Dienstag, 17. April 2012
Septuaginta, Statistik und Tetragrammaton
Wie ich bereits vor längerem erwähnte, meinen Zeugen Jehovas, dass die Septuaginta bis ungefähr zur Mitte des zweiten Jahrhunderts das Tetragrammaton in der einen oder anderen Form enthielt, und dass es um diese Zeit herum durch das Wort "kyrios" ("Herr") in abgekürzter Form ersetzt wurde. Warum dieser Punkt wichtig ist, habe ich bereits vor langer Zeit hier beschrieben; daher will ich mich heute auf die Frage konzentrieren, was denn die Apostel (bzw. die anderen Verfasser der Schriften des "NT") denn vor Augen hatten, wenn sie in der Septuaginta (Abkürzung: LXX) eine Stelle lasen, die im hebräischen Text ein Tetragrammaton enthält.

"Septuaginta-Manuskripte??
Faszinierend!"
Wenn man in einen modernen Text der Septuaginta hineinschaut, dann sieht man an fast allen entsprechenden Stellen kyrios, das griechische Wort für "Herr"; an einigen wenigen Stellen findet man auch das griechische Wort für Gott. Wenn man sich aber die "überlebenden" LXX-Manuskripte (bzw. ihre Fragmente) aus der Zeit vor Mitte des zweiten Jahrhunderts anschaut, dann sieht man etwas anderes: Das Tetragrammaton steht entweder in althebräischen oder neuhebräischen Buchstaben im griechischen Text oder man findet mit griechischen Buchstaben das Wort "IAO", dass anscheinend eine Übertragung des Tetragrammatons in die griechische Schrift darstellt.

Nun war das aber genau die Zeit, in der das NT abgefasst wurde (grob gesagt die zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts). Wenn man den gefundenen Überresten glaubt, dann kann man annehmen, dass bis Mitte des zweiten Jahrhunderts die LXX eine Form des Tetragrammatons enthielt; folglich müssten die Verfasser des NT, wenn sie in die LXX hineinschauten ein Tetragrammaton gelesen haben, wenn sie an eine entsprechende Stelle kamen. Allerdings sehen das Kritiker der NWÜ und von Zeugen Jehovas im allgemeinen komplett anders. L. Gassmann, ein "Experte", wenn es um Zeugen Jehovas geht, schreibt z.B. in seinem Buch "Zeugen Jehovas: Geschichte, Lehre, Beurteilung" auf S. 94:
Freilich kannten auch die Verfasser des Neuen Testaments aus dem Alten Testament und der jüdischen Tradition den Gottesnamen, aber sie verwendeten nicht das Tetragramm, sondern den Würdetitel »kyrios«, den sie der ihr vorliegenden Septuaginta entnahmen (vgl. R. Hanhart, in: Hengel/Schwemer 1994, S. 8 f.)...
Die Behauptung lautet damit eindeutig: Als das NT geschrieben wurde (also vor Mitte des zweiten Jahrhunderts), enthielt die LXX üblicherweise kein Tetragrammaton sondern das Wort "Herr" = kyrios.

Gassmann schafft es hier sogar, eine Belegstelle zu nennen, wo seine Behauptung (zumindest ein bisschen) bestätigt wird (Er hat diese sichere Hand nicht immer). Allerdings enthält die Belegstelle ebenfalls den seltsamen Sprung in der Logik, den auch Gassmann vollzieht und den wir gleich nachverfolgen werden. Du musst das nicht einfach glauben, weil ich das so behaupte, du kannst die angegebenen Seiten von Gassmanns Belegstelle selber nachlesen. Auf den angegebenen Seiten acht und neun finde ich erst einmal das genaue Gegenteil der Behauptung Gassmanns (Hervorhebung von mir):
Ich meine den schwer umstrittenen1 Sachverhalt, daß in allen heute aufgefundenen griechischen Bibeltexten jüdischer Herkunft, sei es aus vorchristlicher, sei es aus christlicher Zeit, der Name, יהוה, nicht in der Gestalt überliefert ist, in der er in sämtlichen LXX-Handschriften christlicher Herkunft begegnet: κύριος, sondern in einer Form des Tetragrammes.
Eigentlich wäre die Frage damit doch klar beantwortet: Alle gefundenen Manuskripte (Vor Mitte des zweiten Jahrhunderts wurden nur jüdische Manuskripte gefunden!) zeigen das Tetragrammaton. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass man dann auch annehmen sollte, dass dann im ersten Jahrhundert auch alle oder zumindestens die allermeisten LXX-Manuskripte das Tetragrammaton verwendeten.

