Mittwoch, 16. November 2011
Matthäus 12,7 als Aufruf zu "christlichem Nihilismus"?
Zeugen Jehovas sind unter anderem deswegen so unbeliebt, da sie sich kompromisslos an den Grundsätzen orientieren, die sie für richtig halten. Hierzu gehören u.a. die Ablehnung von Bluttransfusionen. Sie meinen, dass ihre Ansicht fest auf der Grundlage der Bibel steht.

Einige, die unzufrieden sind, dass Zeugen Jehovas diese Grundsätze konsequent ausleben, behaupten, dass genau diese Art von konsequentem Verhalten den Lehren Jesu und der Bibel allgemein widerspricht. Die evangelische Kirche z.B. verbreitet eine Kurz-"Information" über Zeugen Jehovas, in der es unter anderem heißt:
Bluttransfusionen, selbst wenn sie lebensrettend und medizinisch dringend geboten sind, werden unter Hinweis auf Apostelgeschichte 15,29 und alttestamentliche Stellen abgelehnt. Dem ist entgegenzuhalten, dass an den angegebenen Stellen keine Bluttransfusionen gemeint sind, und dem widerspricht auch Matthäus 12, 7: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“
Ein anderer Autor gibt den gleichen Gedanken wie folgt wieder:
Über die Bluttransfusion, wie sie heute geübt wird, sagt die Bibel nichts. [...] Hier gilt eindeutig der schon im Alten Testament vorkommende Aufruf Gottes: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Hos 6,6), den Jesus aufgreift und verstärkt (Mt 9,13; 12,7 parr.)
Einen Teil der biblischen Grundlage dafür, Bluttransfusionen abzulehnen, hatte ich hier bereits analysiert; obwohl man dazu noch mehr sagen kann, will ich mich heute auf etwas anderes konzentrieren: Sagt Matthäus 12,7 wirklich das aus, was hier behauptet wird? Hat Jesus (und mit ihm seine Apostel) gesagt, dass man biblische Gebote (oder allgemein gesagt: moralische Grundsätze) "übersehen" darf, wenn damit ein Risiko verbunden ist? Was genau meinte er mit "Barmherzigkeit" und was mit "Opfer"?

Leider ist der Hinweis unserer protestantischen Freunde auf Matthäus 12,7 nicht von einem Argument begleitet, in dem sie eindeutig sagen, was sie gemeint haben. Da aber die obigen Worte an die Allgemeinheit gerichtet sind, gehe ich davon aus, dass sie nicht an irgendein theologisches Fachwissen appellieren, sondern mit etwas gesundem Menschenverstand problemlos entziffert werden können.

Natürlich äußert sich Jesus in Matthäus 12,7 nicht direkt zur Frage der Bluttransfusion sondern vielmehr zur Frage, was man nach dem mosaischen Gesetz am Sabbat tun darf oder nicht, daher muss man erst einmal das Argument verstehen, das Jesus gebrauchte, um es dann (möglicherweise) auf den Fall "Bluttransfusion" anwenden zu können. Und hier beginnt das Problem: Ganz egal wie man es wendet, es gibt keine Interpretationsmöglichkeit für Matthäus 12, die auch nur im entferntesten dem entspricht, was in den oben zitierten Artikeln behauptet wird.

Jesus führte den Grundsatz "Barmherzigkeit ist wichtiger als Opfer zwei mal an, in Matthäus 9,13 und Matthäus 12,7; beide Male handelt es sich um Zitat aus Hosea 6,61. Im folgenden will ich zuerst prüfen, welches Verständnis das Matthäusevangelium als Ganzes nahelegt. Dann sehe ich mir Hosea 6,6 im Zusammenhang an, untersuche die Beispiele, die Jesus zum Sabbat bringt und rekonstruiere daraus dann Jesu Argument in einer Weise, die mir (und hoffentlich dir auch) verständlich ist. Ganz zum Schluss will ich mir ein paar Gedanken machen über die Konsequenzen, wenn man die Meinung akzeptiert, die in den Zitaten oben vertreten wird.

