Dienstag, 26. Juli 2011
Körperschaftsverfahren: Ablehnungsgrund Bluttransfusion? (Teil 4)
Dies ist der vierte Teil eines mehrteiligen Artikels. Teil 1 findest du hier, Teil 2 hier, und Teil 3 hier. Hier will ich nun anfangen, das Argument zu besprechen, dass Zeugen Jehovas keinen Anspruch auf den Körperschaftsstatus hätten, weil sie Bluttransfusionen ablehnen.

Die Rechtslage

Was ich bereits zum Urteil des BVerfG schrieb, will ich nicht im Detail wiederholen, du kannst, es bei Bedarf hier nachlesen. Kurz gefasst hat das Gericht gesagt, dass der Staat die Glaubenslehre einer Religion nicht beurteilen darf, da der Staat ansonsten das Grundgesetz missachten würde, dass dem Staat weltanschauliche Neutralität vorschreibt. Beurteilt wird einzig das (typische) Verhalten der Religionsgemeinschaft und ihrer Mitglieder.

Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage dann weiter aufbereitet und anhand des (damaligen) Sachstands verfassungskonforme Prüfkriterien entwickelt. Diese will ich hier etwas genauer vorstellen. Das Gericht beginnt wie folgt:
Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas untersagt es ihren Mitgliedern, die Zustimmung zu Bluttransfusionen bei ihren minderjährigen Kindern zu erteilen; dies gilt auch dann, wenn nach ärztlicher Beurteilung die Bluttransfusion das einzige Mittel ist, um das Leben des Kindes zu erhalten. Dies rechtfertigt für sich allein jedoch noch nicht die Versagung des Körperschaftsstatus. Denn der Gesetzgeber hat in §1666 Abs. 1 und 3 BGB Regelungen geschaffen, die im Konfliktfall einerseits dem Elternrecht und und der Religionsfreiheit sowie andererseits dem Grundrechtsschutz des Kindes aus Art.. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung tragen. Nach §1666 Abs. 3 BGB kann das Familiengericht Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge ersetzen. Diese Vorschrift wird von den Gerichten herangezogen, um anstelle der Eltern die Einwilligung zur Bluttransfusion bei einem Minderjährigen zu erteilen. Die Regelung bewahrt die Mitglieder der Religionsgemeinschaft davor, aktiv an der Durchführung der nach ihrer Anschauung verbotenen Bluttransfusion mitwirken zu müssen, und schafft andererseits im Sinne des Grundrechtsschutzes des Kindes eine wirksame und schnelle Hilfe zur Erhaltung des Lebens des Minderjährigen. Wenn das Verhalten der Religionsgemeinschaft diesen staatlichen Schutz oder eine Sofortmaßnahme des Arztes von vornherein einbezieht und sich darauf beschränkt, die Mitglieder darin zu bestärken, nicht selbst die Zustimmung zur Bluttransfusion zu erklären, kann hierin allein noch keine Gefährdung des Grundrechtes der Minderjährigen gesehen werden, welche die Versagung des Körperschaftsstatus rechtfertigt.
Kurz gesagt bemerkt das Gericht, dass hier ein Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechten vorliegt, an denen die Religionsgemeinschaft keinen Anteil hat: das Recht der Eltern auf Gewissensfreiheit und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit. Da dieses Problem unabhängig von Zeugen Jehovas grundsätzlich besteht, gibt es hierfür ein Gesetz, dass dieses Problem grundsätzlich löst: Im angegebenen Artikel des BGB wird festgelegt, dass ein Familiengericht das Einverständnis der Eltern zu einem ärztlichen Eingriff ersetzen kann, wenn es die Meinung der Eltern als schädlich für das Kind ansieht. Solange diese gesetzliche Regelung akzeptiert wird, liegt keine Missachtung der Grundrechte dritter vor, da ja genau das Verfahren, das hier verschiedenen Grundrechte gegeneinander abwägt, akzeptiert wird.

Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechtsgefährdungen

Nun fängt das Gericht an, Möglichkeiten zu nennen, bei denen die Grenze überschritten wird, die eine K.d.ö.R. einhalten muss:
Anders verhält es sich aber, wenn die Religionsgemeinschaft Schritte unternimmt, die darauf hinauslaufen, die staatlichen Schutzmaßnahmen zu erschweren oder gar zu verhindern. Eine solche Haltung wäre mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, der -wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat- die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutze Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften liegen, nicht zu vereinbaren und müsste zur Ablehnung des Antrags der Klägerin führen.
Wenn die Religionsgemeinschaft etwas unternimmt, um dafür zu sorgen, dass entweder das zuständige Gericht nicht entscheiden kann, oder dafür zu sorgen, dass eine genehmigte Bluttransfusion nicht verabreicht werden kann, dann hätte die Religionsgemeinschaft die Grenze überschritten. Wie wir noch sehen werden, hat der Rechtsausschuss dieses Kriterium sehr subtil umdefiniert, indem er sagte, dass bereits der Versuch bei der Gerichtsentscheidung Gehör zu erhalten, eine "Erschwerung" darstellt, hierzu aber später mehr. Da damals noch nicht geklärt war, was genau überhaupt in einem solchen Fall passiert, sollte das OVG Berlin klären, wie die Religionsgemeinschaft üblicherweise reagiert:
Das beklagte Land hat vorgetragen, dass von der Religionsgemeinschaft im Fall des Krankenhausaufenthaltes des Kindes, zu dessen Behandlung eine eine Bluttransfusion möglich erscheint, die Ältesten der Gemeinde und auch von den Zeugen Jehovas gebildete Komitees (z.B. ein Krankenhausverbindungs-Komitee) eingeschaltet würden, und in seltenen Fällen sogar ein Mitglied beauftragt werde, rund um die Uhr "Wache" zu halten. Insoweit ist vom Oberverwaltungsgericht zu klären, welche Schritte die Religionsgemeinschaft typischerweise in einem solchen Fall unternimmt und ob diese das Ziel verfolgen, eine Ersetzung des Einverständnisses der Eltern durch die Familiengerichte zu erschweren oder eine gerichtlich erlaubte Bluttransfusion zu verhindern.
Das entscheidende Wort hier ist "typischerweise". Es ist nicht maßgebend, ob möglicherweise ein einzelner Zeuge Jehovas (in einer persönlichen Extremsituation) etwas tut, was nicht dem Grundgesetz entspricht, oder möglicherweise etwas tut, was den Grundsätzen seiner Religion widerspricht, sondern es geht um das "typische" Verhalten, das Verhalten, dass in der Mehrheit der Fälle beobachtet werden kann. Damit kann es nicht ausreichen, einfach Einzelfälle zu betrachten, ohne zu klären, ob diese Fälle typisch sind und wie viele Fälle es überhaupt gibt.

Rückschlüsse aus der Glaubenslehre?

Weiter äußert sich das Gericht auch dazu, ob und wie weit die Glaubenslehre zur Prüfung herangezogen werden darf:
Hierfür kann -wegen der voraussichtlich geringen Zahl von Fällen der Bluttransfusion bei Kindern- auch das Verhalten in einem Einzelfall ausreichen, wenn sich aus den sonstigen Umständen (einschließlich der Erklärungen und Schriften der Klägerin) ergibt, dass es sich um ein typisches Verhalten der Religionsgemeinschaft handelt.
Hier wendet sich das Gericht ausdrücklich dieser Frage zu. Es ist klar, dass ein Fall unter dreien ein wesentlich größeres Gewicht hat als ein Fall unter tausenden. Und es ist klar, dass man bei drei Fällen keine große Menge Einzelfälle als typisches Verhalten zusammenstellen kann. Daher macht das Gericht hier eine Ausnahme für diesen Spezialfall! In Fällen, wo man das typische Verhalten der Religionsgemeinschaft nicht einfach über eine Zusammenstellung einer großen Zahl von Einzelfällen ermitteln kann, ist es möglich, Einzelfälle heranzuziehen, wenn man sichere Anhaltspunkte hat, dass es sich hierbei um das typische Verhalten handelt. In diesem Ausnahmefall kann das typische Verhalten anhand sonstiger Umstände klären, von denen einer(!) die Glaubenslehre der Religionsgemeinschaft ist.

