Mittwoch, 25. Mai 2011
Das "Gutachten" aus Baden-Württemberg
hgp, 09:43h
Inhalt
Einleitung1. Prinzipielle Zulässigkeit einer Prüfung
2. Konkrete Zulässigkeit der Prüfung in diesem Fall
3. Gründe, die (angeblich) funktionieren
4./5. Gründe, die nicht funktionieren
6. Plan B für die Gerichtsverhandlung
7. Europäisches Recht
8. Wir halten uns an das Grundgesetz!
Fazit
Einleitung
Das Land Baden-Württemberg hatte eine "Gutachten" erstellen lassen, dass ausdrücklich nach den Medienberichten als Ziel hatte, Gründe zu finden, Zeugen Jehovas den Körperschaftsstatus nicht verleihen zu müssen (deswegen auch die Gänsefüßchen). Damit widersprach dieses Gutachten dem, was das zuständige Ministerium von 2007 bis Anfang 2009 ermittelt hatte, nämlich dass es keinen Grund gibt, der Religionsgemeinschaft den Status nicht zu verleihen (Aber auch diese Ergebnisse kennen wir nicht).Dieses "Gutachten" wurde bisher nicht veröffentlicht. Daher hatten wir bisher nur durch Medienberichte eine sehr allgemeine Kenntnis vom Inhalt. Im Abschlussbericht des Rechtsausschusses von Bremen wurde nun ein längerer Abschnitt zitiert (und der Link hat sich geändert: siehe jetzthier), der anscheinend die Ergebnisse des "Gutachtens" zusammenfasst.
Wer den Abschlussbericht des Rechtsausschusses des Landes Bremen genau liest, der bemerkt, dass sich die dortigen Ergebnisse fast wortwörtlich aus dem hier besprochenen "Gutachten" ableiten. Daher werde ich von Zeit zu Zeit auf diesen Bericht zurückgreifen, um Wissenslücken provisorisch aufzufüllen.
Diesen Abschnitt habe ich einmal etwas genauer gelesen und meine (nichtfachlichen) Meinungen hier festgehalten. Insbesondere interessiert mich natürlich, ob es Anhaltspunkte darauf gibt, dass irgendwelche wichtigen rechtlichen Fragen oder Sachfragen außen vorgelassen wurden oder ob das Vorgehen leicht gerichtlich angreifbar ist. Dadurch gewinne ich ein klareres Bild dazu, was denn jetzt die umstrittenen Punkte sein werden, um die vor Gericht gerungen werden wird.
Außerdem gibt das ganze Einblick in die Vorgehensweise. Es ist klar, dass das Dokument von Beamten auf Anforderung der Politiker erstellt wurde. Der Auftrag dazu erfolgte im Sommer 2009. Natürlich darf ein Beamter nichts aufschreiben, wovon er als Jurist weiß, dass es rechtswidrig ist. Daher ist die "Brücke", über die die Politiker gehen wollen, relativ dünn (Ähnlich wie hier), wie wir noch sehen werden. Der zitierte Text des "Gutachtens" ist blau, alle Hervorhebungen sind von mir.
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1. Prinzipielle Zulässigkeit einer Prüfung
1.Baden-Württemberg ist verfassungsrechtlich befugt, die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechte einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft für das Land Baden-Württemberg auch nach einer so genannten „Erstverleihung“ durch ein anderes Bundesland eigenständig zu prüfen.Hier ist das Fundament der gesamten Argumentation, nämlich die Frage, ob eine derartige Prüfung überhaupt vorgenommen werden darf. Denn wenn sie nicht dürfen, dann wären alle weiteren Schritte und Fragen bedeutungslos, weil sie gar nicht gestellt werden dürften.