Jesu Lehre

Was hat Jesus gemeint, als er Hosea zitierte? Ging es ihm darum das zu sagen, was o.g. Zitate andeuten: "Wenn das Einhalten biblischer Grundsätze für mich zu Problemen oder Lebensgefahr oder anderen Störungen meines Wohlbefindens (oder anderer) führt, dann kann ich 'Barmherzigkeit' zeigen und diese Grundsätze außer Acht lassen"? Jesus selbst hat seine Meinung zu dieser Frage deutlich kundgetan. So lesen wir in Matthäus 5,17-20:
17 Denkt nicht, ich sei gekommen, um das GESETZ oder die PROPHETEN zu vernichten. Nicht um zu vernichten, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen; 18 denn wahrlich, ich sage euch: Eher würden Himmel und Erde vergehen, als daß auch nur e i n kleinster Buchstabe oder ein einziges Teilchen eines Buchstabens vom GESETZ verginge und nicht alles geschähe. 19 Wer immer daher eines dieser geringsten Gebote bricht und die Menschen demgemäß lehrt, der wird hinsichtlich des Königreiches der Himmel ‚Geringster‘ genannt werden. Wer immer sie hält und lehrt, dieser wird hinsichtlich des Königreiches der Himmel ‚groß‘ genannt werden. 20 Denn ich sage euch, daß ihr, wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, keinesfalls in das Königreich der Himmel eingehen werdet.
Hier sagt Jesus deutlich, dass das Einhalten selbst des "geringsten Gebotes" unabdingbar ist. Seine Worte zeigen klar, dass es dabei keine Ausnahmen geben kann. Dabei bezog sich Jesus hier auf das mosaische Gesetz, so wie es in den fünf Büchern Mose enthalten ist.

Natürlich bin ich der Meinung, dass das mosaische Gesetz für Christen nicht mehr gilt. Aber die Gebote, die Jesus und seine Apostel verkündigten, haben offensichtlich für Christen den gleichen Stellenwert, wie das mosaische Gesetz für Juden2. Auf jeden Fall war Jesus der Meinung, dass dies so ist, wenn er in Johannes 14,15 sagt: "Wenn ihr mich liebt, so werdet ihr meine Gebote halten" (siehe auch Johannes 14,21;15,10, ähnliche Gedanken findet man auch in 1.Korinther 7,19; 2.Petrus 3,2; 1.Johannes 2,3;3,22.24;5,2.3; Offenbarung 12,17;14,12). Es wäre (aus christlicher Sicht) absurd zu sagen, dass Jesus für seine eigenen Gebote geringere Geltung verlangte als für die Gebote des mosaischen Gesetzes. Wie wir noch sehen werden, hat dieser Gedanke entscheidenden Einfluss darauf, wie man Matthäus 12,1-8 verstehen kann.

Was aber ist, wenn es einen in Lebensgefahr bringt, wenn man versucht, Jesus nachzufolgen (d.h. auch, dass man versucht, seine Gebote und die seiner Apostel zu halten)? Auch zu dieser Frage hat Jesus eine eindeutige Meinung, die er wiederholt in den Evangelien äußert:
Markus 8,35 (NL): Denn wer versucht, sein Leben zu bewahren, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen und um der guten Botschaft willen verliert, wird es retten.

Das gleiche sagt er in Matthäus 10,39; 16,25; Lukas 9,24; 17,33; Johannes 12,25.
Es dürfte kaum einen Ausspruch Jesu geben, der so oft in den Evangelien wiederholt wurde wie dieser, der sechs mal in den Evangelien zu finden ist. Jesus macht hier darauf aufmerksam, dass selbst der (drohende) Tod kein Grund ist aufzuhören, ihm nachzufolgen. Und zur Nachfolge Jesu gehört auch, dass man seine Gebote hält.

Diese zwei Gedanken sind so deutlich, wie man es sich nur wünschen kann. Daher können sie als Hinweis darauf dienen, wie der Rest des Evangeliums gemeint ist. Wer Matthäus 12,7 anders interpretieren will, müsste also deutlich zeigen können, dass es Jesus hier darum ging, das Gegenteil dessen zu sagen, was er an anderen Stellen des Evangeliums deutlich sagte: Gebote müssen unbedingt gehalten werden, und Lebensgefahr oder sogar der Tod sind kein Grund, hiervon abzuweichen.