Ich will nebenbei noch darauf aufmerksam machen, dass Gassmann hier wieder den Sinn seiner Belegstelle verzerrt wiedergegeben hat: während Hanhart ausdrücklich sagt, dass es sich um einen "umstrittenen Sachverhalt" geht, bei dem er einen der möglichen Standpunkte einnimmt, klingt das ganze bei Gassmann so, als wäre es eine unumstößliche Tatsache. Dies ist für mich eine weitere Bestätigung dafür, dass ich nicht darauf vertrauen kann, dass von Gassmann genannte Belegstellen wirklich das aussagen, was er behauptet.

Das Argument

Aber es wäre zu einfach einfach zu meinen, dass das, was wir heute sehen, der Wirklichkeit entspringt. Hanhart, der von Gassmanns ziterte Autor, stellt also die Behauptung auf, dass die LXX ursprünglich mit dem Wort "κύριος" für das Tetragrammaton übersetzt wurde, dass dann aber "sekundär" die jüdischen Abschreiber wieder (in einige wenige Manuskripten) das Tetragrammaton einfügten. Dies begründet er mit einer weiteren Behauptung: Man könne die Verwendung des Wortes "κύριος" in der griechischsprachigen jüdischen Literatur nur erklären, wenn "κύριος" auch in der LXX stand2. Außerdem verweist er darauf, dass die Idee eines anderen Gelehrten dazu, warum man in der LXX dieses Überlieferungsmuster vorfindet, (seiner Meinung nach) nicht funktionieren kann.

Die hier geschilderte Überlegung ist aber, wie der Autor selber sagt, "umstritten". Trotzdem kommt er zu der Schlussfolgerung,...
...daß der alttestamentliche Gottesname in der Gestalt des κύριος den ersten christlichen Zeugen, durch das Schrift gewordene Zeugnis des Judentums vorgegeben ... ist...
Ein LXX-Fragment aus Nahal Hever (Kleine Propheten, Rolle B) mit dem Tetragrammaton
(Quelle: Wikipedia)
In das deutsch des normalen Bürgers übersetzt heißt das, dass als die Verfasser des NT in die LXX schauten, sie in den Manuskripten das Wort "κύριος" vorfanden und nicht das Tetragrammaton.

Seltsam ist dabei, dass der Autor sich in der vorhergehenden Argumentation gar nicht mit der Frage beschäftigt, welche Form (Tetragrammaton oder kyrios) denn wie häufig vorlag, sondern mit der Frage, wie und wann es denn zu dem Wechsel von Tetragrammaton zu kyrios kam. Er erklärt auch nicht, warum seine Fragestellung zu dem Schluss führt, dass die Schreiber des "NT" in der LXX kyrios lasen.

Denn selbst wenn es einige LXX-Manuskripte gab, in denen man "κύριος" lesen konnte, so zeigt doch die vorliegende Manuskript-Überlieferung eindeutig, dass es auch andere LXX_Manuskripte gab, die das Tetragrammaton verwendeten. Die eigentliche Frage, die von Gassmann und Hanhart weder gestellt noch beantwortet wird, müsste daher lauten: Wieso sollten die ersten Christen aus den vorliegenden LXX-Manuskripten diejenigen als Vorlage auswählen, die "κύριος" benutzten? Und dabei müsste man natürlich als erstes voraussetzen, dass Hanharts (umstrittene) Ansicht über die Herkunft von "κύριος" die korrekte ist.

Statt diese Frage zu stellen, tut der Autor einfach so, als ob die ersten Christen in den ihnen vorliegenden LXX-Manuskripten "κύριος" gelesen hätten, obwohl es keinen einzigen handfesten Beweis dafür gibt, dass es so war; denn selbst, wenn seine Überlungen alle korrekt sein sollten, folgt daraus nicht, dass die überwiegende Mehrheit aller LXX-Manuskripte im ersten Jahrhundert "κύριος" verwendet haben müssten. Selbst wenn also Hanharts Argument 100% korrekt sein sollte (es ist aber wie gesagt in Wirklichkeit "umstritten"), könnte es trotzdem sein, dass den ersten Christen in großer Mehrheit Manuskripte mit dem Tetragrammaton vorlagen und erst später jemand auf die Idee kam nur noch solche mit "κύριος" zu benutzen. Also genau an der für Gassmann entscheidenden Stelle enthält die Überlegung eine logische Lücke.

