Donnerstag, 17. Februar 2011
Sind Zeugen Jehovas Selbstmörder?
Das könnte man manchmal meinen, wenn man verschiedene Meinungen über Zeugen Jehovas in der Presse liest. In diesem Artikel findet man folgende Behauptung über Zeugen Jehovas:
Bei Geburten liegt die Sterberate der Mütter, die zu den Zeugen Jehovas gehören, bis zu 60 mal über dem Durchschnitt.
Das sieht erst einmal nach einer Selbstmordsekte aus und genau so wurde es auch am 16.02. in Bremen bei einer Anhörung der Bürgerschaft dargestellt. Wenn man aber den Ursprung der Behauptung kennt, dann wird klar, dass hier etwas ganz klar nicht stimmt.

Die einzige aktuelle Studie zu der Frage der Sterblichkeit von Zeugen Jehovas bei der Geburt gibt es hier. Und wirklich findet man hier eine Zahl von "über 60" (alle Übersetzungen sind von mir):
The MMR [Maternal mortality ratio] for Jehovah’s witnesses was 68 per 100 000 live births.

Die Sterberate für Mütter, die Zeugen Jehovas sind, beträgt 68 auf 100.000 Lebendgeburten.
Das ist eine Rate von 0,068% und damit natürlich etwas ganz anderes als 60mal so viele. Dazu heißt es viel mehr:
Women who are Jehovah’s witnesses are at a six times increased risk for maternal death, [...] compared to the general Dutch population.

Frauen, die Zeugen Jehovas sind haben ein sechs mal so hohes Risiko, bei der Geburt zu sterben, [...] wie die holländische Durchschnittsbevölkerung.
Das ist zwar nur ein zehntel dessen, was in der Zeitung steht, wäre aber immer noch viel zu viel. Aber
da es mir schon gelungen ist, die Behauptung auf ein zehntel zu reduzieren, gebe ich nicht auf, denn wenn man genauer hinschaut, dann enthält die Studie eine Reihe von Fehlern. Nicht, dass die Wissenschaftler etwas mit den vorliegenden Daten der niederländischen Gesundheitsbehörden falsch gemacht hätten, aber sie haben einiges entscheidende in Bezug auf Zeugen Jehovas vergessen oder gar nicht erst gewusst. Das wird klar, wenn sie schreiben:
The total number of deliveries among Jehovah’s witnesses was calculated using the annual national birth rate and the total number of Jehovah’s witnesses in the Netherlands in the years 1983 through 2006. These data are carefully registered by the Dutch Central Bureau of Statistics (CBS) and the Watchtower Society respectively.

Die Gesamtzahl der Geburten bei Zeugen Jehovas wurde anhand der nationalen Geburtenrate und der Gesamtzahl der Zeugen Jehovas in den Niederlanden von 1983 bis 2006 berechnet[!]. Diese Daten werden sorgfältig von [niederländischen Statistikamt] und der Wachtturmgesellschaft erhoben.

The total number of deliveries in Jehovah’s witnesses during these years was calculated to approximate 8850.

Die Gesamtzahl der Geburten bei Zeugen Jehovas während dieser Jahre wurde zu 8850 berechnet.
Bei einer durchschnittlichen Geburtenrate von 11,5/1000 über diesen Zeitraum von 24 Jahren und ca. 32.065 Zeugen Jehovas ergeben sich ziemlich genau diese Werte, nicht wahr (bei genauer Recherche könnten sich die Zahlen im Nachkommabereich unwesentlich ändern, aber nicht wesentlich)?