Wichtig ist hier, dass die "verfassungsrechtliche Befugnis" geprüft wurde. Da die Verfassung nicht das Prozedere bei einem Antrag Zweitverleihung der Körperschftsrechte vorschreibt, gibt es hier logischerweise nichts, was der Prüfung entgegensteht. Interessant ist aber, was der Vertreter der Zeugen Jehovas vor dem Rechtsausschuss in Bremen sagte:
Nach dem föderalen System sei die Religion Angelegenheit der Bundesländer, zwischen denen in den Jahren 1954 und 1962 Vereinbarungen getroffen worden seien, wonach bei einem solchen Antrag ein Konsultationsprozess, ein Präzedenzverfahren, durchgeführt werde, wodurch die anderen Länder im Ergebnis faktisch gebunden würden. Im Rahmen der 1992 durchgeführten Konsultationen sei das Land Berlin angehalten worden, die Körperschaftsrechte nicht zu verleihen, obwohl es eigentlich verleihungswillig gewesen wäre. Im Jahr 2008 habe zwischen den Ministerpräsidenten und den Staatssekretären eine Abstimmung stattgefunden mit dem Ergebnis, die Körperschaftsrechte im Nachgang zu der Erstverleihung auch in den Ländern zu verleihen.Zuerst einmal ist der Hinweis zum Jahre 2008 für Bremen nur eingeschränkt hilfreich. Da hier das Parlament entscheidet, konnte der Vertreter des Senats gar keine gültige Zusage zur Anerkennung machen. Das Parlament muss sich natürlich nicht vom Senat vorschreiben lassen, welche Gesetze sie verabschiedet.
In den Ländern, wo die Regierung diese Zusage machte, sieht das natürlich anders aus. Allerdings ist auch hier natürlich eine Landesregierung nicht unbedingt an das gebunden, was ein Staatssekretär so daher redet. Mit anderen Worten: Eine "Abstimmung" auf Ebene der Staatssekretäre ist formal nicht rechtsverbindlich. Obwohl ein Gericht natürlich trotzdem wissen wollen könnte, welche Gründe die Regierung hatte, hiervon abzuweichen. Aber da die Regierung ja immer sagen kann: Wir hatten Bedenken, die im gemeinsamen Verfahren nicht ausgeräumt werden konnten.
Die "Absprachen der Länder" aus den 50er Jahren sind mir neu; das wusste ich bisher nicht, dass es etwas derartiges gibt. Ich ging davon aus, dass es einfach so geübte Praxis war, so vorzugehen. Leider kennt kein Mensch (außer Fachleuten) heute die Absprachen, die die Länder in den 50er Jahren trafen. Wie verbindlich waren sie? Sind sie weiter rechtskräftig? Wenn ja, dann ist der gesamte Rest des "Gutachtens" und aller Ablehnungen in den drei Ländern Makulatur, denn ein Verwaltungsgericht würde anhand dieser rechtskräftigen Vorschrift eine weitere Prüfung ablehnen und die Bundesländer zur Genehmigung des Antrages verpflichten (in Bremen ist natürlich alles komplizierter). Wenn hingegen diese Absprachen rechtlich unverbindlich waren oder in der Zwischenzeit außer Kraft gesetzt wurden, dann kann theoretisch eine zusätzliche Prüfung in jedem Bundesland erfolgen. Da ich derzeit leider nicht an diese Absprachen herankommen kann, muss diese Frage erst einmal offen bleiben.
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Inzwischen bin ich wieder schlauer geworden. In einem Artikel von Prof. Dr. Hermann Weber fand ich folgenden Hinweis:
Im Übrigen richtet sich die Staatspraxis der Länder bei der Verleihung der Körperschaftsrechte durchweg an den einschlägigen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1954 und den dazu ergangenen Erläuterungen von 1962 aus26. Bei beiden handelt es sich um unverbindliche Verwaltungsempfehlungen, die den im Grundgesetz (und unter Umständen in den Landesverfassungen) enthaltenen verfassungsrechtlichen Rahmen (und die wenigen einfachrechtlichen Vorschriften) weder ändern noch authentisch interpretieren können; Außenbindung gewinnen sie allenfalls im Einzelfall über Art. 3 Abs. l GG und eine ständige Verwaltungspraxis.Damit ist der Fall etwas klarer (oder besser gesagt: unklarer); Die Gültigkeit der entsprechenden Empfehlungen muss also im Einzelfall geklärt werden. Zeugen Jehovas könnten sich natürlich darauf berufen, dass das gesamte Verfahren nach diesen Empfehlungen abgelaufen ist man nicht ohne Grund in der Mitte eines Verwaltungsverfahrens die Vorschriften ändern kann, weil einem das Ergebnis nicht gefällt. Aber das muss dann ein Gericht klären.