Meine Überlegung

Und genau hier will ich mit meiner Überlegung ansetzen. Die Frage, die ich beantworten will, lautet: Wie viele LXX-Manuskripte müssen bis Mitte des zweiten Jahrhunderts mindestens das Tetragrammaton enthalten haben, damit die heute vorliegende Überlieferung plausibel ist? Das wichtige Wort hier ist "mindestens". Da wir nur einen kleinen Bruchteil der ursprünglich angefertigten LXX-Manuskripte heute vorliegen haben, können wir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wie alle Manuskripte aussahen. Wir können aber sagen, was plausibel ist.

Hierzu muss ich im Gegensatz zu den bisher zitierten Autoren gar keine Überlegungen dazu anstellen, wer wann wie aus welchem Grund das erste mal auf die Idee kam, den Bibeltext abzuändern. Stattdessen reicht es aus, die vorliegenden Manuskripte zu betrachten.
8HevXIIgr (Rolle A) mit Tetragrammaton in Habakuk
Um das sinnvoll tun zu können, müssen wir erst einmal ein paar Vorüberlegungen anstellen. Ich gehe davon aus, dass die Erhaltung der Manuskripte durch die Jahrhunderte unabhängig davon war, wie genau sie Gott bezeichneten. Es ist klar, dass ein bestimmtes Wort nicht magischerweise dazu führen kann, dass ein Manuskript länger erhalten bleibt.

Es gibt allerdings noch andere mögliche Einflüsse: so könnte es sein, dass die Erhaltung eines Manuskripts davon abhing, was der Besitzer von dem Tetragrammaton hält. Aber da sieht es schlecht aus für Gassmanns Idee, denn über Jahrhunderte war die Überlieferung der Septuaginta eine Sache der Kirchen, und die verwendeten das Tetragrammaton gar nicht. Sie hatte also kein gesteigertes Interesse daran, ein Manuskript zu überliefern, dass (ihrer Meinung nach) einen Fehler enthielt. Obwohl es also weniger wahrscheinlich ist, dass LXX-Manuskripte mit Tetragrammaton überliefert werden, gehe ich davon aus, dass es mit gleicher Wahrscheinlichkeit geschah.

Wichtig ist auch die Frage, wie plausibel es denn so sein dürfte, um uns zufrieden zu stellen. Und damit landen wir bei der Statistik, die uns hilft, so etwas zu ermitteln. Statistische Aussagen sind niemals 100% genau (sonst wären sie ja nicht statistisch) sondern sind immer mit einer gewissen Fehlermöglichkeit behaftet. Aber die Statistik erlaubt es uns zumindest einmal abzuschätzen, in welcher Größenordnung sich die Manuskripte so bewegen müssten.

Ein LXX-Fragment aus Qumran, 1. Jahrhundert v.u.Z., mit dem Tetragrammaton in griechischer Umschrift
Bei statistische Fragen ist es wichtig zu überlegen, wie sicher unsere Aussage denn so sein sollte. Die Frage die man sich dabei stellen muss: Wie wahrscheinlich darf es denn sein, dass ich mit meiner Antwort danebenliege? Je sicherer ich sein will, dass meine Antwort die tatsächliche Manuskriptanzahl einschließt, desto mehr unwahrscheinliche Fälle muss ich mit betrachten und desto ungenauer wird meine Aussage. Je genauer ich meine Aussage machen will, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass meine Antwort am Ende danebenliegt.

Wir haben dabei nur einen einzigen Versuch zur Verfügung , aus den damals angefertigten Manuskripten (möglicherweise zehntausende von Buchrollen) eine Stichprobe zu ziehen, nämlich ausschließlich die heute vorliegenden überlieferten Manuskripte. Ich will daher zwei Fälle betrachten: zum einen den Fall, was wahrscheinlich ist. Wenn ich die Grenze, dass ich mich irre, bei 50% (Möglichkeit, dass ich mich irre) ansetze, dann ist es wahrscheinlicher, dass ich richtig liege, als dass ich falsch liege. Wenn ich die Möglichkeit, dass meine Antwort falsch ist, bei 10% ansetze, dann ist es extrem unwahrscheinlich, dass mein einzelner Versuch daneben liegt, denn in 90% aller Fälle liege ich richtig, aber dafür wird meine Antwort ungenauer. Ich will daher für diese beiden Fälle berechnen, wie viele Manuskripte mit Tetragrammaton ich allermindestens benötige, um mit einer vernünftigen Wahrscheinlichkeit das zu sehen, was ich heute in den Museen vorfinde.