Hosea 6,6

Damit kehre ich noch einmal zur Ausgangsfrage zurück: Wie kann man Matthäus 12 verstehen? Wollte Jesus hier die oben gezeigten Grundsätze aushebeln und sagen, dass es doch Gründe dafür gibt, die Gebote Gottes nicht einzuhalten? Um das zu klären müssen wir zuerst einmal verstehen, warum Jesus überhaupt Hosea 6,6 zitiert hat.

Er selbst sagte: "Geht also hin und lernt, was dies bedeutet: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer.‘" und "Wenn ihr aber verstanden hättet, was dies bedeutet: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer‘...". Es ging ihm darum, dass man den Hintergrund dieser Aussage versteht. Seine Gesprächspartner sollten "verstehen", wovon in Hosea 6 eigentlich die Rede ist und es auf die jeweilige Situation anwenden, die gerade diskutiert wurde.

Dieses Verständnis hilft uns dann auch zu verstehen, welchen Grundsatz Jesus überhaupt herausstellen wollte, damit wir ihn dan auf die Frage der Bluttransfusionen anwenden zu können. Dazu ist es nötig, den Hintergrund von Hosea 6,6 zu erhellen. Und genau das will ich jetzt tun.

Der Vers ist Teil eines längeren Abschnitts im Buch Hosea, dass sich direkt an die Bevölkerung des Königreiches Israel (in dem Buch mit "Ephraim" bezeichnet) wendet und sie anklagt wegen Fluchen, Betrügen, Morden, Stehlen, Ehebrechen (4,2) sowie Götzendienst (4,12) und Landraub durch die Fürsten (5,10). Es ging also in dem Abschnitt nicht um Menschen, die sich entscheiden mussten: "Entweder ich halte Gottes Gebote oder jemand hat einen Nachteil", sondern vielmehr ging es um Personen, die wesentliche Elemente von Gottes Gesetz nicht einhielten. Sie vermieden dadurch nicht Gefahren für sich und andere sondern sie handelten so, weil sie sich u.a. in unmoralischer Art auf Kosten anderer Vorteile sichern wollten und Gottes Grundsätze als solche ablehnten.

Nachdem der Prophet eine Strafe für dieses Verhalten androhte, wollten die Israeliten bereuen und zu Gott umkehren (6,1-3). Gott akzeptiert diese Reue aber nicht, die er als "Morgennebel" bezeichnet, der sich im Sonnenschein verflüchtigt, also nicht dauerhaft ist. Im Vers 6 nennt er dann die Elemente, die in ihrer Reue fehlen: Treue/Liebe3 und Gotteserkenntnis. Geschlachtete Tiere alleine zeigen nicht, dass jemand sich innerlich geändert hat. Nach kurzer Zeit würden die Menschen wieder zu ihrer alten Handlungsweise zurückkehren (wie Morgennebel, der sich verflüchtigt), da sie ihre Einstellung nicht geändert hatten und daher keine eigene Motivation hatten, richtig zu handeln.

Und der Vers 6 beschreibt genau die Motivation, die erforderlich ist, um Gottes Gesetze (oder Moralgrundsätze allgemein) einzuhalten, nicht die Androhung von Strafe bringt Menschen dazu, wirklich gut zu handeln, sondern Liebe und Treue und eine persönliche Beziehung zu Gott. Liebe und Treue wem gegenüber? Hosea sagt es nicht direkt. Man kann den Text so lesen, dass es um Liebe zu Gott und/oder Liebe zum Nächsten geht. Es scheint also, dass hier eine Kurzfassung dessen steht, was Jesus in Markus 12,30f sagt: Liebe Jehova, deinen Gott und deinen nächsten. Ich gehe davon aus, dass Jesus das Buch Hosea gut kannte und genau diesen Gedanken im Sinn hatte, als er den Pharisäern sagte, sie sollten bitte lernen, was mit diesem Spruch gemeint ist.

In beiden Situationen, in denen Jesus dies sagte, wurde er (bzw. seine Jünger) wegen Verhalten angegriffen, das angeblich den biblischen Geboten widerspricht. Seine Antwort besagte demnach: Ihr habt diese Gebote überhaupt nicht verstanden, da ihr die grundlegende Voraussetzung nicht habt: ihr kennt Gott nicht und liebt ihn nicht und Nächstenliebe ist euch auch fremd. Deswegen entgeht euch der Sinn der jeweiligen Gebote, und als Folge davon sind eure Anklagen verfehlt, da sie auf einer falschen Grundlage beruhen.