Fußnote 26: Empfehlungen der Kultusministerkonferenz über die Verleihung der öffentlichrechtlichen Körperschaftsrechte an Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen v. 12. 3. 1954; Erläuterungen der für kirchliche Angelegenheiten zuständigen Länderressorts zu den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 12. 3. 1954 über die Verleihung der öffentlichrechtlichen Körperschaftsrechte an Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen vom 12. 10. 1962, beide abgedruckt bei H. Weber, „Körperschaftsrechte“ (Anm. 25), 377 ff. bzw. 378 f.
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Ich frage mich, warum die Prüfung der Frage, ob noch einmal geprüft werden darf, ausschließlich verfassungsrechtlich gestellt wurde, zumindest verstehe ich die Formulierung so. Ein Jurist weiß doch, dass es noch andere Gesetze und Verordnungen gibt, die einzuhalten sind. Entweder wurde die Frage geprüft und dies wurde in der Zusammenfassung einfach nicht erwähnt oder aber es wurde mit Vorsatz nur diese Prüfung angestellt. Auch diese Frage kann man endgültig erst dann beantworten, wenn man das entsprechende Kapitel des Gutachtens gelesen hat. Meine (zynische) Vermutung bis dahin lautet, dass ein gesetzestreuer Beamter, der zu einem bestimmten Ergebnis kommen muss, weil ihm das sein oberster Dienstherr so vorschreibt, dann entsprechend bestimmte Aspekte vergisst (z.B. eine Absprache der Länder aus den 50er Jahren), um einerseits nichts schreiben zu müssen, was seinem "besten Wissen und Gewissen" widerspricht, und andererseits der Forderung seines obersten Dienstherr Genüge tun zu können. Oder sein Auftrag wurde so gestellt, dass er sich nur mit dieser Prüfung befassen sollte, weil seinem obersten Dienstherrn bereits klar war, was geschehen würde, wenn auch andere Aspekte geprüft würden.
ein weiteres Detail, dass mir am Rande auffiel: Im Bericht des Bremer Rechtsausschusses wurde nicht erwähnt, dass irgendjemand sich zu der hier angesprochenen Fragestellung geäußert hätte, insbesondere nicht die Vertreter des Landes Baden-Württemberg. Trotzdem schreibt der Ausschuss in seiner "Auswertung der Anhörung" (Punkt VI. des Berichts):
Die durch den Rechtsausschuss der Bremischen Bürgerschaft durchgeführte Anhörung ergab, dass eine eigenständige Prüfung der Rechtstreue als Voraussetzung für eine Verleihung der Rechte einer Körperschaft öffentlichen Rechts in der Freien Hansestadt Bremen auch nach einer so genannten „Erstverleihung“ durch das Bundesland Berlin zulässig ist.Wieso taucht also kein Hinweis darauf in der Zusammenfassung des Berichts auf?
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2. Konkrete Zulässigkeit der Prüfung in diesem Fall
2. Die Frage, ob die Zeugen Jehovas die „Gewähr der Rechtstreue“ im Hinblick auf die Beeinträchtigung oder Gefährdung der Grundrechte Dritter bieten, ist für Baden-Württemberg noch nicht verbindlich gerichtlich entschieden. Insoweit besteht die Möglichkeit einer anderen rechtlichen Würdigung, als sie bisher vom Oberverwaltungsgericht Berlin für das Land Berlin vertreten worden ist. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin weist unserer Auffassung nach Mängel auf.Der zweite Abschnitt (und alle folgenden) der argumentatorischen Brücke ist natürlich nur hilfreich, wenn der erste funktioniert. Sollte es sich herausstellen, dass meine dort gestellte Frage zu Gunsten von Zeugen Jehovas entschieden wird, dann entfällt für alles ab hier die Notwendigkeit weiterer Diskussion. Aber so weit sind wir noch nicht, also schaue ich mal weiter.