Es ist klar, dass ich um so sicherer sein kann, je mehr Manuskripte ich zur Verfügung habe. Der Anhang der NWÜ identifiziert fünf Manuskripte aus der untersuchten Zeit (bis Mitte des zweiten Jahrhunderts, hier eine Aufstellung von R. Kraft von der University of Pennsylvania, in der u.a. diese fünf Manuskripte zu sehen sind). Diese Manuskripte sind:
  • 4Q LXX Lev b, 3.Mose 2-5, aus dem 1.Jahrhundert v.u.Z. aus Qumran
  • P Fouad 266b, 5.Mose 31-32 aus dem 1.Jahrhundert v.u.Z. aus Ägyten
  • P Oxy 3522, Hiob 42 aus dem 1.Jahrhundert u.Z. aus Ägypten
  • 8Hev XII pr (Rolle A), Habakuk 2-3, um die Zeitenwende aus Nahal Hever
  • 8Hev XII gr (Rolle B) Sacharja 8, um die Zeitenwende aus Nahal Hever
Ich will mich auf diese Manuskripte beschränken4. Das hört sich vielleicht wenig an, dennoch führt eine einfache Rechnung uns zu interessanten Ergebnissen. Die Formel, die uns zeigt, wie viele Manuskripte mit Tetragrammaton es allermindestens gegeben haben muss, lautet:

xn = k oder umgestellt nach x: x = k1/n

x: Mindestanteil an Manuskripten mit Tetragrammaton
n: Anzahl der vorgefundenen Manuskripte mit Tetragrammaton
k: angestrebte höchste Wahrscheinlichkeit, dass meine Aussage daneben liegt

Für den wahrscheinlichen Fall (50%) benötige ich mindestens so viele Manuskripte mit Tetragrammaton:

n = 5
k = 0,5

x50% = 0,51/5 = 87%

Und für den sicheren Fall erhalte ich:


n = 5
k = 0,1

x10% = 0,11/5 = 63%

Was sagt mir das Ergebnis? Ich kann mir sicher sein, dass mindestens rund zwei Drittel der LXX-Manuskripte vor Mitte des zweiten Jahrhunderts mit dem Tetragrammaton versehen waren. Wahrscheinlich waren es aber sieben von acht Manuskripten oder mehr.3 Es könnten natürlich alle Manuskripte gewesen sein, aber das kann man nicht mit letzter Sicherheit beweisen, obwohl es natürlich naheliegend ist. Interessanterweise ist die Aussage der Zeugen Jehovas damit "wissenschaftlicher" als das, was Gassmann und Hanhart schreiben. Denn die Idee der Zeugen Jehovas kann man mit einem einzigen LXX-Manuskriptfund aus der entsprechenden Zeit widerlegen, während es Gassmann und Hannhart anscheinend egal sein kann, wie viele Manuskripte welcher Sorte vorliegen.

Und einmal in den Rückwärtsgang

Im Umkehrschluss folgt daraus aber, dass die Verfasser des "NT" mit ziemlicher Sicherheit weniger als 37% ihrer LXX-Manuskripte mit kyrios hatten, wahrscheinlich sogar höchsten 13%, und das auch nur falls überhaupt irgend jemand derartige Manuskripte angefertigt haben sollte, wofür es (wie gesagt) keinen handfesten Beweis gibt.

An dieser Stelle könnte jemand einwenden: Ja und? Es ist aber trotzdem nicht unmöglich, dass die Apostel LXX-Manuskripte hatten, in denen nicht das Tetragrammaton sondern kyrios stand! Und das ist korrekt, wenn man es so sieht, wie es da steht. Es ist nicht absolut unmöglich; das heißt aber nicht, dass man diese Idee als feststehende Tatsache ansehen kann oder auch nur als Möglichkeit. Es ist zwar auch nicht unmöglich, dass ich sofort den Hauptgewinn im Lotto ziehen würde, wenn ich diese Woche einen Lottoschein ausfüllen würde, aber ich wäre trotzdem naiv, wenn ich meine Planungen für nächste Woche darauf gründe, dass ich diesen Gewinn mache.

