Donnerstag, 28. Juli 2011
Euthyphron und die Streitfrage der universellen Souveränität
Kürzlich ist mir etwas passiert, was mich (positiv) überraschte. Durch einen Blog-Eintrag wurde ich das sogenannte Euthyphron-Dilemma aufmerksam gemacht, das (angeblich) zeigt, dass Gott nicht die Quelle richtiger, objektiver ethischer (oder moralischer, ich habe den genauen Unterschied immer noch nicht verstanden und verwende hier beide Ausdrücke mit gleichem Sinn) Grundsätze sein kann. Beim Versuch, das Problem zu lösen, stieß ich am Ende auf etwas, was mir verdächtig aussah wie eine der wichtigsten Lehren der Zeugen Jehovas, die Streitfrage der universellen Souveränität Gottes. Die Verbindung zwischen beidem habe ich erst gezogen, nachdem ich fertig war, daher auch meine Überraschung.

Das Euthyphron-Dilemma wird gerne in der einen oder anderen Form verwendet, um eine der Grundlagen des Atheismus zu begründen: Gott wird nicht benötigt, um vernünftige moralische Grundsätze zu formulieren, dass müssen wir Menschen selber machen. Daher ist die Frage wichtig, denn wenn diese Position richtig wäre, dann können Menschen ohne Gott festlegen, was moralisch richtig oder falsch ist.

Die Originalformulierung aus Platos Dialog Eutyphron lautet:
Bedenke dir nämlich nur dieses, ob wohl das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist?
In dieser Formulierung ist das Problem ohne längere Erläuterungen noch unverständlich, daher will ich Platon gleich links liegen lassen und weiter gehen zu jemandem, der das Problem etwas einfacher formulierte. Bertrand Russells Formulierung des Dilemmas in seinem Vortrag "Warum ich kein Christ bin" lautet:
Wenn man ganz sicher ist, dass zwischen Gut und Böse ein Unterschied besteht, sieht man sich vor folgende Frage gestellt: Besteht dieser Unterschied durch einen Machtspruch Gottes oder nicht? Wenn er durch einen Machtspruch Gottes besteht, dann gibt es für Gott selbst keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, und es bedeutet nichts mehr, wenn man feststellt, Gott sei gut. Wenn man wie die Theologen sagt, Gott sei gut, so muss man auch sagen, Gut und Böse haben eine Bedeutung, die vom Machtspruch Gottes unabhängig ist; denn dass Gottes Befehle gut und nicht schlecht sind, ist unabhängig von der bloßen Tatsache, dass er sie gab. Dann muss man aber einräumen, dass Gut und Böse nicht durch Gott entstanden sind, sondern ihrem Wesen nach logisch vor Gott kommen.
Das ist immer noch nicht einfach zu verstehen, aber hier kann man bereits anfangen, das Problem zu erkennen. Ausgangspunkt des ganzen ist die Frage: Woher weiß ich, ob ethische Entscheidungen richtig sind? Gibt es dafür einen (objektiven) Maßstab oder sind moralische Urteile einfach nur willkürlich? Die Antwort der Bibel lautet, dass ethische Werte ursprünglich von Gott stammen, entweder in Form eines Gewissens, dass jeder Mensch "eingebaut" hat oder in Form direkter Vorgaben aus der Bibel.

An dieser Stelle beginnt der Dilemat mit seiner Frage: Woher weiß denn aber Gott, was ethisch richtig oder falsch ist? Und weil er so nett(!) ist, liefert er immer gleich zwei mögliche Antworten mit: Entweder Gott weiß das, weil er sich an ethische Prinzipien hält, die er anerkennt ohne sie zu machen oder aber Gott legt die ethischen Prinzipien selber fest.