Dieses Verständnis widerspricht aber dem, was unsere protestantischen Freunde eingangs sagten. Sie wollten mit diesem Text zeigen, dass man Gebote nicht einhalten muss, wenn es einem die "Barmherzigkeit" (mit sich selbst?...) gebietet. Aber Hosea spricht mit diesem Text gerade Leute an, die in eklatanter Weise die Gebote Gottes übertreten. Schlimmer als Mord, Hurerei und Götzendienst geht es in der Bibel eigentlich nicht mehr. Hosea wollte diesen Leuten mit Sicherheit nicht sagen: Wenn es euch ein unüberwindliches Problem ist, ein Gebot Gottes zu halten, dann könnt ihr gerne (natürlich nur in Ausnahmefällen;o) einen Mord begehen oder mal rumhuren. Die Idee ist absurd.

Es ging um das genaue Gegenteil. Wenn man Gott und den Nächsten nicht liebt, dann führt das unweigerlich dazu, dass man seine moralischen Maßstäbe nicht mehr einhält und dann ist das einhalten einzelner Gebote (wie z.B. zum Opfern von Tieren) sinnlos.

Die Beispiele aus Matthäus 12

Kehren wir wieder zu Matthäus 12 zurück: Was wollte Jesus mit seiner Antwort auf den Vorwurf: "Deine Jünger tun etwas, was am Sabbat nicht erlaubt ist." überhaupt bezwecken? Wollte er nachweisen, dass die Gebote unter bestimmten Umständen nicht eingehalten werden müssten? Wie wir oben gesehen haben, würde das seinen Aussagen aus Matthäus 5,17ff und dem Zusammenhang von Hosea 6,6 widersprechen. Oder wollte er seinen Gegnern klar machen, dass sie das Sabbatgebot missverstanden hatten?

David erhält die Schaubrote von Ahimelech, dem Priester (Quelle: wikimedia)
Schauen wir uns zuerst die Beispiele an, die Jesus vorbrachte. Als erstes berief er sich auf David, der bei seiner Flucht vor Saul vom Hohenpriester die sogenannten Schaubrote zu essen erhielt (1.Samuel 21,1-8), die nach dem Gesetz ausschließlich für die Priester vorgesehen waren, da es sich um "heiliges Brot" handelte, d.h. um Brot, das ausschließlich für den Gottesdienst vorgesehen war (3.Mose 24,5-9). Hatten David und der Hohepriester in dieser Situation das Gebot Gottes übertreten? Wenn ja, dann würde Jesu Argument darauf hinauslaufen zu sagen: Wenn die anderen (David und der Hohepriester) sich nicht an das Gesetz halten, dann brauchen wir das auch nicht. Das ist wohl kaum glaubhaft.

Worauf wollte Jesus dann hinaus? Er wollte zeigen, dass dieses Gebot zu einem bestimmten Zweck gegeben wurde und dass der Priester, der David das Brot gab, diesen Zweck erkannte und in diesem Fall ausnahmsweise dem Zweck auf eine andere Weise entsprach als es normalerweise vorgesehen war. Dadurch brach er das Gesetz nicht sondern folgte ihm, auch wenn es für Menschen, die nur die Paragraphen sahen, natürlich anders aussah.

Jesus sagte nicht, was genau der Sinn dieses Gebotes war. Aber aus seinem Argument kann man es deutlich ablesen. Die Schaubrote dienten als Opfer für Gott und sollten daher nachdem sie aus dem Heiligtum entfernt wurden, keinem profanen Zweck mehr dienen. Daher waren die Priester als geheiligte Personen verpflichtet, sie zu essen. In diesem Fall aber wurde diesem Zweck auf eine andere Weise entsprochen: David und seine Begleiter waren in einem Auftrag unterwegs, der (indirekt) von Gott kam; außerdem waren sie rituell rein. Daher konnten sie (ausnahmsweise) von den Broten essen ohne dass der Sinn des Gesetzes verletzt wurde.