Es verfehlt sehr offensichtlich den Sinn dieses Absatzes, wenn man hieraus ableitet, was das Land Baden-Württemberg tat, wie ein Beamter es vor dem Bremer Rechtsausschuss formulierte:
Allerdings -und das ist auch eindeutig nach dem Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht- können aus der Lehre, aus dem Glauben Rückschlüsse auf das zu erwartende Verhalten gezogen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass hierbei auch aus den Schriften der jeweiligen Religionsgemeinschaft Rückschlüsse gezogen werden können. Dementsprechend haben wir sehr intensiv Schriften ausgewertet
Wie man leicht sehen kann, kam das Land zu einer Meinung, die sehr stark von dem abweicht, was das Bundesverwaltungsgericht sagte. Es wird hier die Glaubenslehre nicht als sonstiger Umstand in einer genau umrissenen Menge von Ausnahmefällen ausgewertet, sondern "intensiv ausgewertet" (und in Wirklichkeit fast überall als Entscheidungsgrundlage benutzt). Damit ging die Prüfung des Landes offensichtlich weit über den Rahmen hinaus, den das Gericht absteckte.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil keinen Freifahrschein zur Prüfung der Glaubenslehre gegeben; es entschied:
Ob dabei [bei der Prüfung des Verhaltens der Religionsgemeinschaft] Glaube und Lehre der Gemeinschaft, soweit sie sich nach außen manifestieren, Rückschlüsse auf ihr zu erwartendes Verhalten zulassen, ist eine Frage des Einzelfalls.
Bevor also die Glaubenslehre der Religionsgemeinschaft ausgewertet werden kann, muss erst einmal für den konkreten Fall geprüft werden, in wie weit dadurch überhaupt Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten möglich sind. Von einer derartigen Prüfung ist nirgendwo etwas zu erkennen, wie wir später im Detail sehen werden.

Warum ist das überhaupt wichtig? Man könnte auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass es sich hier um Erbsenzählerei handelt. Ob nun das Verhalten anhand der Glaubenslehre geprüft wird oder die Glaubenslehre direkt, scheint keinen wichtigen Unterschied zu machen. Es gibt aber zwei wichtige Gründe hierfür, einer ist wichtig für das Selbstverständnis des Staates als demokratischer Rechtsstaat, der andere ist wichtig für die beurteilte Religion.

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat zur Religionsfreiheit. Dazu gehört auch die "weltanschauliche Neutralität" des Staates. Der Staat kann(!) nicht über Richtigkeit oder Falschheit von Glaubenslehren entscheiden. Mit anderen Worten, wenn der Staat die Glaubenslehre einer Religion prüft, dann tut er etwas, was er nicht leisten kann und darf und verletzt selber die Religionsfreiheit der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Daraus folgt, dass jede derartige "Prüfung der Glaubenslehre" unzulässig ist und vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden muss. Es sollte daher im Interesse des Staates liegen, dass seine Vertreter sehr sorgfältig vorgehen, um diese Grenze nicht zu überschreiten, denn wie könnte der Staat die Einhaltung der Grundrechte Dritter einfordern, wenn er selber diese Grundrechte missachten muss, um zu dieser Schlussfolgerung zu kommen? Der Staat selber würde sich als Rechtsstaat aufgeben und die Forderung an die Religionsgemeinschaft hätte keinen Sinn mehr (Grundrechte, die der Staat nicht einhält, sind offensichtlich keine Grundrechte).

Zum anderen muss ich die Frage stellen: Wer ist es überhaupt, der die Texte der Religionsgemeinschaft liest? Es handelt sich um Beamte und/oder Abgeordnete. Diese haben natürlich keine Ausbildung in der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas und haben sich höchstwahrscheinlich im ganzen Leben noch nicht damit beschäftigt. Dies öffnet das Tor für jede Menge möglicher Fehler, da diese Personen keine Antwort auf Fragen wie die folgenden geben können:
  • Ist der entsprechende Artikel überhaupt noch aktuell oder wurde die Aussage in der Zwischenzeit durch eine andere ersetzt?
  • Was bedeuten die Fachausdrücke genau, die verwendet werden?
  • Wie wird dieser Text in der Praxis verwendet?
  • Gibt es zu diesem Text noch einen Kontext, der nicht unmittelbar aus dem Text hervorgeht?
  • In welchem Zusammenhang steht der Text mit der Glaubenslehre?
Ohne zutreffende Antwort auf diese Fragen kann aber kein Rückschluss aus den Texten auf das Verhalten der Religionsgemeinschaft oder der Mitglieder gezogen werden, da diese Antworten entscheidend beeinflussen, wie der jeweilige Text in der Praxis angewendet wird. Die einzigen, die die jeweilige Fachkenntnis wirklich haben können, um klar sagen zu können, wie diese Texte angewendet werden, sind Mitglieder der Religionsgemeinschaft, die entsprechendes Fachwissen haben.