Und damit hat der atheistische Dilemat den Gläubigen genau da, wo er ihn haben will, nämlich in der Zwickmühle. Wir wollen diese einmal genauer betrachten. Wenn man die Möglichkeit wählt, dass Gott sich an vorgegebene ethische Prinzipien hält, dann bringt das folgende Probleme mit sich: Woher stammen diese Prinzipien? Sie müssen ja bereits vorausgesetzt werden, bevor Gott auch nur irgendetwas tut. Die ethischen Prinzipien müssen also vor Gott da sein. Wieso brauchen wir überhaupt noch Gott, um ethische Prinzipien zu erkennen? Wenn Gott seine Prinzipien aus einer anderen Quelle hat, dann können wir (zumindest theoretisch) unsere ethischen Prinzipien aus der gleichen Quelle schöpfen ohne den Umweg über Gott zu gehen. Ist Gott noch souverän, wenn er sich ethischen Prinzipien verpflichtet fühlt, die ihren Ursprung außerhalb seiner selbst haben? Wohl kaum. Gott würde damit zum Befehlsempfänger von jemand (oder etwas) anderem.

Alles das sind Probleme für den christlichen Glauben, der einen ewigen, allmächtigen und gerechten Gott voraussetzt. Denn ein Gott, der seine ethischen Prinzipien von woanders her nimmt, der kann alles dies nicht sein. Also muss sich der Christ (so die Spekulation unseres atheistischen Dilematen) für die andere Möglichkeit entscheiden. Gott legt die ethischen Prinzipien selber fest. Und damit hat er den Gläubigen in einer noch besseren Falle, denn jetzt kann er weiter fragen: Woher wissen wir denn, dass Gott ethisch handelt?

Die Frage ist nicht so dumm, wie sie vielleicht manch einem auf den ersten Blick scheint. Im ersten Fall war es ja einfach, diese Frage zu beantworten; da Gott sich an ethische Prinzipien hält, die vorgegeben sind, musste man einfach nur Gottes Tun und Reden mit diesen Maßstäben vergleichen. Das geht bei der zweiten Möglichkeit nicht mehr so einfach. Wenn Gott die ethische Prinzipien festlegt, dann bedeutet die Aussage: "Gott hält sich an ethische Prinzipien" ja mit anderen Worten nur, dass Gott das tut, was er will. Aber es gibt (nach dieser Meinung) keinen Maßstab mehr nach dem man dieses Handeln bewerten könnte.

Michael Schmidt-Salomon brachte dies wie folgt auf den Punkt:
Sokrates’ Argumentationsfigur beruht im Kern auf zwei einfachen Fragen: 1. Sind Gottes Gebote deshalb gut, weil Gott sie gebietet? 2. Wenn ja, wäre es dann moralisch gerechtfertigt, Kinder zu foltern oder zu ermorden, wenn Gott ein entsprechendes Gebot aufstellte?

Diese Fragestellung bringt den Gläubigen in ein ethisches Dilemma. Entweder er gibt die These auf, Werte seien über Gottes Gebote begründet (was eventuell seinem Glauben widersprechen würde) oder aber er muss akzeptieren, dass Gottes Gebote auch dann noch gültig sind, wenn sie offensichtlich Inhumanes einfordern.
Die nächste Frage des atheistischen Dilematen lautet also: Wenn Gott morgen seine Meinung ändert, und Mord, Vergewaltigung und Folter für ethisch gut erklärt, würdest du dem dann folgen? Der Normalbürger antwortet natürlich: "Nein!" Und schon wieder ist er in der Zwickmühle, denn entweder urteilt er jetzt, dass Gott unmoralisches verlangt oder er weigert sich ethisch verantwortlich zu handeln. Beides ist mit christlichen Maßstäben nicht zu vereinbaren. Der angebotene Ausweg lautet hier: Gib die Idee auf, dass Gottes Gebote moralisch sind.