Dieses Beispiel war geschickt gewählt, da Jesu Kontrahenten hier einen Hohenpriester (und David als Gottes Messias) des Gesetzesbruchs anklagen müssten, um Jesus zu widerlegen. Das wollten die Pharisäer natürlich nicht.

Ähnlich ist es mit dem zweiten Beispiel: Priester im Tempel müssen natürlich am Sabbat auch ihre Arbeit tun, sogar aufgrund eindeutiger Vorschriften des mosaischen Gesetzes. Kein Pharisäer wäre auf den Gedanken gekommen, dass die Priester deswegen den Sabbat brechen würden. Jesus zeigte hier keine "Ausnahme für Priester" auf, sondern machte darauf aufmerksam, dass der Zweck des Sabbats (Zeit für den Gottesdienst) dafür sorgt, dass die Arbeit der Priester nicht unter das Sabbatgebot fällt. Denn die Priester arbeiteten genau dafür, den Zweck des Sabbats zu erfüllen.

Beide Beispiele zeigen, dass Jesus weit davon entfernt war zu sagen, dass man bei der Einhaltung des Gesetzes Ausnahmen machen könnte, sondern dass die Einhaltung des Gesetzes erfordert, Gottes Absichten hinter dem Gesetz zu erkennen.

Das Argument Jesu

Damit können wir jetzt Jesu Argument zusammenfassen: Wie Beispiele aus der Bibel zeigen, kommt es darauf an, den Zweck der Gebote zu erfassen, um sie in Ausnahmesituationen überhaupt korrekt anwenden zu können.

Mit der Aussage "ich sage euch, daß etwas Größeres als der Tempel hier ist. [...] Denn der Menschensohn ist Herr des Sabbats." machte Jesus darauf aufmerksam, dass eine besondere Situation vorliegt, in der die pharisäischen Vorschriften zum Sabbat dem Zweck des Tages zuwiederlaufen. Ziel des israelischen Gottesdienstes war (u.a.) die Ankunft des Messias. Wer also am Sabbat dem Messias folgte, um sich von ihm belehren zu lassen, entsprach dem Zweck, zu dem der Sabbat eingesetzt wurde und brach das Gesetz nicht.

In diesem Zusammenhang erwähnte Jesus dann Hosea 6,6, als Anklage seiner religiösen Gegner, denen er vorwarf, Gottes Gesetz nicht ganzherzig zu befolgen sondern daraus ein Ritual zu machen, dass sie nicht retten kann. Jesus wollte den Pharisäern nicht sagen: "Habt etwas Mitleid mit meinen hungrigen Jüngern" sondern: "Ihr haltet das Gesetz nicht richtig", ein Vorwurf, den er an anderer Stelle im Matthäusevangelium wiederholte, z.T. noch wesentlich deutlicher. Z.B. sagte er in Matthäus 23,23:
Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr den Zehnten gebt von der Minze und dem Dill und dem Kümmel; aber ihr habt die gewichtigeren Dinge des GESETZES außer acht gelassen, nämlich das Recht und die Barmherzigkeit und die Treue. Diese Dinge hätte man tun, die anderen Dinge jedoch nicht außer acht lassen sollen.

Fazit

Damit ist der eingangs erwähnte Vorwurf an Zeugen Jehovas nicht von dem Bibeltext gedeckt. Denn die Forderung, die an Zeugen Jehovas gestellt wird, lautet: "Lasst das biblische Blutverbot 'aus Barmherzigkeit' entfallen". Damit handelt es sich um das Gegenteil dessen, was Jesus forderte: "haltet alle Gebote Gottes, selbst, wenn es euch in Lebensgefahr bringt".

Nebenbei gesagt spricht die evangelische Kirche mit dieser Argumentation auch Personen wie Dietrich Bonhoeffer die Berechtigung ab, für ihre Überzeugung einzutreten und zu sterben. Denn wenn die Barmherzigkeit gegenüber dem eigenen Leben wichtiger ist als Gottes und Christi Gebote, dann hat Bonhoeffer (nach dem o.g. Argument) gegen Gott gehandelt, als sich aus seiner Überzeugung heraus gegen die Nazis stellte.