Aus diesem Grund sind auch die Aussagen von ehemaligen Zeugen Jehovas nicht sicher, da diese (unabhängig von der Frage, ob sie wirklich die Wahrheit sagen) fast nie das entsprechende Fachwissen haben, um die Meinung der Religionsgemeinschaft mit Sicherheit wiedergeben zu können. Hierfür reicht es nicht zu wissen, "was der Älteste in unserer Versammlung mir mal erzählt hat", denn dieser kann sich geirrt haben oder missverstanden worden sein. Nebenbei waren die meisten ehemaligen Zeugen niemals Älteste und haben daher nicht einmal die entsprechenden Schulungen besucht, auf denen die Verfahrensweisen zu vielen der hier strittigen Fragen genauer erklärt wurden.

Daher ist natürlich ein gesundes Maß von Skepsis angesagt, wenn Laien Rückschlüsse aus der Literatur der Zeugen Jehovas auf ihre Glaubenspraxis ziehen. Meist ist diese Skepsis auch berechtigt, wie wir noch sehen werden.

"Druck und Drohungen" oder Bestärkung?

Das Bundesverwaltungsgericht führt dann weiter aus:
Wenn sich dagegen gerausstellt, dass die von dem Beklagten angeführten Maßnahmen darauf zielen, Eltern in der Ablehnung der Bluttransfusion "zu überwachen" und dadurch zu verhindern, dass diese im Interesse ihres Kindes zur Bluttransfusion zustimmen, würde sich aus einem solchen Verhalten unter der Voraussetzung, dass es sich lediglich als Bestärkung der als richtig angesehenen religiösen Haltung darstellt, kein zusätzlicher Gesichtspunkt gegen die Zuerkennung des Körperschaftsstatus ergeben.
Hier macht das Bundesverwaltungsgericht eine wichtige Einschränkung: es kann der Religionsgemeinschaft nicht vorgehalten werden, wenn sie ihre Mitglieder in deren eigener Entscheidung bestärkt, Bluttransfusionen nicht zuzustimmen. Dazu könnte auch Überwachung des einzelnen Mitglieds gehören, solange die Entscheidung des einzelnen Mitglieds feststeht. Dieser Punkt wird bei der Anhörung in Bremen wichtig. Ich werde darauf bei den entsprechenden Beispielen zurückkommen, bei denen dieser Punkt offensichtlich vergessen wurde. Die Grenze, die dabei nicht überschritten werden darf, wird vom Gericht auch deutlich genannt:
Eine andere Beurteilung wäre allerdings vorzunehmen, wenn die Klägerin mit unzulässigen Maßnahmen (z.B. Ausübung von Druck oder Drohungen) versuchen würde, zur Zustimmung bereite Eltern von der Erklärung der Zustimmung gegenüber dem Arzt abzuhalten.
Zuerst scheint das einfach zu sein: Wenn jemand nicht mit Bluttransfusionen einverstanden ist, darf die Religionsgemeinschaft ihn darin bestärken, wenn er aber Bluttransfusionen zustimmt, dann darf die Religionsgemeinschaft ihn davon nicht abhalten, sondern nur noch entscheiden, dass derjenige kein Mitglied mehr ist. Allerdings hat das Gericht hier natürlich einen offensichtlichen Punkt nicht mehr genannt, und das kann dann prompt ausgenutzt werden: Woher weiß denn die Religionsgemeinschaft, wie das einzelne Mitglied zu Bluttransfusionen steht?

