Dienstag, 22. Februar 2011
Zeugen Jehovas und Grundgesetz
In der Badischen Zeitung wurde erwähnt, gegen welche Verfassungsgrundsätze Zeugen Jehovas angeblich verstoßen. Es sind drei Stück; ich habe mir die Mühe gemacht, diese mit dem Wortlaut des Grundgesetzes (hier der Wortlaut)und den rechtskräftigen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu vergleichen.

Schutz von Ehe und Familie

Der Vorwurf:
Die Glaubensgemeinschaft verbiete den Kontakt mit "abtrünnigen" Familienmitgliedern. Das verstoße gegen Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes – den Schutz von Ehe und Familie.
Der Verfassungsgrundsatz:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Was das OVG Berlin dazu auszugsweise sagt (Hervorhebungen im folgenden immer von mir, Auslassungen habe ich nicht gekennzeichnet):
Art. 6 Abs. 1 GG umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht den Schutz der Generationen-Großfamilie; unter „Familie” im Sinne dieser Verfassungsnorm ist vielmehr nur die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern zu verstehen

Objektive Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Behauptung „eminent familienfeindlicher” Praktiken der Klägerin hat der Beklagte trotz zahlreicher - auch länderübergreifender - Umfragen bei Behörden und Institutionen nicht ermitteln können

Für den Bereich der Familie aber, der nach Art. 6 Abs. 1 GG Gegenstand staatlichen Schutzes ist, bestreitet sie [die Religionsgemeinschaft] derartige Handlungsanweisungen oder -empfehlungen. Ihren im Verlaufe des Verfahrens abgegebenen und durch eigene Literatur belegten Erklärungen entspricht es vielmehr, im Falle des Ausscheidens oder Ausschlusses eines solchen engen Familienmitglieds lediglich keine „geistige Gemeinschaft” im Sinne gemeinsamer Anbetung Jehovas mehr zu pflegen, hinsichtlich der Dinge des täglichen Lebens aber weiterhin „in Liebe loyal miteinander umzugehen”.

Im Übrigen bleibt die Frage offen, ob solche Berichte auch ohne das Vorhandensein sonstiger empirischer Erkenntnisse die hinreichend sichere Einschätzung erlauben, dass die geschilderten Verhaltensweisen und/oder Erfahrungen einzelner aus der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas Ausgeschiedener, Ausgeschlossener oder betroffener Angehöriger auf ein über exzessive Einzelfälle hinausgehendes, den verbindlichen Vorgaben der Glaubensgemeinschaft entsprechendes Verhalten mit der Folge schließen lassen, dass sie als typisch anzusehen sind. Dafür, dass sich der Beklagte dieser Frage jemals gestellt hätte, spricht wenig. Entscheidend ist allerdings, dass er die dem Internet entnommenen, ihm unaufgefordert zugesandten oder von Seiten interessierter Kreise zur Verfügung gestellten „Erfahrungsberichte” Betroffener zu keiner Zeit kritisch hinterfragt (vgl. hierzu schon den Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 26. Juni 1997 - BVerwG 7 C 11.96 - UA S. 13), sondern in inhaltlicher wie vor allem auch persönlicher Hinsicht ungeprüft übernommen und zum Gegenstand seines Berufungsvorbringens gemacht hat. Eine solche Verfahrensweise widerspricht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie er sich im Bericht der Enquete-Kommission und den von ihr eingeholten Sachverständigengutachten widerspiegelt. Denn danach ist - vollkommen unabhängig von der Frage, ob die betreffenden Personen bei der Wiedergabe ihrer persönlichen Erfahrungen glaubwürdig sind oder nicht - ohne Kenntnis vom psychosozialen Hintergrund des Betreffenden eine Beurteilung, ob und ggf. zu welchen Anteilen die als destruktiv empfundenen und beschriebenen Konflikte in der Struktur oder der Lehre der Gemeinschaft begründet sind, nicht möglich.
Demnach müsste die Regierung von BaWü also (regelmäßige) Fälle finden, in denen Zeugen Jehovas den Umgang von Eltern und Kindern oder von Ehepartnern unterbinden wollen, bzw. darauf hinwirken, dass Ehepartner sich aus religiösen Gründen scheiden lassen. Angesichts dessen, dass Zeugen Jehovas seit "ewigen Zeiten" (mehr oder weniger sofort seit Einführung des Ausschlusses in den 1950er Jahren) genau für diesen Fall eine Ausnahme im Kontaktverbot kennen, wird das wohl kaum gehen.

