Montag, 2. Mai 2011
Bremen: der grundlegende Fehler
Eigentlich wollte ich noch meine Meinung zum Bericht des Rechtsausschusses der Bremer Bürgerschaft äußern. Nach durchlesen und langem nachdenken kam ich dann zum Ergebnis, dass die "Argumentation" in dem verlinkten Bericht so ungenau und nicht nachvollziehbar ist, dass man sie schlecht kommentieren kann ohne dass man sich seitenweise eigene Überlegungen, wie das ganze denn zu verstehen sei, dazu zu schreiben. Daher habe ich gestern abend dieses Unternehmen aufgegeben.

Aber heute wurde mir dann klar, dass unabhängig von der chaotischen Argumentation in Detailfragen (ein besonders peinliches Beispiel hatte ich hier besprochen) die gesamte Arbeit des Rechtsausschusses von einem grundlegenden Fehler durchzogen ist. Diesen Fehler will ich hier erläutern. (Der Leser bedenke, dass ich kein Anwalt bin; wer genaue verfassungsrechtliche Informationen haben will, sollte sich an einen Fachmann wenden). Der Rechtsausschuss schrieb u.a.:
(S. 26) Nach Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Es ist zu beleuchten, ob und inwieweit die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen durch ihr Verhalten und durch ihre Mitglieder den grundgesetzlich garantierten Schutz von Ehe und Familie beeinträchtigt oder gar gefährdet.

(S. 27) Nach Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz ist die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich.

(S. 29) Nach Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, dies gilt insbesondere für Kinder, die noch nicht über einen eigenen Entscheidungswillen verfügen.
Hier bezieht sich der Rechtsausschuss offenbar auf Absatz 105 des Urteils des BverfG (in Verbindung mit dem darauf beruhenden Urteil des BVerwG):
Insbesondere ist im fachgerichtlichen Verfahren offen geblieben, ob die Beschwerdeführerin - wie das Land Berlin behauptet - durch die von ihr empfohlenen Erziehungspraktiken das Wohl der Kinder beeinträchtigt oder austrittswillige Mitglieder zwangsweise oder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln in der Gemeinschaft festhält und damit dem staatlichen Schutz anvertraute Grundrechte beeinträchtigt.
Der Rechtsausschuss prüft genau diese Fragen (und die zusätzlich vom BVerwG dazu gestellte Frage nach der Gefährdung von Leben und Gesundheit der Kinder durch abgelehnte Bluttransfusionen). Allerdings ist da die Frage, anhand welcher Kriterien muss geprüft werden? In jedem dieser Fälle prüfte der Rechtsausschuss das Verhalten der Religionsgemeinschaft unmittelbar anhand der entsprechenden Verfassungsartikel. Allerdings ist das kaum damit vereinbar, was das BVerfG in seinem entsprechenden Urteil schrieb (die wesentlichen Punkte sind in Abs. 85f des Urteils enthalten):
Die korporierten Religionsgemeinschaften sind - soweit sie außerhalb des ihnen übertragenen Bereichs hoheitlicher Befugnisse handeln - an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden (P. Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: J. Listl/D. Pirson , Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 22, S. 651, 676 ff.). Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bindet sie aber an die Achtung der fundamentalen Rechte der Person, die Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. Das Grundgesetz unterstellt die Menschenwürde und andere Grundrechte dem Schutz der Verfassung. So verpflichtet es den Staat, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen (BVerfGE 56, 54 <73>; 79, 174 <201 f.>; 88, 203 <251>). Kinder können staatlichen Schutz ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG beanspruchen; dabei bildet das Kindeswohl den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (BVerfGE 99, 145 <156>). Und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fordert vom Staat, den Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen (BVerfGE 93, 1 <16>).

Korporierte Religionsgemeinschaften haben einen öffentlich-rechtlichen Status und sind mit bestimmten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Ihnen liegen deshalb die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften. Diese Pflichten verbieten die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre.

Was das BVerfG sagte

Die Frage, die das Gericht behandelte, war, welchen Kriterien eine Religionsgemeinschaft entsprechen muss, um K.d.ö.R. zu werden. In den behandelten Absätzen ging es um die Frage, inwieweit die Grundrechte dritter, d.h. von Personen, die vom Handeln der Religionsgemeinschaft betroffen sind, von der Religionsgemeinschaft geachtet werden müssen. Als allgemeine Grundsätze äußerte das Gericht die oben zitierten Grundsätze (neben anderen, die für unsere Diskussion nicht maßgebend sind).

Das wollen wir einmal auseinander nehmen: zuerst macht das BVerfG einen Unterschied zwischen "übertragenen hoheitlichen Befugnissen" und sonstigem Handeln der Religionsgemeinschaft. Der Grundsatz lautet erst einmal: "Die korporierten [d.h. mit Körperschaftsstatus] Religionsgemeinschaften sind an die einzelnen Grundrechte [anderer Personen] nicht unmittelbar gebunden", mit anderen Worten: eine Religionsgemeinschaft ist normalerweise nicht verpflichtet ihr Handeln selbstständig darauf zu prüfen, ob es Grundrechte anderer einschränkt oder betrifft. Dies ist im Gegensatz z.B. zum Staat, der unmittelbar verpflichtet ist, die Grundrechte von Personen zu beachten.