Nein, da wesentliche Punkte vergessen wurden:
  1. Unter Zeugen Jehovas in Europa beträgt der Anteil weiblicher Mitglieder rund 60%. Damit würde sich eine ca. (60-50)/50 = 20% höhere Geburtenrate ergeben.
  2. Auch an anderen Stellen weicht die Struktur der Zeugen Jehovas von der der Allgemeinbevölkerung ab: So werden nur die gezählt, die sich monatlich am Predigen in der Öffentlichkeit beteiligen. Aus diesem Grund tauchen Kinder, Alte, Kranke oder aus anderen Gründen untätige Personen nicht in dieser Statistik auf, obwohl sie zur Berechnung der Geburtenrate dazu gerechnet werden müssten. Hierdurch würde sich Anzahl um schätzungsweise je ca. 20% (Kinder), 5% (Alte und Kranke) und 10% (sonstige Nicht-Verkündiger) erhöhen, d.h. insgesamt um ca. 35%
  3. Zeugen Jehovas lehnen Abtreibungen ab, das könnte die Geburtenrate noch einmal erhöhen.
  4. Insgesamt wäre die Anzahl der Geburten damit um ca. 1,2x1,35 =1,7, d.h. um 70% höher als in der Studie geschätzt.
Damit wäre die Todesrate nicht sechmal so hoch sondern
6 / 1,7 = 3,5 mal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Auch das wäre noch wesentlich mehr, aber da ich nun von 60 auf 3,5 herunter gekommen bin, finde ich noch ein weiteres Detail, dass die Macher der Studie vergessen haben: Mitte der 1990er Jahre haben Zeugen Jehovas in Europa sogenannte Krankenhausverbindungskomitees eingerichtet. Diese kümmern sich bis heute um eine Verbesserung der Behandlung von Zeugen Jehovas, indem sie z.B. Ärzte über blutfreie Behandlungsmethoden informieren, Ärzte finden, die Experten auf dem jeweiligen Gebiet sind und bereit zur Behandlung entsprechend den Glaubensgrundsätzen der Zeugen Jehovas. Hat sich das auf die Sterblichkeitsrate ausgewirkt?

Wenn wir den Untersuchungszeitraum in drei gleichlange Zeiträume teilen, dann sehen wir folgendes:

1983-1990: 3 Todesfälle
1991-1998: 2 Todesfälle
1999-2006: 1 Todesfall

Man sieht also über die Zeit eine deutliche Abnahme. In den letzten acht Jahren betrug die Sterblichkeitsrate nur noch 50% des Durchschnitts des Gesamtzeitraums. Damit beträgt die Sterberate für Zeugen Jehovas seit 1999 noch
3,5 / 2 = 1,75, d.h. das 1,75-fache dessen der Durchschnittsbevölkerung.

Und diese erhöhte Todesrate besteht aus exakt einem Todesfall seit 1997, d.h. in 10 Jahren. Hier sind wir an einer Grenze angelangt, in der genaue statistische Angaben nicht mehr sinnvoll möglich sind (frag deinen Statistikprofessor, warum das so ist).

Wie geht es weiter? Der Artikel wurde im Juni 2009 veröffentlicht. Im November des gleichen Jahres haben Zeugen Jehovas (möglicherweise als Ergebnis des Artikels) eine Liste mit Ratschlägen für Schwangere zusammengestellt, die seit 2010 jeder schwangeren Zeugin Jehovas zur Verfpgung gestellt wird, und die im wesentlichen die Ergebnisse der Studie in Empfehlungen umsetzt, um das Todesrisiko weiter zu senken. Wir können also erwarten, dass das Sterberisiko für schwangere Zeugen JEhovas in Zukunft weiter sinkt, wenn diese Empfehlungen umgesetzt werden.

Weiterhin kann man sehen, dass sensationelle Meldungen mit Horrorszenarien über Zeugen Jehovas bei näherer Betrachtung vollkommen anders aussehen. Aber wer hat schon Lust, alle diese Daten selber zusammenzusuchen. Und die Horrorszenarien entsprechen viel besser den gängigen Vorurteilen. Das heißt natürlich nicht, dass ich dem Leiden und Sterben von Menschen gegenüber gleichgültig bin, aber wenn sich "ein mehr als 60 mal höheres Todesrisiko" als wenn überhaupt statistisch feststellbar, nur leicht erhöht herausstellt, dann liegt das Problem nicht bei bei dem Verhalten der Zeugen Jehovas sondern bei der Verbreitung von Vorurteilen durch Leute, die es eigentlich besser wissen müssten.

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