Wenn aber Bonhoeffer richtig gehandelt hat, dann haben die o.g. Autoren Matthäus 12,7 falsch verstanden und irren sich, wenn sie diesen Text gegen Zeugen Jehovas ins Feld führen. Es ist kein Aufruf zum Nihilismus, der die Gebote der Bibel herabwertet, sondern im Gegenteil eine Aufforderung, diese Gebote genau einzuhalten.

Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es lustig, dass man in dem gleichen Faltblatt, in denen ein evangelischer Theologe Matthäus 12,7 vollkommen aus jedem Textzusammenhang reißt, um Zeugen Jehovas anzugreifen, von demselben Theologen lesen kann:
Häufig argumentieren Zeugen Jehovas mit biblischen Aussagen in einem völlig anderen Kontext als dem der Heiligen Schrift.

1Diese Verse lauten im Zusammenhang wie folgt:
Matthäus 9,10-13: 10 Später, als er in dem Haus zu Tisch lag, siehe, da kamen viele Steuereinnehmer und Sünder und legten sich mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch. 11 Als aber die Pharisäer das sahen, begannen sie zu seinen Jüngern zu sagen: „Wie kommt es, daß euer Lehrer mit Steuereinnehmern und Sündern ißt?“ 12 Als er sie hörte, sprach er: „Gesunde benötigen keinen Arzt, wohl aber die Leidenden. 13 Geht also hin und lernt, was dies bedeutet: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer.‘ Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“

Matthäus 12,1-8: 1 Zu jener Zeit ging Jesus am Sabbat durch die Getreidefelder. Seine Jünger wurden hungrig und fingen an, Ähren abzupflücken und zu essen. 2 Als die Pharisäer dies sahen, sagten sie zu ihm: „Siehe! Deine Jünger tun etwas, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist.“ 3 Er sprach zu ihnen: „Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als ihn und die Männer, die bei ihm waren, hungerte? 4 Wie er in das Haus Gottes ging und wie sie die Brote der Darbringung aßen, etwas, was zu essen ihm nicht erlaubt war noch denen, die bei ihm waren, sondern nur den Priestern? 5 Oder habt ihr in dem GESETZ nicht gelesen, daß an den Sabbaten die Priester im Tempel den Sabbat nicht heiligen und dabei schuldlos bleiben? 6 Doch ich sage euch, daß etwas Größeres als der Tempel hier ist. 7 Wenn ihr aber verstanden hättet, was dies bedeutet: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer‘, so würdet ihr die Schuldlosen nicht verurteilt haben. 8 Denn der Menschensohn ist Herr des Sabbats.“

Hosea 6,4-11: 4 „Was soll ich dir tun, o Ẹphraim? Was soll ich dir tun, o Juda, wenn eure liebende Güte wie das Morgengewölk ist und wie der Tau, der früh vergeht? 5 Darum werde ich [sie] durch die Propheten [nieder]hauen müssen; ich werde sie durch die Reden meines Mundes töten müssen. Und die Gerichte an dir werden wie das Licht sein, das hervorgeht. 6 Denn an liebender Güte habe ich Gefallen gefunden und nicht am Schlachtopfer; und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Ganzbrandopfern. 7 Doch sie selbst haben wie der Erdenmensch [den] Bund übertreten. Dort haben sie treulos gegen mich gehandelt. 8 Gịlead ist eine Stadt von Schadenstiftern; ihre Fußspuren sind Blut. 9 Und wie beim Auflauern auf einen Mann [besteht] die Gemeinschaft von Priestern [aus] Plündererstreifscharen. Am Wegesrand begehen sie Mord zu Sịchem, weil sie nichts als Zügellosigkeit verübt haben. 10 Im Hause Israel habe ich Gräßliches gesehen. Dort gibt es Hurerei von seiten Ẹphraims. Israel hat sich verunreinigt. 11 Außerdem, o Juda, ist für dich eine Ernte festgesetzt worden, wenn ich die Gefangenen meines Volkes zurückkehren lasse.“

2Anm.: Matthäus 16,19 zeigt, dass die Apostel die Vollmacht erhalten hatten, Gebote zu erteilen, die für Christen gültig waren, so als wären sie von Jesus selbst.

3Anm. Verwendet wird im hebräischen Text das Wort cheßed, dass man mit Treue und Liebe wiedergeben kann, in einer Fußnote der NWÜ findet man die treffende Wiedergabe "loyale Liebe".

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