Nachdem im Punkt 1. eine Möglichkeit geschaffen wurde, dass man die Prüfung erst einmal prinzipiell zulässt, wird jetzt geprüft, warum hier in diesem Fall eine solche Prüfung notwendig ist. Als erstes wird ausgenutzt, dass das Urteil des Berliner OVG natürlich formal nur in Berlin gilt. Daher gibt es kein rechtsverbindliches Urteil in Baden-Württemberg (oder einem anderen Land außer Berlin). Was hier gesagt wird, verstehe ich so: Wir können es noch einen weiteren Prozess ankommen lassen, da möglicherweise hier das Gericht zu einer anderen Entscheidung kommen könnte; das wird durch das "insoweit" angedeutet.
Allerdings ist das Urteil des OVG Berlin natürlich ein Präzedenzfall, denn man inhaltlich beachten müsste, selbst wenn er formal hier nicht gilt. Um einen Weg über diese Hürde zu finden, wird das Urteil erst einmal angezweifelt ("Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin weist unserer Auffassung nach Mängel auf"). Leider liegt das Kapitel des "Gutachtens" nicht vor, in dem diese angeblichen Mängel erläutert werden. Ob dabei das Urteil des BVerwG von 2005 berücksichtigt wurde, dass keine Mängel entdecken konnte? Wer weiß.
Einen Hinweis entdecke ich allerdings in den Ausführungen, des Bremer Rechtsausschusses, der sich genau die gleiche Brücke nach diesem Muster baute. Daher ist folgende Äußerung aus Abschnitt VI. des Berichts aufschlussreich; sie befindet sich unmittelbar nach einer Äußerung, die inhaltlich eine gekürzte Version der Punkte 1. und 2. des "Gutachtens" aus Baden-Württemberg entspricht. Ich gehe davon aus, dass in Baden-Württemberg irgendwo eine ähnliche Aussage getroffen wird, da die Bremer Formulierungen erstaunlich denen aus Baden-Württemberg gleichen:
Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat anders als im Gesetzgebungsverfahren in der Freien Hansestadt Bremen die Aussagen ehemaliger Zeugen Jehovas, ihrer Angehörigen, Vertretern von Selbsthilfevereinen und Beratungsinstitutionen nicht in seine Entscheidungsfindung einbezogen.Es scheint mir, dass dies der "Mangel" im Urteil ist, den das Land Baden-Württemberg auch ausnutzen will. Denn wenn man vor Gericht behauptet: "Wenn das bei der Prüfung berücksichtigt worden wäre, dann wäre man zu einem anderen Ergebnis gekommen", dann ist es erst einmal unwahrscheinlich, dass das Gericht antwortet, dass dies egal sei, da die Prüfung nun so erfolgt ist, sind alle an das Ergebnis gebunden, auch wenn es falsch sein sollte. Wahrscheinlicher ist, dass dann das Verwaltungsgericht Stuttgart entscheidet, diese Prüfung unter Einbeziehung der neuen Fakten bzw. Behauptungen neu durchzuführen.
Eine Ausnahme bestünde möglicherweise dann, wenn das Land Baden-Württemberg bei dem Urteil des OVG Berlin so weit beteiligt war, dass es damals diese Prüfung hätte veranlassen können. Derzeit sehe ich aber keinen Anhaltspunkt hierfür: Der Prozess wurde vom Land Berlin geführt, dass damals einen "Beweisantrag" hätte stellen können. Das Land Baden-Württemberg konnte das damals nicht, da es nicht vor Gericht vertreten war. Meine Vermutung also, wenn ein Gericht die Argumentation bis hierhin zulässt, dann wird dieser Punkt problemlos an das ablehnende Land gehen.
