen Ersatzdienst zu leisten. Er wurde verurteilt, obwohl Armenien internationale Verpflichtungen eingegangen war, einen derartigen Ersatzdienst einzuführen.

Wie man diesem
Interview mit dem Rechtsanwalt des Klägers entnehmen kann, handelt es sich um die Entscheidung der großen Kammer, einer Revisionsinstanz, die hier das vorherige Urteil des EuGM verwarf, der anders entschied, da es in der europäischen Menschenrechtskonvention kein ausdrückliches Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt.

Amnesty International und Forum 18 als Menschenrechtsorganisationen finden dieses Urteil anscheinend gut. Nach Angaben von Forum 18 sind in Armenien derzeit noch 69 Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen inhaftiert, die aufgrund des Urteils freigelassen werden müssten. Regierungsvertreter sagten zwar zu, dass jetzt die Fälle geprüft werden, aber eine Freilassung wurde noch nicht zugesagt.

Nach Angaben von Amnesty International betrifft das Urteil auch insbesondere die Türkei und Aserbeidschan, da es dort noch kein eigenen Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt. Durch das Urteil des EuGM sind diese Staaten aber ebenfalls verpflichtet, dieses Recht anzuerkennen. Wie man dieser Pressemitteilung entnehmen kann, betrifft dies auch Zeugen Jehovas in der Türkei.
Und hier die deutsche Übersetzung der Pressemitteilung von Zeugen Jehovas:
Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fällt historisches Urteil für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen

Straßburg — Am 7. Juli stellte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) mit überwältigender Mehrheit (16:1) fest, dass Armenien das Recht auf Gewissensfreiheit von Wahan Bajatjan verletzt hat. Er ist einer der Zeugen Jehovas, die dort wegen Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt und inhaftiert wurden. Die Entscheidung ist bedeutend für den Schutz der Rechte von Wehrdienstverweigerern, da sie die 44-jährige Rechtsprechung zu diesem Thema umkehrt.

Die armenischen Behörden hatten Bajatjan 2002 zu 2 ½ Jahren Haft verurteilt, weil er den Wehrdienst verweigert hatte. Diese persönliche Entscheidung gebot ihm sein biblisch geschultes Gewissen. Armenien ist gegen den Wehrdienstverweigerer strafrechtlich vorgegangen, obwohl eine der Zusagen des Landes bei seinem Beitritt zum Europarat im Januar 2001 darin bestand, Wehrdienstverweigerern die Möglichkeit eines alternativen zivilen Dienstes einzuräumen und zwischenzeitlich alle bereits verurteilten Verweigerer zu begnadigen. Bajatjan rief den EGMR an, weil er durch die Verurteilung seine durch Artikel 9 der „Konvention“ garantierten Rechte verletzt sah (Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert den Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit). Im Jahr 2009 fällte eine Kammer des EGMR ein Urteil zu seinen Ungunsten. Die Große Kammer hat dieses Urteil nun aufgehoben, und zwar mit der Begründung, dass „die Verurteilung des Beschwerdeführers eine Einmischung darstellt, für die in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Artikel 9 der Konvention keine Notwendigkeit besteht. Daher liegt eine Verletzung dieses Artikels vor.“ Die Große Kammer führt aus: „Eine religiöse Gruppe, deren Glaubensansichten die Überzeugung einschließen, dass militärischer Dienst jeder Art (auch waffenlos) abzulehnen sei“, ist durch Artikel 9 der Konvention geschützt.

Damit wurde erstmals in der Geschichte des EGMR anerkannt, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen unter dem vollen Schutz von Artikel 9 der Konvention steht. Außerdem stelle die Inhaftierung von Wehrdienstverweigerern eine Verletzung der Grundrechte dar, die in einer demokratischen Gesellschaft garantiert werden.

Diese historische Entscheidung nimmt nun drei Mitgliedsstaaten des Europarats (Armenien, Aserbaidschan und die Türkei) in die Pflicht, die Strafverfolgung und Inhaftierung von Personen einzustellen, deren innerste religiöse Überzeugung es nicht erlaubt, Wehrdienst zu leisten. Die 69 Zeugen Jehovas, die derzeit in Armenien noch als Wehrdienstverweigerer im Gefängnis sitzen, erwarten nun ihre sofortige Haftentlassung. Jehovas Zeugen empfinden die Entscheidung des EGMR als Meilenstein: als großen Fortschritt zum Schutz der Menschenrechte. Und sie verbinden damit die Hoffnung, dass Staaten wie z. B. Südkorea, wo derzeit über 800 Wehrdienstverweigerer in Haft sind, diesen Menschen jetzt ihre Freiheit wiedergeben — in Übereinstimmung mit dem internationalen Standard, der gestern vom EGMR bestätigt wurde.



Zum Abschluss noch die Pressemitteilung der Zeugen Jehovas:

Landmark decision by the Grand Chamber of the European Court protects rights of conscientious objectors

STRASBOURG, France—On July 7, the Grand Chamber of the European Court of Human Rights (ECHR) concluded by an overwhelming majority of sixteen votes to one that Armenia violated the right of freedom of conscience of Mr. Vahan Bayatyan, one of Jehovah’s Witnesses in Armenia convicted and imprisoned for his conscientious objection to military service. The ruling marks a defining point in the protection of the rights of conscientious objectors since it reverses the 44-year case law on this issue.

In 2002, Mr. Bayatyan was sentenced to two and a half years’ imprisonment by the Armenian authorities for his refusal to bear arms, a personal decision motivated by his Bible-trained conscience. Armenia’s punitive actions toward Mr. Bayatyan took place despite its previous commitment to the Council of Europe on its accession in January 2001 to institute a genuine civilian alternative service for conscientious objectors and, in the meantime, to pardon all those who had been convicted. Mr. Bayatyan appealed his case to the ECHR, stating that his conviction violated his rights under Article 9 of the European Convention on Human Rights (“the Convention”). Although a chamber of the Court ruled against Mr. Bayatyan in 2009, the Grand Chamber reversed this decision by holding that “. . .the applicant’s conviction constituted an interference which was not necessary in a democratic society within the meaning of Article 9 of the Convention. Accordingly, there has been a violation of that provision.” The Grand Chamber explained that Article 9 protects “a religious group whose beliefs include the conviction that service, even unarmed, within the military is to be opposed.”

This is the first time in the history of the ECHR that the right to conscientious objection to military service is recognized as being fully protected under Article 9 of the Convention and that, as a result, the imprisonment of a conscientious objector is viewed as a violation of fundamental rights in a democratic society.

This milestone decision now places an obligation on three member states of the Council of Europe—Armenia, Azerbaijan, and Turkey—to stop prosecuting and imprisoning individuals whose deeply held religious convictions do not allow them to engage in military service. The 69 Jehovah’s Witnesses who are now imprisoned as conscientious objectors in Armenia await their immediate release from prison. Witnesses view this landmark judgment as a major step forward in the protection of human rights, hoping that countries like South Korea, where there are currently over 800 conscientious objectors in prison, will release imprisoned conscientious objectors in accord with the current international standard upheld by the European Court.

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