Es müsste also nachgewiesen werden, dass Zeugen Jehovas systematisch ihre eigenen Anweisungen missachten und "jeder weiß", dass man nicht ernst nehmen kann, was dazu geschrieben wurde; das ist albern: eine Gruppe von 7,5Mio weltweit kann so nicht funktionieren. Es ist allgemein bekannt, dass Zeugen Jehovas den Wachtturm als verbindliche Darstellung ihrer Glaubenslehre ansehen. Es müsste ja einen geheimen Weg geben, alle diese abweichenden Anweisungen an alle Mitglieder zu vermitteln- und dass ohne dass dieser Mitteilungskanal irgendwo greifbar wäre; so etwas ist eine Verschwörungstheorie, die man nicht ernst nehmen kann.

So lange es

Religionsfreiheit

Der Vorwurf:
Mit dem Kontaktverbot zu ausgetretenen Mitgliedern "halte sie zudem mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln austrittswillige Mitglieder in der Religionsgemeinschaft fest", heißt es weiter. Das sei ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes.
Der Verfassungsgrundsatz:
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Was das BVerwG dazu sagt:
Ferner bedarf es der Aufklärung, ob die Religionsgemeinschaft gegenüber den in der Gemeinschaft verbliebenen Familienmitgliedern - wie das beklagte Land behauptet - in einer den Bestand der Familie oder der Ehe ( Art. 6 Abs. 1 GG ) gefährdenden Weise aktiv darauf hinarbeitet, dass diese den Kontakt zu Kindern oder Ehegatten, die aus der Religionsgemeinschaft ausgeschieden sind oder ausgeschlossen wurden, „auf das absolut Notwendige” beschränken oder ganz aufgeben (b). Ein solches Verhalten der Religionsgemeinschaft wird sich regelmäßig auch als nachhaltige Sperre gegen den Austritt von Mitgliedern auswirken und damit ihr nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistetes Recht gefährden, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen
Anders gesagt: dieser Vorwurf kann nur dann zutreffen, wenn der vorgehende Vorwurf ebenfalls erfüllt ist; beide Punkte beziehen sich auf dieselbe Verhaltensweise. Der Vorwurf ist also nichts weiter als Füllmaterial, um über die dünne Grundlage hinwegzutauschen.

Schutz der körperlichen Unversehrtheit

Der Vorwurf:
Weil nach den Regeln der Zeugen die Annahme von Blut oder Blutbestandteilen selbst im äußersten Notfall verboten ist, seien das Leben von Kindern und Jugendlichen gefährdet – ein Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
Der Verfassungsgrundsatz:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Was das BVerwG sagt auszugsweise:
Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas untersagt es ihren Mitgliedern, die Zustimmung zu Bluttransfusionen bei ihren minderjährigen Kindern zu erteilen; dies gilt auch dann, wenn nach ärztlicher Beurteilung die Bluttransfusion das einzige Mittel ist, um das Leben des Kindes zu erhalten. Dies rechtfertigt für sich allein jedoch noch nicht die Versagung des Körperschaftsstatus.

Die Regelung bewahrt die Mitglieder der Religionsgemeinschaft davor, aktiv an der Durchführung der nach ihrer Anschauung verbotenen Bluttransfusion mitwirken zu müssen, und schafft andererseits im Sinne des Grundrechtsschutzes des Kindes eine wirksame und schnelle Hilfe zur Erhaltung des Lebens des Minderjährigen. Wenn das Verhalten der Religionsgemeinschaft diesen staatlichen Schutz oder eine Sofortmaßnahme des Arztes von vornherein einbezieht und sich darauf beschränkt, die Mitglieder darin zu bestärken, nicht selbst die Zustimmung zur Bluttransfusion zu erklären, kann hierin allein noch keine Gefährdung des Grundrechts des Minderjährigen gesehen werden, welche die Versagung des Körperschaftsstatus rechtfertigt.