Nebenbei bemerkt: Hier enthält das Argument des Gutachtens einen versteckten Seitenhieb auf das Land Berlin, das damals den Gerichtsprozess durchfocht. Dessen Aufgabe wäre es gewesen, vor dem OVG entsprechende Beweise vorzulegen, was aber unterblieb. Der Vorwurf lautet also: Wenn die in Berlin damals das alles so ordentlich gemacht hätten, wie wir jetzt, dann wäre der Antrag schon damals abgelehnt worden.
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3. Gründe, die (angeblich) funktionieren
3. Es kann vertretbar angenommen werden, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas keine Gewähr der Rechtstreue bietet:Ich will an dieser Stelle die Gründe nicht im Detail analysieren (der Artikel ist ohnehin wieder sehr lang geworden, daher muss das Zeit für ein andermal haben), sondern mich auf zwei Details konzentrieren: Zum ersten lesen wir: "Es kann vertretbar angenommen werden", was ich als seltsame Formulierung empfinde. Wieso heißt es "vertretbar"? Das heißt doch mit anderen Worten "nicht eindeutig", oder sehe ich das falsch? Ich sehe hierin ein Anzeichen, dass auch der Aufsteller des "Gutachtens" nicht bis zum Ende von seinen Argumenten überzeugt war, sondern darauf hinweisen wollte: "wenn man will, kann man das vertreten, wenn man nicht will, dann aber nicht".
- Sie beeinträchtigt und gefährdet wegen des von ihr geforderten Verbots des Kontakts mit ausgetretenen oder ausgeschlossenen Mitgliedern der Zeugen Jehovas das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens und der Ehe (Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz).
- Damit hält sie zugleich mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln austrittswillige Mitglieder in der Religionsgemeinschaft fest und beeinträchtigt und gefährdet das Grundrecht auf (negative) Religionsfreiheit (Artikel 4 Grundgesetz).
- Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas gefährdet wegen des nach ihren Regeln bestehenden Verbots, auch im äußersten Notfall Blut- oder Hauptbestandteile des Blutes anzunehmen, Leib und Leben minderjähriger Kinder und Jugendlicher (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz).
Ich denke, dass es für diese Vermutung einige gute Gründe gibt. Folgende Fragen wurden nach meinem bisherigen Wissen nicht beantwortet:
- Entsprechen die gemachten Aussagen den Tatsachen oder wurde alles unhinterfragt geglaubt?
- Geben die Aussagen die jeweiligen Sachverhalte objektiv wieder oder sieht das Problem aus der Sicht der anderen Beteiligten ganz anders aus?
- Sind die (bestenfalls ein paar Dutzend) Berichte repräsentativ für die Situation der Zeugen Jehovas oder handelt es sich um Ausnahmefälle?
- Beruhen die Geschehnisse auf den Lehren und der Glaubenspraxis der Religionsgemeinschaft oder stehen sie ihr entgegen?
- Inwieweit kann man das Geschehen der Religionsgemeinschaft anlasten? Welche sonstigen Ursachen gab es, die mit der Religion nichts zu tun hatten?
- Handelt es sich möglicherweise um "punktuelle Defizite", wie es vom BVerfG genannt wurde?
- Passen die Berichte zu den Prüfkriterien, die das BVerWG in seinem Urteil vom 17.05.2001 nannte?
Ein weiteres Detail aus der Erläuterung der Vertreter des Landes Baden-Württemberg, die das Vorgehen bei der Prüfung erklärten (Abschnitt III.1.):
Zur Prüfung des verfassungsrechtlichen Aspekts der Rechtstreue habe das von der Landesregierung beauftragte Justizministerium Material gesichtet und eigene Recherchen im Internet und in weiteren Schriften vorgenommen sowie Gespräche mit ehemaligen Zeugen Jehovas, Angehörigen, Vertretern von Selbsthilfevereinen und einem in der Aussteigeberatung tätigen Diplompsychologen geführt.Ich will mit dem letzten Punkt anfangen: Die Schriften der Religionsgemeinschaft werden (von Personen, die sich in dem entsprechenden Glauben nicht auskennen) interpretiert, und aus dieser Interpretation werden dann Rückschlüsse auf das Handeln der Gläubigen und der Religionsgemeinschaft gezogen. Hierbei gibt es wieder jede Menge Fallen, die zu Fehlurteilen führen können:
[...] Allerdings sei es nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts statthaft, aus der Lehre, aus dem Glauben Rückschlüsse auf das zu erwartende Verhalten zu ziehen. Die Betrachtung der Schriften der jeweiligen Religionsgemeinschaft und daraus zu ziehende Rückschlüsse sind zulässig.