Die Religionsgemeinschaft kann nicht wissen, was im Kopf des einzelnen vor sich geht. Sie ist daher auf entsprechende Äußerungen des einzelnen Mitglieds angewiesen. Was ist aber in dem Fall, wenn ein Mitglied der Religionsgemeinschaft sagt: Ich will keine Bluttransfusion, aber dem Arzt: Ich will doch? Ist es dann eine Grundrechtsverletzung, wenn die Religionsgemeinschaft annimmt, dass er wirklich keine Bluttransfusion will? Oder ist es die Pflicht des einzelnen, hinreichend deutlich zu sagen, was er will oder nicht? Es sollte offensichtlich sein, dass man von der Religionsgemeinschaft nicht erwarten kann, die Gedanken von Menschen lesen zu können, wenn sie etwas anderes sagen. Ansonsten könnte man ja durch einfaches Lügen Grundrechtsverletzungen "produzieren", was nicht Sinn der Sache sein kann. Wie wir sehen werden, hat der Bremer Rechtsausschuss aber genau diese Möglichkeit als ganz normal unterstellt.

Daneben gibt es noch das Problem: Was sind "Druck und Drohungen"? Ist der Hinweis darauf, dass man die Glaubenslehre verletzt, "Druck und Drohung"? Ist der (nach deutschem Recht rechtmäßige!) Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft "Druck und Drohung"? Das Gericht hat zu dieser Frage nichts gesagt, da dies von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Mit Sicherheit ist aber das einfache Empfinden von Druck alleine kein hinreichender Grund anzunehmen, dass auch wirklich Druck im Sinne dieses Gerichtsurteils angewendet wurde.

Ansonsten könnte ja eine Einzelperson durch seine emotionelle Reaktion Grundrechtsverletzungen gegen ihn "erzeugen". Man müsste einfach den Vertretern der Religionsgemeinschaft sagen: "Ich will kein Blut", aber dabei nicht die Wahrheit sagen und insgeheim doch eine Bluttransfusion wünschen, damit das eigene Grundrecht verletzt würde, weil die Vertreter der Religionsgemeinschaft ihn nicht von vornherein als Lügner behandeln. Das wäre ein absurder Maßstab. Druck und Drohungen müssen also zumindest objektiv feststellbar sein, damit dieser Punkt erfüllt ist.

Das Gericht nennt noch einen weiteren Fall, der aber später keinerlei Rolle mehr spielte:
Sollte die Prüfung durch das Oberverwaltungsgericht ergeben, dass die Religionsgemeinschaft die Bluttransfusion bei dem Kind, zu dem der Staat in Erfüllung seiner Schutzpflicht das Einverständnis ersetzt hat, zum Anlass eines Ausschlussverfahrens in Form eines "Gemeinschaftsentzugs" nimmt, wäre die "Sanktionierung" dieses staatlichen Schutzes ein erheblicher Gesichtspunkt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung. Sie würde im Widerspruch zu der Darlegung der Klägerin stehen, dass sie sich allein gegen den "eigenhändigen" Beitrag von Mitgliedern zur Bluttransfusion in Form der Zustimmungserklärung wendet.
Das Gericht bezieht sich hier auf (böswillige) Gerüchte, die besagen, dass Kinder von Zeugen Jehovas, die gegen den Willen der Eltern Bluttransfusionen erhalten, von der Familie und der Glaubensgemeinschaft verstoßen würden. Dies wäre natürlich in der Realität leicht feststellbar, da das entsprechende Kind plötzlich ohne Eltern dastehen würde. Da es aber nirgendwo die allergeringsten Anhaltspunkte (außer böswilligen Gerüchten) für so etwas gibt, wurde dieser Punkt nicht weiter verfolgt.

Fazit

Das Bundesverwaltungsgericht hat direkt oder indirekt jede Menge wichtiger Punkte angesprochen, die mit der Frage im Zusammenhang stehen, ob Zeugen Jehovas in Bezug auf Bluttransfusionen die Grundrechte dritter verletzen:
  • Abwägung sich widersprechender Grundrechte verschiedener Personen
  • Anerkennung staatlicher Schutzmaßnahmen, die die verschiedenen Grundrechte in Betracht ziehen
  • Abwägung zwischen Typischem Verhalten und Ausnahmeverhalten (oder sogar nur hypothetischem Verhalten)
  • Rückschlüsse aus der Glaubenslehre auf die Glaubenspraxis
  • Unterschied zwischen "Druck und Drohungen" und der "Bestärkung in der als richtig angesehenen Position"
Hierzu hat das Gericht ziemlich detaillierte Prüfungskriterien entwickelt. Im nächsten Artikel dieser Serie will ich sehen, wie weit das Land Bremen (und auch Baden-Württemberg) von diesen Kriterien abweicht.

Fortsetzung folgt....

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