Eine Ausnahme macht das Gericht für "übertragene hoheitliche Befugnisse", z.B. für die Möglichkeit eigene Beamte zu berufen und "öffentliche Sachen" zu widmen. Da Zeugen Jehovas bisher in keiner Weise derartige Befugnisse benutzt haben, ist diese Ausnahme erst einmal nicht interessant. Der Staat muss "lediglich" prüfen, ob derartige Voraussetzungen von den Religionsgemeinschaften nicht zu Lasten anderer Personen missbraucht werden. Wo nichts benutzt wird, gibt es nichts zu prüfen.

Es bleiben also die übrigen Fälle zu prüfen, bei denen die Religionsgemeinschaft "nicht unmittelbar" gebunden ist, die Grundrechte Dritter zu achten. "Nicht unmittelbar" bedeutet aber: mittelbar doch! Und was bedeutet es nun, dass eine Religion mittelbar an die Grundrechte Dritter gebunden ist? Das BVerfG erläutert dies im Absatz 85 des Urteils: Der Staat ist unmittelbar verpflichtet, "menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen" (insbesondere Kinder) sowie "den Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen". Der Staat ist also verpflichtet, die Einzelperson vor Übergriffen anderer (hier: der untersuchten Religionsgemeinschaft) auf die eigenen Grundrechte zu schützen. Deswegen gibt es Gesetze, die derartige Übergriffe verbieten, sowie Polizei und Staatsanwaltschaft, die dann den Gesetzen Geltung verschaffen.

Das BVerfG schreibt weiter: "[den Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts] liegen deshalb [weil sie besonderen Einfluss haben] die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften." Was heißt nun wieder "näher liegen"? Das wird nicht genau gesagt. Stattdessen führt das Gericht ein Kriterium an, wann die Verleihung des K.d.ö.R.-Status nicht erfolgen darf, nämlich: "Diese Pflichten verbieten die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre."

Mit anderen Worten: Wenn der Staat (hinreichend häufig) gegen eine Religionsgemeinschaft einschreiten muss, um sie daran zu hindern, die Grundrechte anderer zu missachten, dann kann die Religionsgemeinschaft keinen Körperschaftsstatus erhalten. Und an diesen Grundsätzen muss man dann natürlich die Forderung zur Prüfung aus dem Absatz 105 und dem Urteil des BVerwG messen. Und genau mit dieser Frage hat sich der Rechtsausschuss der Bremer Bürgerschaft nicht oder höchstens ganz am Rande beschäftigt. Stattdessen hat er unmittelbar (im Gegensatz zum Urteil des BVerfG) das Handeln der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas am einhalten der Grundrechte dritter gemessen. Damit geht die Prüfung wie von der Religionsgemeinschaft behauptet tatsächlich deutlich über das hinaus, was eigentlich zu prüfen ist.

Eine verfassungskonforme Prüfung

Was würde denn herauskommen, wenn die Prüfung wirklich so vorgenommen würde, wie es die untersuchten Abschnitte des BVerfG-Urteils nahelegen? Darüber kann ich natürlich nur spekulieren, aber genau das will ich ja ;o)

Ich will mit der Unverletzlichkeit der Familie und Ehe anfangen; es gibt meines Wissens keinerlei Hinweise darauf, dass der Staat gegen die Religionsgemeinschaft oder einzelne Zeugen Jehovas eingeschritten ist, um sie daran zu hindern, Familien und Ehen zu zerstören. Wie sollte er auch? An welchem Maßstab will er messen, wie viel Kontakt und welche Art von Kontakt Familienmitglieder untereinander haben müssen? Aus gutem Grund schreibt der Staat das nicht vor; allein der Gedanke an derartige Regelungen könnte Albträume bereiten: Gerichtsbeschlüsse, wie viel man bei Familientreffen lächeln muss, was für einen warmherzigen Eindruck man hinterlassen muss und die armen Gerichte, die das dann anhand von Beweisfotos entscheiden müssen. Und solange der Staat das Recht auf Scheidung zugesteht, kann er nicht von anderen erwarten, dass sie Scheidungen um jeden Preis verhindern. Damit kann er gar nicht gegen Zeugen Jehovas einschreiten, solange sie so handeln wie sie derzeit tun. Und damit entfällt auch der Grund ihnen den Körperschaftsstatus zu versagen.

Ähnlich eindeutig ist die Frage bei dem "Festhalten von Mitgliedern in der Religionsgemeinschaft". Die Polizei muss nicht einschreiten, damit jemand bei den Zeugen Jehovas austreten muss. Selbst bei der katholischen Kirche gibt es keine Problem, obwohl die katholische Kirche keinen Kirchenaustritt zulässt! Anstatt der katholischen Kirche hier den Körperschaftsstatus abzuerkennen, hat der Staat ein Gesetz erlassen, dass dafür sorgt, dass die Ansichten der katholischen Kirche keine rechtlichen Auswirkungen für den einzelnen haben.