Mit den LXX-Manuskripten ist es ähnlich. Um das zu demonstrieren, will ich einmal annehmen, dass 95% aller Manuskripte zur Zeit der Abfassung des NT kyrios anstatt des Gottesnamens enthielten. Bei diesem Verhältnis wäre es naheliegend zu glauben, dass die Verfasser des NT auch kyrios lasen, wenn sie in die Bibel schauten.

Wie wahrscheinlich wäre es aber unter diesen Umständen, dass wir heute die Manuskripte vorliegen haben, die wir sehen? Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass wir heute fünf Manuskripte besitzen, die das Tetragrammaton zeigen und keines, das kyrios enthält? Da hilft uns eine einfache Rechnung:

p = 0,055 = 3,1 x 10-7

p: Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere heutige Überlieferung vorliegen haben
0,05: Wahrscheinlichkeit, dass ein zufälliges Manuskript das Tetragrammaton enthält
5: Anzahl der heute vorliegenden Manuskripte

Die Wahrscheinlichkeit ist damit etwas größer als die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, aber immer noch sehr klein: Bei 3,2 Millionen Versuchen kann ich damit rechnen, dass es mir einmal gelingt, solch eine Verteilung zu erhalten. Es ist also nicht absolut unmöglich, dass die Mehrheit der Manuskripte kyrios las, aber es ist so unwahrscheinlich, dass man einen guten Grund finden sollte, warum etwas derart unwahrscheinliches denn eingetreten sein sollte.

Papyrus Fouad 266b mit dem Tetragrammaton in hebräischer Schrift
Ich will hierbei einem häufigen Missverständnis in statistischen Fragen begegnen: Es ist ja so, dass praktisch jede Woche jemand im Lotto den Hauptgewinn zieht, obwohl das wesentlich unwahrscheinlicher ist als die eben aufgestellte Rechnung. Das heißt aber nicht, dass es quasi sicher ist, dass unwahrscheinliche Dinge passieren, sondern dass dies davon abhängt, wie viele Versuche man denn hat. Wenn ich 3,2 Millionen mal probieren kann, dann ist es wahrscheinlich, dass ein Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit 3,1 x 10-7 eintritt, es ist sogar wahrscheinlicher als wenn ich einmal probiere und die Wahrscheinlichkeit 10% beträgt.

Beim Lotto liegt die Zahl der abgegebenen Lottoscheine ähnlich hoch wie die Wahrscheinlichkeit eines Hauptgewinns. Es ist deswegen keine Überraschung, dass fast jede Woche jemand einen Hauptgewinn bekommt. Die Sache wäre anders, wenn es beim Lotto so wäre wie bei der Überlieferung alter Manuskripte: Wenn jede Woche nur exakt ein Lottoschein ausgefüllt würde, dann hätte es wahrscheinlich in der gesamten Geschichte der deutschen Lottogesellschaft noch keinen Hauptgewinn gegeben.

Und ähnlich unwahrscheinlich ist es, dass die fünf "überlebenden" LXX-Manuskripte aus der Zeit vor Mitte des zweiten Jahrhunderts das Tetragrammaton enthalten, wenn damals die große Mehrheit der Manuskripte etwas anderes enthielt. Wenn man denn also keinen vernünftigen(!) Grund finden kann, warum etwas derart unwahrscheinliches passiert sein sollte, dann muss ich annehmen, dass die Annahme am Anfang dieser Überlegung nicht realistisch ist: Es ist unrealistisch, dass damals die Mehrheit der LXX-Manuskripte kyrios las. Wenn man aber seine Schlussfolgerungen auf unrealistischen Annahmen aufbaut, dann kommt man meist nur zu unrealistischen Schlussfolgerungen.

Und noch mal seitwärts

Und jetzt will ich noch einmal mit einer anderen Methode versuchen zu ermitteln, wie wahrscheinlich es ist, dass vor Mitte des zweiten Jahrhunderts die Mehrheit der Manuskripte ein Tetragrammaton enthielt. Jetzt verwende ich wieder ein anderes Verfahren. Ich werde diesmal zwei mögliche Vorschläge auswählen und dann berechnen, welcher der Vorschläge wie wahrscheinlich ist.