Die atheistische Folgerung

Bevor ich dazu komme, wie ich als gläubiger Mensch diesen scheinbaren Widerspruch auflösen kann, ohne dass ich meinen Glauben an Gott oder an ethisches Handeln aufgeben muss, will ich einen kleinen Ausflug machen, um die Folgen aufzuzeigen, wenn man die Position von Schmidt-Salomon und Russell akzeptiert. Schmidt-Salomon stellt folgende Behauptung auf:
die Idee objektiver, ewig verbindlicher Werte [ist] bloße Fiktion
Hieraus folgert er dann:
Wir können aber sehr wohl intersubjektiv gültige, ethische Maßstäbe erfinden, d.h. normative Richtlinien, die a) von den biologisch wie kulturell geprägten Individuen akzeptiert werden können und von deren Durchsetzung wir uns b) eine Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse versprechen.
"Intersubjektiv" bedeutet hierbei, dass die Gültigkeit auf der Übereinkunft derjenigen beruht, die sie anerkennen. Er führt nicht weiter aus, was das bedeutet, daher will ich dies jetzt nach meinem Verständnis tun. Nach dieser Meinung gibt es keine moralischen Werte, keine ethischen Maßstäbe, die unabhängig von der Gruppe sind, die sie anerkennen.

Das heißt aber auch, dass Menschenrechte, Grundrechte und Bürgerrechte nichts weiter sind als eine Übereinkunft einer bestimmten Gruppe von Menschen, die solange gelten, wie diese Gruppe diese Werte auch anerkennt. Sollte dieselbe Gruppe Menschen aber morgen auf die Idee kommen, dass Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit dem Fortschritt der Menschheit im Wege stehen, dann können sie diese Werte über Bord werfen und sich auf andere Werte einigen. Menschenrechte sind also nicht "universell" gültig, sondern hängen davon ab, dass morgen unser Parlament es sich nicht anders überlegt und sie abschafft. Du und ich können sich also nicht mehr sicher auf derartige Rechte berufen, sobald diese Meinung von der Mehrheit der Menschen geteilt wird, denn die Mehrheit kann diese Rechte jederzeit abschaffen.

Nebenbei gesagt nimmt diese Einstellung denjenigen, die sie teilen auch das Recht, fremde Gesellschaften zu kritisieren, denn wenn diese z.B. Witwenverbrennungen als ethisch richtig akzeptieren, dann ist das auch intersubjektiv so "richtig", da von der Mehrheit dort akzeptiert. Solange diese sich davon eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse versprechen, kann dagegen (aus der genannten Sicht heraus!) nichts einzuwenden sein, außer, dass wir hier in Europa Witwenverbrennungen nicht gut finden und meinen, dass man sie abschaffen sollte.

Ich kann mir vorstellen, dass Schmidt-Salomon und anderen Atheisten diese Schlussfolgerungen nicht gefallen (weswegen sie auch nicht laut geäußert werden); aber einen überzeugenden Weg drumherum haben sie anscheinend auch nicht (sonst würden sie den ja laut äußern)1. Wenn also diese Meinung mehrheitsfähig wird und ihre Vertreter unsere Grundrechte bestimmen können, dann gehe ich davon aus, dass die Religionsfreiheit "im Interesse des menschlichen Fortschritts" eingeschränkt oder ganz gestrichen wird. Andere Freiheiten können folgen, falls das "eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen ermöglicht". Einzige Voraussetzung ist, dass genügend Menschen sich "intersubjektiv" darauf einigen.

Ein Problem, das keines ist

Nun aber zurück zur eigentlichen Frage: Kann ich Gott meine ethischen Prinzipien bestimmen lassen, ohne dass entweder Gott dabei überflüssig ist oder aber ich der Gefahr ausgesetzt bin, irgendwann Kinder ermorden zu müssen, wenn Gott mir das befiehlt? Die Antwort lautet natürlich "ja" und zwar, weil ich hier vor ein falsches Dilemma gestellt werde, denn es gibt nicht zwei Möglichkeiten sondern drei, aber dies wird durch die geschickte Formulierung der Frage versteckt.

Ich will daher die Fragestellung etwas umformulieren, um das Problem deutlich zu machen. Die genannten Möglichkeiten lauten: Entweder (1) Gott untersteht ethischen Prinzipien, die über ihm stehen, oder aber (2) Gott steht über den ethischen Prinzipien. Es gibt aber noch die (ungenannte) Möglichkeit, dass (3) Gott Gott und ethische Prinzipien "auf einer Höhe stehen".

Wie soll das funktionieren? Zum Beispiel so, dass ethische Prinzipien zu den grundlegenden Eigenschaften Gottes gehören. Die Bibel enthält die Behauptung, dass Gott immer gerecht ist und nicht lügen kann (s. u.a. Titus 1,2 und 5.Mose 32,4), was den Gedanken nahelegt, dass ethische Prinzipien unabänderlich zur Persönlichkeit Gottes gehören.