- Die Schriften der Religionsgemeinschaft könnten von Außenstehenden schlicht falsch verstanden werden (wollen)
- Außenstehende können nicht ohne weiteres beurteilen, ob die jeweilige Literatur derzeit gültig ist oder bereits veraltet ist
Das Bundesverwaltungsgericht hatte übrigens die Bewertung der Schriften nicht allgemein zugelassen (das BVerfG hatte überhaupt nichts zu dem Thema geschrieben), sondern hatte dies für eng umgrenzte Fälle zugelassen:
Hierfür kann -wegen der voraussichtlichen geringen Zahl von Fällen [...]- auch das Verhalten im Einzelfall ausreichen, wenn sich aus sonstigen Umständen (einschließlich der Erklärungen und Schriften der Klägerin) ergibt, dass es sich um ein typisches Verhalten der Religionsgemeinschaft handelt.Demnach kann eine Interpretation nur ein "sonstiger Umstand" sein, der herangezogen wird, wenn es um ein Geschehen geht, dass ohnehin nur selten auftritt.
Meine Vermutung lautet, dass die Prüfung in Baden-Württemberg (und den anderen Ländern, ein Beispiel aus Bremen hier) weit über den Rahmen hinausging, die das Bundesverwaltungsgericht steckte und häufige Fehlinterpretationen sowie Beurteilungen der Glaubenslehre enthält. Damit stünden darauf beruhende Argumente natürlich auf wackeligem Grund.
Weiterhin muss man noch eine Frage stellen, die in allen Ausführungen der Länder bisher vergessen wurde: muss man der Religionsgemeinschaft konkrete Rechtsbrüche vorwerfen können oder reicht es,wenn man (wie in den Ländern jetzt geschehen) direkt die Glaubenspraxis anhand der Grundrechte prüft. Wie ich hier vermutete, reicht eine direkte Prüfung der "Grundrechtskonformität" nicht aus, da das BVerfG ausdrücklich schrieb, dass die Religionsgemeinschaften nicht an die Grundrechte dritter gebunden sind (es sei denn, es geht um hoheitliche Befugnisse, die aber hier nicht maßgebend werden), sondern der Staat dann den Status verweigern kann, wenn der Staat gegen die Religionsgemeinschaft einschreiten müsste.
Hierzu hat aber das "Gutachten" keinerlei Inhalt. Es werden keinerlei konkrete Rechtsbrüche nachgewiesen, was aber nach den Worten des BVerfg erforderlich wäre. Es ist mir unverständlich, warum niemand auf diesen Punkt eingeht, der ausführlich im Urteil des BVerfG dargestellt ist.
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4./5. Gründe, die nicht funktionieren
x4. Nicht sicher nachgewiesen werden konnte, obwohl gewisse Anhaltspunkte dafür vorliegen, eine generelle Gefährdung des Kindeswohls im Übrigen aufgrund von körperlichen Züchtigungen, des Umgangs mit Kindesmissbrauch, der Störung der Persönlichkeitsentwicklung und der Verweigerung einer höheren Schulbildung oder eines Studiums.Übersetzt heißt das: Hier sind diverse Märchen versammelt, die von Ex-Zeugen gerne (im Internet) verbreitet werden, die aber so weit von der Realität weg sind, dass man nicht einmal mit viel "guten Willen" dafür Beweise sehen kann. Wie schön!