Ich wähle hierzu einmal die Theorie der Zeugen Jehovas, dass es nur Manuskripte mit Tetragrammaton gab. Wenn man diese Theorie voraussetzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig fünf Manuskripte mit Tetragrammaton überliefert wurden:

p1 = 100%

Die andere Theorie ist die von Gassmann, dass die große Mehrheit der Manuskripte kyrios enthielt. Wir setzen hier einfach mal an, dass nur noch 10% der Manuskripte das Tetragrammaton enthielten. Wenn man diese Theorie voraussetzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig fünf Manuskripte mit Tetragrammaton überliefert wurden:

p2 = 0,15 = 0,001%

Die nächste Frage, die wir stellen müssen, lautet: Wie wahrscheinlich ist es, dass die heute real vorliegenden Manuskripte durch die erste Theorie erklärt werden und nicht durch die zweite? Die zugehörige Formel lautet:

p1/2 = p1 / (p1 + p2 ) = 99,999%

also fast sicher. Aber um nicht ganz so fies zu sein, will ich die Theorie der Zeugen Jehovas noch mit einer anderen vergleichen, nämlich mit der Theorie, dass 50% der Manuskripte kyrios enthielten. Dann wären Gassmanns Überlegungen zwar schon nicht mehr wahrscheinlich, aber vielleicht gerade noch vorstellbar. Wenn man diese Theorie voraussetzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig fünf Manuskripte mit Tetragrammaton überliefert wurden:

p3 = 0,55 = 3,125%

Und wenn wir jetzt diese Theorie mit der Theorie der Zeugen Jehovas vergleichen, wie wahrscheinlich ist es dann, dass Zeugen Jehovas recht haben?

p1/3 = p1 / (p1 + p2 ) = 96,97%

und das ist immer noch sehr sehr wahrscheinlich.

Was folgt daraus?

Was heißt das aber für die eingangs angesprochene Frage?
  • Die Idee, dass es zur Zeit der Anfertigung des NT LXX-Manuskripte mit kyrios überhaupt gab, beruht nicht auf archäologischen Beweisen, sondern auf Vermutungen darüber, wie genau kyrios überhaupt in die LXX hinein gekommen sein könnte.
  • Selbst wenn es damals bereits derartige Manuskripte gegeben haben sollte, legt die Manuskriptüberlieferung nahe, dass die große Mehrheit oder sogar alle der damals vorhandenen Manuskripte weiterhin ein Tetragrammaton enthielten.
  • Und damit ist der zentrale Punkt von Gassmanns Überlegung ohne sinnvolle Begründung: die Autoren des NT konnten nicht einfach kyrios ohne weiteres nachdenken aus der LXX abschreiben, wie es Gassmann suggeriert und wie es Hanhart annimmt, da es unwahrscheinlich ist, dass sie derartige Manuskripte vorliegen hatten.
Ein LXX-Fragment aus Oxyrhynchus Ägypten) mit dem Tetragrammaton in Hiob 42
Damit bleibt bei Gassmann die Frage offen, die eigentlich wichtig ist: Wie genau ist es dazu gekommen, dass sich Mitte des zweiten Jahrhunderts der archäologische Befund in der LXX-Überlieferung so dramatisch ändert? Gassmann und Hanhart tun so, als gäbe es nichts zu erklären, bleiben aber eine sinnvolle Begründung hierfür schuldig. Das ist leider ein wunder Punkt bei allen Theologen, die gegen Zeugen Jehovas in Bezug auf Verwendung des Gottesnamens argumentieren. Selbst wenn ihre Überlegungen richtig sein sollten, wie genau kyrios in die LXX gekommen ist, folgt daraus nicht, dass der vorliegende Handschriftenbefund nicht die damalige Realität abbildet.

Zeugen Jehovas sind aber für ihre Argumentation nicht darauf angewiesen, exakt zu wissen, wie kyrios in die LXX gekommen ist; wichtig ist für ihr Argument lediglich, dass zur Zeit der Abfassung des NT die Mehrheit der LXX-Handschriften das Tetragrammaton enthielten. Und das wird vom vorliegenden Handschriftenbefund sicher bestätigt.

Daher kann ich hier auf die allgemein verbreitete Erklärungslücke hinweisen, in die viele Theologen und sonstige Kritiker der Zeugen Jehovas hineintappen: Es muss erklärt werden, wie genau es dazu kam, dass es zu einem Wechsel im Text der LXX kam von einer verbreiteten Fassung mit Tetragrammaton hin zu einer Fassung mit kyrios. Die Frage verschwindet nicht einfach dadurch, dass man sie übersieht. Und sobald man die Frage stellt, wird klar, dass die Erklärung, die die Zeugen Jehovas vorschlagen, genau zum vorliegenden archäologischen Befund passt: Mitte des zweiten Jahrhunderts begannen christliche Abschreiber systematisch damit, im vorliegenden Bibeltext kyrios zu verwenden, wo bis dahin das Tetragrammaton stand.