Anders verhält es sich aber, wenn die Religionsgemeinschaft Schritte unternimmt, die darauf hinauslaufen, die staatlichen Schutzmaßnahmen zu erschweren oder gar zu verhindern.

Wenn sich dagegen herausstellt, dass die von dem Beklagten angeführten Maßnahmen darauf zielen, Eltern in der Ablehnung der Bluttransfusion „zu überwachen” und dadurch zu verhindern, dass diese im Interesse ihres Kindes der Bluttransfusion zustimmen, würde sich aus einem solchen Verhalten unter der Voraussetzung, dass es sich lediglich als Bestärkung der als richtig angesehenen religiösen Haltung darstellt, kein zusätzlicher Gesichtspunkt gegen die Zuerkennung des Körperschaftsstatus ergeben. Eine andere Beurteilung wäre allerdings vorzunehmen, wenn die Klägerin mit unzulässigen Maßnahmen (z.B. Ausübung von Druck oder Drohungen) versuchen würde, zur Zustimmung bereite Eltern von der Erklärung der Zustimmung gegenüber dem Arzt abzuhalten.

Sollte die Prüfung durch das Oberverwaltungsgericht ergeben, dass die Religionsgemeinschaft die Bluttransfusion bei dem Kind, zu der der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht das Einverständnis der Eltern ersetzt hat, zum Anlass eines Ausschlussverfahrens in der Form eines „Gemeinschaftsentzugs” nimmt, wäre die „Sanktionierung” dieses staatlichen Schutzes ein erheblicher Gesichtspunkt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung. Sie würde im Widerspruch zu der Darlegung der Klägerin stehen, dass sie sich allein gegen den „eigenhändigen” Beitrag von Mitgliedern zur Bluttransfusion in der Form der Zustimmungserklärung wendet.
Und das OVG Berlin fügt auszugsweise hinzu:
Anfragen des Beklagten beim Landesamt für Gesundheit und Soziales, bei den städtischen Krankenhäusern und bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landgerichts Berlin nach Vorfällen, die nach Maßgabe des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts die Versagung des Körperschaftsstatus rechtfertigen würden, sind ergebnislos verlaufen. Auch sonst gibt es weder behördliche noch familien- oder strafgerichtliche Feststellungen, wonach die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas aktiv darauf hinwirkt oder auch nur in einem Fall nachweisbar darauf hingewirkt hätte, den zeitweisen Entzug des elterlichen Sorgerechts zu unterlaufen oder das eigenverantwortliche Verabreichen einer lebenserhaltenden Bluttransfusion durch den behandelnden Arzt aktiv zu behindern.

Eine Entscheidung, in der eine Einzelfallprüfung zu der Feststellung geführt hat, dass von Seiten der Eltern oder eines Elternteils die behaupteten Verhinderungsstrategien mit der Folge einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls verfolgt worden sind, hat der Beklagte nicht vorweisen können; eine solche lässt sich auch sonst nicht feststellen
Folgendes ist also nachzuweisen: Zeugen Jehovas würden systematisch Eltern dazu zwingen, keine Zustimmung zu Bluttransfusionen bei ihren Kindern zu geben oder aber, dass gerichtlich angeordnete Bluttransfusionen vereitelt würden. Ich bin gespannt darauf, welche konkreten Einzelfälle hierzu genannt werden. Bisher gehen derartige Vorwürfe nicht über anonyme Schilderungen hinaus, bei denen Vermutungen über Zeugen Jehovas zu Tatsachen erklärt werden wie bei diesem Vorfall in Bremen. Aber derartige Vorwürfe sind natürlich nicht vor Gericht verwendbar, da ja keine Prüfung des Einzelfalls möglich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Baden-Württemberg derartige Vorfälle gefunden hat, allein schon, weil sie der in den o.g. Gerichtsurteilen Glaubenspraxis von Zeugen Jehovas widersprechen.

Alles in allem eine seltsame Entscheidung der Regierung von BaWü, die wohl kaum irgendwie dem geltenden Recht entspricht.

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