5. Gewisse Anhaltspunkte lagen vor, dass die Religionsgemeinschaft in bestimmten Fällen zur Begehung von Straftaten ermutigt, und zwar zur Strafvereitelung in Fällen des Kindesmissbrauchs (§ 258 Strafgesetzbuch) sowie zur Verletzung amts- oder berufsbezogener Schweigepflichten (u. a. § 203 Strafgesetzbuch) und zur uneidlichen Falschaussage (§ 153 Strafgesetzbuch) und Strafvereitelung (§ 258 Strafgesetzbuch) mit Blick auf Aussagen vor Gericht. Ein sicherer Nachweis war hier jedoch nicht möglich.
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6. Plan B für die Gerichtsverhandlung
6. Hilfsweise ist die Auffassung vertretbar, dass der Antrag auf Verleihung der besonderen öffentlich-rechtlichen Körperschaftsrechte auch dann abgelehnt werden kann, wenn die Gewähr der Rechtstreue trotz aller zumutbaren Aufklärungsversuche unklar bleibt.Hier gibt es eine interessante Frage: was genau sind "alle zumutbaren Aufklärungsversuche"? Meiner Meinung wurden diese noch lange nicht ausgeschöpft.
Sinn dieses Punktes ist es, im Falle eines Gerichtsverfahrens etwas zusätzlichen Raum zu gewinnen, in dem man die Ablehnung rechtfertigen kann. Hier wird gegen die ungenannte Alternative argumentiert: "Wenn man keinen Rechtsbruch nachweisen kann, dann haben sie ein Recht auf den Status". Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass hier "im Zweifel gegen die Religionsfreiheit" entschieden wird, wenn man dem "Gutachten" folgt. Natürlich liegt es an dem Gericht zu entscheiden, wie der Maßstab wirklich lautet.
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7. Europäisches Recht
7. Die sich aus der europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergebenden Vorgaben würden durch die Ablehnung des Antrags nach Auffassung des Justizministeriums Baden-Württemberg nicht verletzt werden. Dies gilt auch, wenn man das kürzlich ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu einem Verbot der Zeugen Jehovas in Russland berücksichtigt.Hierzu kann ich leider nichts sagen....
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8. Wir halten uns an das Grundgesetz!
8. In Baden-Württemberg geht es nicht um ein Verbot der Tätigkeit der Zeugen Jehovas, sondern um die Verleihung eines Privilegiertenstatus. Dieser kann nach Auffassung des Justizministeriums Baden-Württemberg wegen Gefährdung der Grundrechte Dritter versagt werden.“Es ist natürlich tröstlich, dass man Zeugen Jehovas nicht verbieten will. Allerdings hat das BVerfG das ganze etwas anders gesehen:
Im Kontext des Grundgesetzes ist der den Religionsgemeinschaften in Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV angebotene Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Mittel zur Entfaltung der ReligionsfreiheitWenn es ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit ist, dann kann es natürlich kein "Privilegiertenstatus" sein. Grundrechte sind kein Privileg.
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Fazit
Die Brücke. die dieses Gutachten überschreiten will, enthält jede Menge morscher Träger, insbesondere folgende:
- Es ist bei weitem nicht klar, ob die Länder bei der Zweitverleihung noch einmal eine umfassende Prüfung der Verleihungsvoraussetzungen durchführen dürfen.
- Die Berichte von weltanschaulich nicht neutralen Quellen werden ohne weiteres als objektive Fakten angenommen.
- Die Prüfung geht teilweise weit über den Umfang hinaus, den die Urteile des BVerfG und BVerwG vorgegeben haben
- Anstatt der Prüfung auf konkrete Rechtsbrüche (wie vom BVerfG gefordert) erfolgte eine Prüfung auf eine abstrakte Grundrechtskonformität
- Grundrechtsentfaltung wird mit Privilegiertenstatus verwechselt
Demnächst dann irgendwann mehr zur Frage, wie es mit den drei Punkten steht, in denen konkret den Zeugen Jehovas eine Verletzung von Grundrechten Dritter vorgeworfen wird.
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