Aber diese Erklärung weist auf ein Problem hin, dass Kritiker von Zeugen Jehovas nicht erörtern wollen:
  • Wer hat denn das Tetragrammaton in der LXX beim Abschreiben durch kyrios ersetzt?
  • Wieso sollte man annehmen, dass die Abschreiber, die in der LXX anscheinend keine Probleme hatten, das Tetragrammaton zu ersetzen, bei anderen Texten nicht genau so vorgegangen sein sollten?
  • Und wenn diese Abschreiber das NT abschrieben, wieso sollten sie dann kyrios dort nicht als Äquivalent für ein in der Vorlage stehendes Tetragrammaton eingesetzt haben?
  • Und welche Beweiskraft hätten dann die vorliegenden Handschriften des NT in Bezug auf die Frage, welches Wort von den Verfassern des NT ursprünglich verwendet wurde?
  • Genau mit diesen Fragen wollen sich Gassmann & Co nicht beschäftigen, denn jede Beschäftigung würde zeigen, dass es gute Gründe für das Tetragrammaton in den Urschriften des NT gibt. Daher versuchen sie um jeden Preis zu vermeiden anzunehmen, dass die LXX das Tetragrammaton enthielt, obwohl die überlieferten Manuskripte das Gegenteil aussagen. Lieber begehen sie den Denkfehler, den ich hier aufzeigte.

    Das, was ich hier besprochen habe, beweist alleine noch nicht, dass Zeugen Jehovas recht haben, aber es legt nahe, dass sie in dem besprochenen Punkt recht hatten: Zur Zeit der Abfassung des NT enthielten alle Manuskripte oder zumindest die große Mehrheit der Manuskripte ein Tetragrammaton und die Verfasser des NT lasen es, wenn sie hineinschauten.
    1 Umstritten ist natürlich nicht, dass es so ist, sondern warum es so ist; niemand kann vernünftigerweise bestreiten, dass alle überlieferten Manuskripte aus dieser Zeit das Tetragrammaton enthalten. Aber umstritten ist die Frage, wie es dazu kommen konnte.

    2 Diese Idee ist natürlich spekulativ. Es sind auch andere Erklärungen denkbar, auch solche, die die Ersetzung des Tetragrammaton durch kyrios erst in der Mitte des zweiten Jahrhunderts annehmen.

    3 Wir wollen noch schnell prüfen, ob unsere Formel sinnvolle Werte für andere Mengen an Manuskripten liefert. Es leuchtet ein, dass die berechnete Mindestmenge um so größer ist, je größer die vorliegende Zahl an Manuskripten ist. Eine hypothetische Berechnung für 10 Manuskripte sollte daher zu größeren Werten führen. Tatsächlich erhalten wir hierfür:

    x50% = 93%

    x10% = 79%

    was den angestellten Überlegungen entspricht.

    4 Es gibt noch eine Reihe weiterer Manuskripte aus dieser Zeit; diese enthalten aber entweder keine Stelle, wo ein Tetragrammaton hätte auftreten können, oder aber sie enthalten an den entsprechenden Leerstellen (wie z.B. der PRyl 458 aus dem 2.Jahrhundert v.u.Z.).

    Diese Leerstellen können unterschiedlich erklärt werden. Es scheint so, dass häufiger das Tetragrammaton von einer anderen Person geschrieben wurde als der Rest des Textes. Bei den Manuskripten mit Lücke könnte es sich entweder um solche handeln, bei denen die Tinte zum Schreiben des Tetragrammatons nicht so haltbar war, es könnte sein, dass die Manuskripte niemals vollendet wurden, oder es könnte sein, dass die Manuskripte bewusst so angefertigt wurden.

    Was es überhaupt nicht gibt, sind Manuskripte aus dieser Zeit, die das Tetragrammaton durch kyrios ersetzen; derartige Manuskripte wurden noch nie gefunden. Daher tragen die genannten Manuskripte nichts dazu bei zu erklären, wie kyrios in die LXX kam, und werden daher bei den weiteren Überlegungen ignoriert.

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