Damit gibt es aber kein Dilemma mehr. Weder untersteht Gott äußeren ethischen Prinzipien, die über ihm stehen, noch sind Gottes Gebote willkürliche Äußerungen von jemandem, der selber keine ethischen Prinzipien hat (oder haben kann), sondern Gott handelt gemäß ethischen Prinzipien, die ihm zu eigen sind. Und demnach kann ich Gottes Gebote als ethisch verantwortliche Person befolgen. Ich muss weder befürchten, dass Gott mir morgen gebietet, ich soll kleine Kinder umbringen, noch kann ich ohne Gott zu richtigen ethischen Prinzipien kommen3.

[EDIT] In einem Kommentar wurde die berechtigte Frage gestellt, was so schlimm daran sei, wenn Gott über den ethischen Prinzipien stehen würde. Um dies zu beantworten, müssen wir uns fragen, wo haben wir unsere ethischen Prinzipien her? Aus einer Quelle, die selber ethisch ist oder haben wir unsere Prinzipien von jemandem, der selber keinen unterliegt? Wenn dem so ist, woher weiß ich dann, dass die ethischen Prinzipien, die für mich gelten, wirklich ethisch sind und nicht einfach willkürliche Vorschriften eines unmoralischen Tyrannen? Ich kann es nicht. Genauso wären Gottes Gebote für mich unter dem Fragezeichen, dass ich nicht weiß, ob die Gebote, die Gott mir als ethische Prinzipien vorgibt, auch wirklich ethisch sind. Befolge ich einfach willkürliche Vorschriften, oder verhalte ich mich ethisch? Die Frage kann nicht beantwortet werden, solange Gott über den ethischen Prinzipien steht.

Des Weiteren kann man nicht sagen, dass Gott selber ethisch verantwortlich handelt, da sein Handeln ja keinen ethischen Prinzipien unterliegt. Aussagen wie "Gott ist gerecht" oder "Gott ist barmherzig" hätten einfach keinen Sinn mehr, da die Festlegung, was überhaupt gerecht und barmherzig ist auf dieser Ebene nicht existiert; erst "weiter unten", nämlich genau auf der Ebene, wo die ethischen Prinzipien stehen, können diese Begriffe sinnvoll benutzt werden. Damit wären so ziemlich alle Aussagen der Bibel über Gottes Persönlichkeit sinnlos. Daher ist diese Alternative nicht kompatibel mit der Bibel. [/EDIT]

Auf zur nächsten Frage

Damit komme ich zu dem, was ich ganz zu Anfang andeutete. Denn diese gerade eben gemachte Behauptung ist Anlass einer grundlegenden ethischen Frage, die Zeugen Jehovas als Grundlage der biblische Botschaft sehen, nämlich die Frage, ob Gott wirklich ethisch handelt, und ob seine ethischen Maßstäbe die besten und richtigen sind2. Mit anderen Worten: die Bibel stellt die Frage, ob ethische Prinzipien objektiv und von Gott abhängig oder intersubjektiv sind. Die Antwort der Bibel lautet natürlich, dass ethische Prinzipien im Endeffekt nur von Gott aufgestellt werden können. Aber diese Frage muss auf einen anderen Artikel hier warten, um von mir im Detail zerpflückt zu werden.
1 Vielleicht irre ich mich ja auch und die Atheisten, die diese Meinung vertreten sind lediglich zu bescheiden, um diese Erkenntnisse so zu vertreten, dass das auch bei mir ankommt. In dem Fall würde ich mich über einen entsprechenden Link freuen.

2 Eine sehr einfach gehaltenen Einführung zur Glaubenslehre der Zeugen Jehovas findet man auf ihrer Webseite.

3 Das gilt auch für Atheisten, da jeder Mensch ein von Gott gegebenes Gewissen hat. Und natürlich gilt es für jeden nur bis zu einem gewissen Grad, da wir alle unser Gewissen "abschalten" können, wenn wir denn wollen.

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