Natürlich liegen die Vorwürfe bei Zeugen Jehovas etwas anders: hier geht es darum, dass angeblich Menschen mit dem Verlust des Ehepartners und der Eltern bedroht werden. Auch hier gilt: solange der Staat die Ehescheidung zulässt, kann er nicht von anderen erwarten, dass sie nicht in Anspruch genommen wird. Unabhängig davon stimmt es natürlich nicht, dass Zeugen Jehovas auf eine Scheidung von Ehepartnern hinarbeiten; auch verlangen sie nicht, dass man seine minderjährigen Kinder aus dem Haus wirft oder was sonst noch an Horrormärchen verbreitet wird; aber diese Fragen sind schon gar nicht mehr maßgebend. Wenn der Staat selber so etwas zulässt, kann er nicht erwarten, dass man dies nicht in Anspruch nimmt. Es käme ja auch niemand darauf, der katholischen Kirche ihren Status abzusprechen, weil die katholische Familie den Kontakt zu einem Familienmitglied einschränkt, dass Zeuge Jehovas wird (in meinem Umfeld tatsächlich passiert und kein Einzelfall).

Wie liegt die Sache mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit von Kindern, deren Eltern als Zeugen Jehovas keine Zustimmung zu einer Bluttransfusion geben wollen? Hier greift der Staat tatsächlich ein, indem ein Gericht das elterliche Einverständnis ersetzt. Allerdings gibt es hier eine Besonderheit: es geht nicht nur um das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit sondern auch um das Recht der Eltern auf Gewissensfreiheit. Der Staat erkennt an, dass Eltern nicht verpflichtet sind, eine Zustimmung zu einer Behandlung zu geben, wenn ihnen ihr eigenes Gewissen dies verbietet.

Das BVerfG hat hier entschieden, dass der Staat einen Gewissensvorbehalt berücksichtigen muss. Hier ging es interessanterweise um Mitglieder des evangelischen Brüdervereins, der seine Frau sterben ließ, weil er der Überzeugung war, dass beten besser ist als Krankenhaus.

In dieser Lage kann die Religionsgemeinschaft nur eines der beiden Grundrechte "missachten", egal, was sie sagt und tut. Entweder die Eltern werden gedrängt gegen ihr Gewissen zu handeln, oder das Recht der Kinder, eine Bluttransfusion zu erhalten, wird verletzt. Der Staat ist hier der Meinung, dass die Religionsgemeinschaft den einzelnen in der getroffenen Gewissensentscheidung bestärken darf, solange das Rechts des Staates geachtet wird, entgegen dieser Gewissensentscheidung zu handeln und eine Bluttransfusion für das Kind anzuordnen.

Und genau das tun Zeugen Jehovas. Eine Voraussetzung, um als Zeuge Jehovas getauft zu werden, besteht darin, dass man genau diese Gewissensentscheidung bereits vorher getroffen hat. Nur wer sagt, dass er es mit dem Blut so hält, kann überhaupt Zeuge Jehovas werden. Die Religionsgemeinschaft geht dann davon aus, dass diese Gewissensentscheidung weiter gilt, bis der einzelne eine Änderung seiner Gewissensentscheidung bekannt gibt.

Möglicherweise aus diesem Grund ist der Rechtsausschuss auch auf den Eindruck eingegangen, dass die Krankenhaus-Verbindungskomitees (KVK) der Zeugen Jehovas Druck auf einzelne Mitglieder ausüben würden, entgegen ihrer Überzeugung Bluttransfusionen zu verweigern. Aber hier tritt natürlich ein Problem auf. Da jeder Zeuge Jehovas vor seiner Taufe eine entsprechende Entscheidung getroffen (und vor dem Ältesten öffentlich gemacht hat, der mit ihm die entsprechenden Fragen vor der Taufe bespricht) hat, geht die Religionsgemeinschaft zu Recht davon aus, dass diese Gewissensentscheidung weiter gilt. Wer sich also unter Druck gesetzt fühlt, weil man ihm helfen will, seiner Gewissensentscheidung Geltung zu verschaffen, der muss bedenken, dass er erst ein mal verpflichtet wäre, die Änderung seiner Gewissensentscheidung bekannt zu geben. Ich bin mir sicher, dass kein KVK jemanden dazu drängt, keine Zustimmung zu einer Blutübertragung zu geben, der öffentlich verkündet, diese Zustimmung geben zu wollen. Und damit entfällt auch hier jeder Grund, Zeugen Jehovas die Verletzung der Rechte dritter vorzuwerfen.

Imm Endeffekt bleibt also nur übrig zu hoffen, dass die Richter, die sich (mit ziemlicher Sicherheit) mit diesem Fall befassen werden, das Urteil des BVerfG genauer lesen, als es der Rechtsausschuss der Bremer Bürgerschaft getan hat.

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